Einer dieser ewig langweiligen Tage! Meine Eltern hatten mich, wie schon so oft, bei meiner Grossmutter abgeliefert, um ungestört ihren Arbeiten nachgehen zu können.
Ich sass am Tisch in der Küche meiner Grossmutter und sah ihr beim Gemüse rüsten zu.
Plötzlich hob sie den Kopf, sah mich einen langen Moment an und fragte:
«Hast du Lust, rodeln zu gehen?»
Ich blickte sie überrascht an, liess mir aber nichts anmerken, denn ihre Frage war äusserst ungewöhnlich. Schliesslich hatten wir Sommer, Mitte Juli und 32 Grad im Schatten. Aber da meine Grossmutter für ihre verrückten Ideen bekannt war, nickte ich nur mit dem Kopf, als wäre es der normalste Vorschlag aller Zeiten.
Meine Grossmutter hob ihr Kinn auf ihre ganz spezielle Art und Weise, blickte gegen die Küchendecke und lächelte verschwörerisch. Dann trocknete sie ihre Hände ab und marschierte Richtung Haustüre los. Ich folgte ihr neugierig.
Sie schlug den Weg Richtung Holzschopf ein, wo sie ihre Gartengeräte und allerlei andere Dinge aufbewahrte, so auch zwei Holzschlitten, die mich schon seit meiner ganzen Kindheit jeden Winter begleitet hatten.
«Nimm!» sagte sie befehlerisch und drückte mir das Leitseil eines der Schlitten in die Hand. Sie selber nahm sich den anderen und marschierte zügig los.
Es war einfacher, als ich dachte. Der Schlitten glitt leise und sanft durch das Sommergras.
So marschierten wir am Stall vorbei, an den Ziegenweiden, an den Pferdekoppeln, überquerten den Bach und erreichten schliesslich den Wald und die sanfte Wiesenerhebung, wo wir im Winter rodelten.
Meine Grossmutter war bester Laune. Sie summte fröhliche ein Liedchen vor sich hin, während sie durch das zunehmend höher werdende Gras vor mir her stapfte.
Der Schlitten glitt nicht mehr so einfach. Er war schwer und es war heiß.
Ich schwitzte enorm, schliesslich hatten wir Sommer, Mitte Juli und 32 Grad im Schatten. Das heisst, vermutlich war es hier, in der prallen Sonne, 50 Grad oder so.
Irgendwie schafften wir es und erreichten die Hügelkuppe.
«Na geht doch!» sagte meine Grossmutter gutgelaunt und setzte sich auf ihren Schlitten.
Ich tat es ihr gleich.
Ich schloss meine Augen, damit mir der Schweiss nicht hinein lief.
«Das wäre zu schön, wenn es jetzt wirklich Winter wäre!» sinnierte ich vor mich hin.
«Etwas Kälte wäre jetzt angebracht! Eine richtig schöne Abkühlung - eisige, angenehme Kälte. Ach wär das jetzt schön!» denn diese Hitze war unterträglich!
So war ich einen langen Moment in meine Gedanken vertieft, dass mir erst nach einer Weile bewusst wurde, wie ich automatisch meine Füsse in die richtige Position gebracht hatte und bereit war, mit meinen Beinen abzustossen, damit der Schlitten mit viel Schwung den Hügel hinunter gleiten konnte – genau so,wie im Winter.
Als ich mich selber bei dieser Vorstellung erwischte, wollte ich die Augen öffnen. Aber, als hätte meine Grossmutter meinem Gedankengang folgen können, oder mich beobachtet, sagte sie gebieterisch:
«Nein! Lass die Augen geschlossen!»
Ich gehorchte und tat ohne weiter nachzudenken genau das, was ich in meiner Vorstellung gerade eben sowieso machen wollte. Ich stiess mich mit meinen Füssen kräftig ab und spürte mit Verwunderung, dass mein Schlitten tatsächlich mit vollkommener Leichtigkeit zu gleiten begann. Im selben Moment realisierte ich, dass ein kalter Hauch in mein Gesicht bliess. Der Schlitten nahm an Geschwindigkeit zu und mit ihr wurde der kalte Hauch zum eisigen Wind.
Winter! Minus 10 Grad bei wunderschönstem Sonnenschein! Ja genau, das war es, was ich spürte. Den mir so vertrauten, kalten Winter. Mit einem Unterschied – ich trug weder meine Thermokleider noch Stiefel, Mütze oder Handschuhe. Ich sass in Shorts und T-Shirt auf meinem Schlitten und begann unkontrolliert zu schlottern. Und der Schlitten schoss den Hügel hinunter, als glitten seine Kufen über eine eisige, glattgefahrene Rodelbahn.
Ich war erstaunt, erschrocken, verblüfft und entsetzt im selben Moment. Meine Gedanken rasten mit Lichtgeschwindigkeit durch mein Gehirn und ich wusste nicht, ob ich es wagen sollte, die Augen aufzumachen oder sie doch besser geschlossen zu halten.
Ich kannte diese Schlittenfahrt. Ich hatte sie schon hundertmal in meinem Leben gemacht.
In ein paar Sekunden würde der Schlitten an Geschwindigkeit abnehmen und langsam ausgleiten - dort, wo die Wiese aus ihrer Steillage in flacheres Gelände überging.
Und genau das tat der Schlitten, bis er komplet zum Stillstand kam.
Ich blieb wie versteinert sitzen, immer noch arg zitternd vor Kälte. Langsam öffnete ich die Augen. Alles war, wie es immer war. Wir hatten Sommer, Mitte Juli und 32 Grad im Schatten.
Die Sonne schien mir ins Gesicht und begann wohlwollend meinen durchgefrorenen Körper zu wärmen.
Was war geschehen? Ich konnte mir das nicht erklären. Aber wo war meine Grossmutter verblieben?
Ich drehte meinen Kopf Richtung Hügel. Aber sie war nirgends zu sehen.
Langsam stand ich auf und marschierte mit meinem Schlitten im Schlepptau zur Farm zurück.
Bis ich endlich beim Haus angelangt war, hatte die Hitze wieder von meinem Körper Besitz ergriffen und ich schwitzte wie zuvor, als hätte es nie einen kalten, eisigen Winterwind gegeben. Und so begann ich selber an meinem Erlebnis zu zweifeln.
Ich brachte den Schlitten in den Schuppen und suchte meine Grossmutter im Haus. Sie war, als hätte sie sich nicht von der Stelle gerührt, in der Küche und rüstete Gemüse.
Sie blickte mich freundlich an und fragte:
«So, hast du dich gut amüsiert?» dabei zwinkerte sie mit einem Auge und mir wurde sofort klar, dass sie wusste, was ich erlebt hatte. Aus Erfahrung wusste ich auch, dass es jetzt absolut sinnlos war, meine Grossmutter auszufragen oder herauszufinden, was da wirklich passiert war. Sie würde mir nie und nimmer eine klare Antwort geben. So war das halt mit meiner Grossmutter!
«Weisst du was?» sagte sie plötzlich « es ist so schrecklich heiß, wir könnten, wenn ich mit dem Gemüse fertig bin, an den Weiher zum Baden gehen!» Ich verschluckte mich fast an meiner eiskalten Limonade, die meine Grossmutter wortlos vor mich hingestellt hatte.
Baden! War das ihr Ernst?? In welche skurile Geschichte wollte sie mich nun verwickeln?
«Das wär doch was! Findest du nicht auch?» fuhr sie fort und meinte fröhlich: «Schliesslich haben wir Sommer, Mitte Juli und 32 Grad im Schatten!»