Die Nacht war schwarz. Das Schnarchen seines Partners hallte von den Wänden wider. Wesley hob Cyrus‘ Arm an, der quer über seiner Brust lag, und setzte sich im Bett auf. Sein Blick wanderte zu den zugezogenen Vorhängen, zu den Rahmen der Bullaugen, die sich in der schwachen Gangbeleuchtung, die unter ihrem Türspalt hindurchfiel, dahinter abzeichneten. Wie Leichen unter einem Tuch. Vorsichtig schwang er die Beine über den Bettrahmen, fuhr mit seinen Zehen durch die Fasern des Teppichs, dessen Farbe in diesen Lichtverhältnissen wie getrocknetes Blut wirkte. Er stand auf, schlenderte zu einem der Fenster und zog den Vorhang beiseite. Dunkelheit grinste ihm entgegen, weit und mächtig. Dunkelheit und eine helle Schicht Eis, die das Uboot in ihrem Griff hielt. Für einen Augenblick war ihm, als hingen sie über einem Abgrund, als könnte die Eisschicht jeden Moment brechen, und die Arkania würde in diese schwarzen Tiefen stürzen, in denen weiß Gott was lauerte. Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Augen, um seine Gedanken zu verdrängen.
Nur an wenigen Stellen fand der Mond einen Weg durch das Eis, nur an wenigen Stellen suchte bleiche Lichtstrahlen einen Weg nach unten. Erhellten … Wasser. Wesley schluckte. Leeres Wasser. Es war tatsächlich ungewöhnlich leer. Ungewöhnlich … tot.
Wesley ließ den Vorhang vor das Bullauge fallen und wich rückwärts zurück, bis er gegen den Bettrand stieß. Er sank darauf nieder, hielt die Augen offen, starrte in die Dunkelheit. Sein Blick wanderten zu seinem Lederkoffer, seine Gedanken kreisten um das, was sich darin befand. Ein Ring; edel gestaltetes Silber, zwei eingravierte Zahnräder und ein kleiner Rubin. Wesley beugte sich zu seinem Partner, strich über Cyrus‘ Finger, seufzte. Eine letzte Fahrt, ein neues Leben in Patrinas, einer Stadt, in der die Gesetze der Liebe, genau wie auf dem Meer, etwas freier waren. Ein Antrag am Hafen.
Eine letzte Fahrt.
Ein letztes Abenteuer. Eines, das er überstehen würde, das sie überstehen würden.
Als Wesley auf der Schwelle zu seinen Träumen schwebte, drang aus der Tiefe des Meeres ein dunkles Dröhnen zu ihm herauf, das ihn augenblicklich auffahren ließ. Das Geräusch kroch durch die Außenwand der Arkania, brachte die Fasern des Teppichs zum Zittern und kletterte mit eisigen Beinchen seinen Rücken hinauf.
Dann Stille.
Er saß aufrecht, einige Schweißtropfen rollten nacheinander in der gleichen Spur über seinen Nasenrücken. Wesley lauschte seinem Herzschlag, glaubte schon, sich das Ganze nur eingebildet zu haben, als Cyrus neben ihm etwas Unverständliches brummte. Sein Freund drehte sich zu ihm um, blinzelte verschlafen. »Was war das?«
Die Antwort blieb Wesley im Hals stecken.
Auch Cyrus setzte sich auf, die Decke rutschte von seinem Oberkörper. »Alles in Ordnung?«
»Alles in Ordnung«, murmelte Wesley. Womöglich war es tatsächlich nichts gewesen. Womöglich hatte er es sich nur eingebildet. Cyrus war ganz einfach wegen seinen Bewegungen erwacht, mehr war nicht dabei. Wesley stierte auf den Türspalt, unter dem ein winziges bisschen Licht hindurchfloss und immerhin unscharfe Konturen im Raum zeichnete. In den Ecken schnitten ihm die Schatten Grimassen.
Einem plötzlichen Impuls, sich zu bewegen, folgend, strampelte er die Decke von sich, sprang aus dem Bett und streckte die Glieder.
»Alles in Ordnung?«
»Ja.« Die Wunde an seinem Hinterkopf pochte. »Ja, es ist alles in Ordnung.« Er ging die wenigen Schritte zur Kabinentür, drehte an dem großen Rad und zog sie schließlich, nur in Unterhose bekleidet, auf. Kälte floss in ihr Zimmer, griff nach den Härchen seiner Haut. Wesley blinzelte in das Licht des Ganges, lauschte dem altbekannten Rauschen des Dampfes, der durch die Rohre zischte. Eine weitere Tür stand offen. Brandis, einer der Köche blickte mit blassem Gesicht zu ihm herüber. Er hatte ein Wolfsfell über die Schultern geworfen, das er mit dünnen Fingern vor der Brust zusammenhielt.
»Was war das?«, flüsterte der Mann.
Wesley spürte, wie seine Beine zitterten. Er zuckte betont lässig die Schultern und huschte zurück in sein Zimmer. Schob die Tür ins Schloss, drehte das Rad bis zum Anschlag. Dunkelheit griff nach ihm, Cyrus’ Stimme schwebte wie Nebelschaden zu ihm herüber.
»Ist wirklich alles in Ordnung? Weißt du, was das war?«
Nicht du auch noch. Bitte nicht du auch noch. »Nichts«, sagte er und schluckte. Dann kroch er zurück ins Bett, legte sich auf die Seite, schmiegte sich an Cyrus, der ihm behutsam über den Oberarm strich. Sein Partner schlief schnell ein, doch Wesley lag weiterhin wach. Seine Erinnerungen spielten das Geräusch erneut ab. Es knackte, knirschte, dröhnte. In seinen Gedanken tauchte etwas aus der Tiefe auf, öffnete einen gewaltigen Schlund und Wesley fiel hinab in eine Reihe von Albträumen.