Ein Bild
Ascheflocken wehten von den nimmermüden Lavaspuckenden Feuerfeldern herüber. Auf ihnen wuchsen nur solche Pflanzen, die hartgesotten, mindestens aber feuerfest waren und deren Sporen vom warmen Aufwind der Hitze profitierten und davontrieben. Ascheflocken nannten sich die kleinen Schirmchen, an denen jeweils ein Samenkörnchen hing.
Die Jährlinge beobachteten sie sorgfältig, studierten eingehend die Flugbahnen und skizzierten den Verlauf. Sie zählten, werteten aus und verglichen ihre Notizen miteinander. Es war eine Gruppenaufgabe. Es war davon auszugehen, dass jeder einzelne sich verzählen würde und nur ungenaue Messungen vornahm. Wenn aber alle ihre Werte zusammentrugen, ergab sich das genaueste Cluster welches erhebbar war. Eine leichte Aufgabe, niemand musste schummeln, frei von einem „richtig“ oder „falsch“, versuchte jeder so gut es ging seine Aufgabe zu erfüllen. Die erfahrenen Wächter mit den blauen Mützen widmeten sich mehr als nur Aschewolken. Ihre Arbeiten waren umfangreicher, ihre Notizen füllten ganze Kästen von Datenspeichern, die alle auf ihre Auswertung warteten. Ihre Zimmer waren voll mit Berechnungen, Erhebungen, Diagrammen und ausbrechenden Einzelaufnahmen, die sie seit jeher in "Brav" und "Unartig" aufteilten.
Die Jährlinge kamen gerade zurück, als es zum Abendessen läutete. Das silberhell klingende Glöckchen hallte über die gesamte Ebene der feurigen Felder. Schnatternd und quatschend fanden sie sich ein, tauschten ihre Feldkleidung gegen die Hausschuhe und die weichen roten Mäntel, verstauten die Messinstrumente in den dafür vorgesehenen Schränken und machten sich dann auf sich gründlich zu waschen.
Fern vom Bild
Tante Ina war keine echte Verwandte, sie war auch nicht angeheiratet. Sie kam einfach immer dazu, weil sie sozusagen adoptiert war. Irgendwer hatte sie irgendwann einmal angeschleppt und seitdem ging sie nicht mehr weg. Jeder kannte Tante Ina, jeder liebte Tante Ina, bis auf Siny, sie hatte Angst vor der Geschichtenerzählerin. Aber die anderen Kinder kicherten aufgeregt und hielten der Tante das nächste Bild unter die Nase. Tante Ina war so gut wie blind, schon immer gewesen. Sie sah anders, sie sah oft etwas anderes. Und jetzt sah sie die Bilder und erzählte was sie sah. Manchmal kamen die Träumer zu ihr und baten um Rat der Traumdeutung. Doch bei Kindern war es anders.
Tante Ina erzählte gerne was sie in dem Gekrakel und in den kleinen runden Pilzschirmchen, aus denen so viele Gliedmaßen wuchsen, sah.
Noch ein Bild
Ein intergalaktisches Jar hatte ganz viele Vielleicht und die waren wiederum unterteilt in Nein und Ja.
Manchmal starrten die Wächter so lange in ein schwarzes Loch, bis sie dachten, es sei ein Spiegel und auf der anderen Seite stünde einer und starre zurück. Dessen Kopftentakel sich dann auch nach der Mitte reckten und man dieses Wesen fast berühren konnte. Doch bisher war nur selten jemand oder etwas aus einem schwarzen Loch herausgekommen.
Manche von diesen Wesen waren blind, taub oder krumm. Krumm sein bedeutete, dass man nicht krechen konnte.
Bis eines Tages, als es gerade Kerzenanzündzeit im Jar war, eben doch geschah und das Namenlose, Gesichtslose, Farblose krumme Wesen hevorquoll aus dem schwarzen Loch und die Beobachter in ihren schicken mit weißem Pelz verbrämten, roten und blauen Mänteln ganz fürchterlich erschreckte und ihre langen Tentakelbärte versengte.
Aus dem Bild
„Tante Ina erzählt schon wieder die wildesten Geschichten über Kopffüßler und schwarze Löcher, aus denen irgendwelche Monster aus dem All kommen!“, petzte Siny ihrer Mutter. Sie war die einzige der Kinderbande, die furchtbar schlecht mit den Geschichten umgehen konnte.
Es war einer dieser Tage gen Ende des Jars, an dem die Familie sich zu Zupfkuchen, Mamorkuchen und Spritzgebäck traf. Dazu fuhren alle die vereiste Auffahrt hoch zum Jagdhaus. Oma Fr’da hatte fast die ganze Woche in der Küche verbracht. Ihre Tochter Hr’da hatte geholfen, während Detr’ch und Kr’l in der Küche das Fleisch zerlegt, den Kohl eingelegt und die Kartoffeln geschält hatten. Eine Menge Kartoffeln. Eine Menge Kohl und einen ganzen Hirsch. Förster R’onk hatte dafür gesorgt, dass das Tier direkt frisch auf den Spieß gekommen war. Das Langhaus war erfüllt vom Duft all der Leckereien. Zimt und Kardamom, Nelke und Anis, Apfel und Birne, Braten und Kraut. Die Älteren saßen beisammen an der Festtafel und lachten, quatschten, tranken glühenden Lavawein. Die jüngere Punsch-Generation saß am Ende der Tafel, gerade aufgerückt vom Kindertisch, an dem die Jüngsten ihre kleinen Portionen verzehrten und ihren eigenen Spaß hatten. Mit Tante Ina.
Sinys Mutter rief hinüber zum Kindertisch: „Hast du schon was gegessen, Ina?“
Tante Ina ließ sich von einem der Halbstarken die halbvolle Gabel geben und hielt sie triumphierend in die Luft. „Ja ja.“
Der Erwachsenentisch lachte: mit ihr, nicht über sie. Tante Ina war im Herzen ein Kind geblieben. Ihr Schielen liebten die Kinder besonders und ihre Phantasie kannte keine Grenzen. Es war gut, dass sie hierher gekommen war. Hier wurde sie gemocht für das was sie war und sein wollte. Und niemand versuchte aus ihr jemanden zu machen, der sie nicht sein wollte.
Mutter drückte Siny die Platte mit den eingelegten Rosinen, die vom Stollen über waren in die Hand und schickte das Kind damit zu Tante Ina.
„Ah“, machte Ina und schnüffelte. Siny kicherte als Tante Ina über die ganzen kleinen Rosinen herfiel und setzte sich auch wieder zu ihren Cousinen, Cousins, Vettern, Basen und Geschwistern. „Jetzt aber mal nichts mit gruseligen Viehchern, ja?“
Tante Ina schmunzelte: „Ja, Siny, ist gut. Was möchtest du denn hören?“
Das Mädchen reichte ihr das eigene Bild und forderte: „Liest du uns das vor?“
Neues Bild
Tante Ina lächelte und schielte auf die Zeichnung. „Das ist ein Häschen.“
Siny jauchzte: „Ja! Hast du das an den Ohren erkannt?“
„Nein.“ Sie schnaufte, „am Zucken des Näschens.“ Sie zeigte mit dem Finger auf die Mitte des eiförmigen Kreises, welches wohl den Kopf darstellte.
Alle Kinder sahen genau hin. Kiv rief entzückt: „Ich sehe es auch. Da, da!“
Tante Ina schob sich noch mehr Rosinen in den Mund und lächelte. Der Zauber der Auguren, die Gabe des Besinnens. Die Kunst der Betrachtung, das Fassen der geistigen Idee, den Quell der Freude finden. Das Beobachten der Wunderdinge, das Staunen, Genießen, Erfassen. Und Tante Ina war sehr gut darin. Ein Naturtalent, ein kleines Wunder und wenn es eine Zeit gab, in der sie am mächtigsten, buntesten und fröhlichsten war, dann diese, in der es schneite und das Weiß alles abdeckte und so eine veränderliche natürliche Leinwand schuf, auf der Tante Ina alles sehen konnte. Sie fuhr gerade fort: „Und das hier ist sein geliebtes Schwert: Karotte.“ Ihr Finger strich zu einem Strich, der halb im Boden steckte.
Siny quietschte: „Aber nein! Das ist kein Schwert, es ist doch nur eine Rübe, Tante Ina.“
Das vierte Kerzenlicht half Tante Ina das Blatt zu bewegen und anders auszurichten, Schimmer rannen über die Zeichnung, ließen alle Striche glitzern. Tante Ina raunte: „Oh.“
„Was? Was?“ Wollten die Kinder wissen.
„Das ist gar keine Wurzel.“ Tante Ina staunte: „Es ist ein Tannenzapfen.“
Mit verschränkten Armen wollte Siny protestieren.
Doch da fuhr Tante Ina schon fort: „Ein magischer Tannenzapfen.“
Siny lauschte aufmerksam: „Magisch sagst du? Was kann er denn?“
„Wenn das Häschen eine der Samenschuppen isst, wachsen seine Ohren und es kann -„
Ingmar fiel ihr ins Wort: „Pupsen!“
Die Kinder lachten.
Von der Tafel reckten sich Köpfe. Die Jährlinge waren verwirrt, am Kindertisch war es lustig! Ein Leben welches sie kannten. Von den derberen, zotigen, zweideutigen Witzchen am Erwachsenentisch verstanden sie kaum die Hälfte. Die andere färbte ihre grünen Wangen lila, vor Scham.
Nächstes Bild
Baum, der spitz gewachsen war, anders als jeder Baum, den sie kannten. Denn ihre Bäume waren wie Schirme und Pilze. Und ganz oben auf der Spitze, leuchtete etwas, was wie ein überdimensionales Glühwürmchen aussah. Und die Jährlinge unten versammelten sich alle darunter und fassten sich an den Händen, sangen Lieder in uralter Sprache, die sie lernten, aber nicht verstanden. In denen endlose Silben sich wiederholten. „Ge'lo-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-oh-iah.“
Und mit dieser geballten Macht vertrieben sie den grässlichen krummen Schrecken und befreiten das Jar von der Dunkelheit, damit die Ascheflocken über die Felder wehen konnten und Tannenzapfen dort spriessen konnten, wo ein magisches Geschenk am dringensten gebraucht wurde.
Auf dass sich alle Familien auch im nächsten Jar treffen konnten zum Hirsch und Kekse essen, Geschichten lachen und Bilder lesen.
Zur uralten traditionellen Kerzenanzündzeit.