«Aber du hast es mir versprochen!» beklagte ich mich verzweifelt und blickte zu meinem Vater hoch, der damit beschäftigt war, seine Jacke anzuziehen.
«Ich weiss und es tut mir leid, aber manchmal kommen Sachen dazwischen und dann ändern sich Pläne», sagte er und strich mir mit seiner Hand versöhnlich über meine Haare.
«Wir werden das nachholen Victor. Wie wärs mit nächstem Wochenende?» Er blickte mich an und versuchte eine lustige Grimasse zu machen, aber mir war nicht nach Lachen zu Mute.
«Ja, ja, nächstes Wochenende und dann wieder nächstes und nächstes, bis ich 16 bin und dann brauch ich deine Hilfe nicht mehr, dann mach ichs gaaaanz alleine!!» maulte ich.
Mein Vater öffnete die Haustüre, drehte sich nochmals um und sagte: «Versprochen!Hoch und heilig! Nächsten Samstag zeig ich dir, wie der Traktor funktioniert!»
Seit diesem Frühling, seit ich einen richtigen Wachstumsschub genommen hatte, wollte ich endlich lernen, wie der Traktor meiner Grossmutter funktioniert. Mein Vater hatte es mir schon seit längerem versprochen, dass, wenn meine Beine genug lang seien, er mir zeigen würde, wie man den Traktor bedient.
Und dann war es endlich so weit! Eines Tages, vor ein paar Wochen, setzte ich mich, wie schon so oft, auf den Fahrersitz und streckte meine Beine aus, um Gas- Brems- und Kuppelpedal zuerreichen. Ich konnte es kaum fassen! Nach all den Jahren und all den vielen Versuchen, wo ich mich auf diesen Platz gesetzt hatte und nie fähig war, auch nur mit den Zehenspitzen die Pedale zuberühren, war es nun plötzlich ganz einfach. Nicht nur ein bisschen, sondern so richtig. Es war mir endlich möglich, jedes einzelne Pedal mit meinem Fuss bis zum Ansatz durchzudrücken!
Ich kann mich noch gut an den Moment erinnern. Ich fühlte mich, als hätte ich im Lotto gewonnen und ich rannte vom Stall zum Haus und schrie wie ein Verrückter: «Oma, Oma, ich kann den Traktor fahren!!»
Meine Grossmutter zeigte sich wenig beeindruckt und als ich sie dazu bewegen wollte, mir eine Lektion in Traktorfahren zu geben, meinte sie nur, dass dies Männersache sei und mein Vater sich darum kümmern könne. Sie hätte all ihren Kindern schon das Autofahren beigebracht und der Stress sitze ihr jetzt noch in den Knochen. Ich wusste nicht genau, was sie damit meinte, aber ich kannte meine Grossmutter gut genug, um zu wissen, dass es keinen weiteren Sinn hatte, sie danach zu fragen. Wenn sie einmal eine Entscheidung getroffen hatte, war es praktisch unmöglich, dass sie ihre Meinung nochmals ändern würde.
Und heute nun wäre eigentlich der besagte Tag gewesen, wo mein Vater mir die erste Lektion hatte geben wollen.
Ich sah ihm nach, wie er zu seinem Auto ging, während er mit jemandem am Telefon sprach und bereits weit weg mit seinen Gedanken war. Als er abgefahren war, öffnete ich die Haustüre und machte mich auf den Weg Richtung Stall. Wenigstens wollte ich mich etwas auf den Fahrersitz des Traktors setzen, viel mehr war hier sowieso nicht zu tun.
Meine Grossmutter war im Garten und hackte Unkraut.
Der Traktor parkte im grossen Stallgebäude. Das Stalltor war weit geöffnet und ich sah den eher kleinen, aber wunderschön roten Traktor schon von weitem. In schwarzer und schon etwas verwitterter Schrift stand auf der Seite des Traktors Fergusen geschrieben.
Ich kletterte in den Sitz und legte meine Hände auf das Steuerrad. Meine Füsse suchten die Pedale und ich drückte etwas auf ihnen herum. Dazu machte ich etwas Lärm, der mehr oder weniger dem Motorengeräusch eines Traktors ähneln sollte.
«Brrrrrrruuuuummmm!!»
Besser als gar nichts, dachte ich und drehte das Steuerrad nach rechts und dann nach links.
«Hey ...»
Was war das? Ich lauschte angestrengt. Irgendwer hatte hey gesagt.
«Du da ...»
Ich drehte meinen Kopf und sah in alle Richtungen, aber da war niemand und die Stimme kannte ich auch nicht.
«Hier ...»
Langsam wurde mir das alles unheimlich. Wer sagte hey, du da und hier?
«Jaaa?» fragte ich zögerlich.
«Kapitän Ferguson an die Mannschaft!» sagte die unbekannte Stimme nun ziemlich laut.
«WAS?» fragte ich zittrig.
«Ja du bist die Mannschaft und ich bin der Kapitän! Bist du bereit den Anweisungen des Kapitäns zu folgen?» fragte die Stimme.
«Wer ist denn der Kapitän?» wollte ich vorsichtig wissen.
«FERGUSON!» sagte die Stimme entnervt.
Ich musste einen langen Moment nachdenken, bis der Groschen fiel. Der Traktor! Der Traktor sprach zu mir!?
«Sprech ich mit dem Traktor?» fragte ich verlegen. Irgendwer erlaubte sich da sicher einen Spass mit mir und in ein paar Sekunden würde dieser Irgendwer aus irgendeinem Versteck springen und mich auslachen. Aber die Stimme blieb unberührt ernst und fuhr fort:
«Ja, natürlich sprichst du mit dem Traktor oder siehst du sonst noch irgendwer hier?»
Ich schüttelte lautlos den Kopf, was der Traktor offensichtlich sehen konnte, denn er sagte:
«Na gut, dann können wir jetzt vielleicht endlich anfangen?»
«Anfangen womit?» wollte ich verwirrt wissen.
«Na mit dem Fahrkurs!» sagte der Traktor.
Ich traute meinen Ohren nicht! Der Traktor wollte mir allerernstes einen Fahrkurs geben? Mein Herz schlug wie wild, als ich erwiderte:
«Ok. Was muss ich zuerst machen?» Aber bevor der Traktor mir antworten konnte, hörte ich Schritte und als ich den Kopf hob, sah ich meine Grossmutter durch das Eingangstor treten.
«Victor? Ach hier bist du,» sagte sie «ich habe dich schon überall gesucht. Hör zu Junge, ich muss mal ganz schnell zum Nachbarn. Da will ein Lamm nicht geboren werden und ich werd etwas helfen.»
Grossmutter eilte an mir vorbei, öffnete den Wandschrank im Stall und entnahm der Notfallapotheke, die sich dort befand, einige Utensilien, die sie wohl für eine Lammgeburt brauchen würde.
Sie kramte die Sachen zusammen, blickte mich kurz an und sagte:
«Dass du mir keinen Blödsinn machst, ich bin nicht lange weg. In 20 Minuten sollte ich wieder zurück sein!»
Dann verschwand sie in schnellem Schritt aus meinem Sichtfeld und 30 Sekunden später hörte ich sie, ihren Wagen starten und aus der Einfahrt fahren.
Ich blieb ganz still sitzen und wartete. Der Traktor meldete sich wieder zu Wort.
«So, jetzt wo sie weg ist, könnten wir anfangen.» Ich zuckte unter seinen Worten zusammen. Kein Traum, keine Einbildung! Dem Traktor war es bitter ernst!
«Setz dich grad hin, Matrose!» befahl er.
«Siehst du die beiden Hebel unterhalb des Steuerrades?» fragte er. Ich blickte nach unten.
«Ja, ich seh sie.»
«Ok. Mit dem linken, langen Hebel wechselst du von einem Gang in den anderen. Mit dem rechten Hebel stellst du die Last ein, die ich zu tragen habe. Bei viel Last, Hebel nach oben, bei wenig Last, Hebel nach unten!»
«Und wo ist welcher Gang?» wollte ich wissen.
«Fürs erste reicht es, wenn du nur im ersten Gang fährst. Dafür ziehst du den Hebel nach links unten. Zum Rückwärtsfahren stösst du den Hebel nach links oben. Aber glücklicherweise hat deine Grossmutter mich das letzte Mal rückwärts eingeparkt. So kannst du jetzt direkt vorwärts rausfahren.»
Ich versuchte den Hebel nach unten zu ziehen, aber der bewegte sich keinen Milimeter. Dafür begann der Traktor ganz arg zu schimpfen.
«Autsch!!» schrie er.
«Aber doch nicht so! Du musst erst das Kuppelpedal nach unten treten, wenn du die Gänge oder die Last verändern willst.»
Ach ja natürlich! Das hätte ich mir auch selber denken können. So oft habe ich doch Papa beim Autofahren zugeschaut, einfach, weil es mich brennend interessierte, wie man ein Auto steuert.
Ich trat das Kuppelpedal durch und zog noch einmal am Hebel. Und siehe da, nun ging es ganz einfach.
«Um meinen Motor zu starten, musst du nun zuerst beide Hebel in die neutrale Stellung bringen. Das ist weder oben noch unten, sondern genau in der Mitte.»
Ich tat, wie vom Traktor verlangt und schob beide Hebel in die mittlere Position.
«Und nun» sagte der Traktor mit ganz leiser Stimme, «dreh den Zündschlüssel rechts herum, er befindet sich links neben dem Steuerrad.»
Ich war noch nie in meinem ganzen Leben so nervös! Nicht einmal vor zwei Wochen, als Marilyne, die mit mir in dieselbe Klasse geht, mich fragte, ob ich zu ihrem Geburtstag kommen wolle.
Es war die längste Sekunde meines Lebens, als ich den Zündschlüssel zwischen Daumen und Zeigfinger spürte und langsam nach rechts drehte.
Der Traktor machte brrrruuuum, brrum, brrrrruuuuuuuuummmmm! Und dann machte er nur noch bbbrrrrrrr, gar nicht so laut, wie ich das sonst in Erinnerung hatte.
«Aaahhhh!» sagte der Traktor «das tut richtig gut!»
«Gern geschehen!» erwiderte ich stolz.
«So, nun ziehst du den Schalthebel nach links unten, hälst das Steuerrad fest in beiden Händen und lässt gaaaaanz langsam das Kuppelpedal los.»
Ich tat wie verlangt und oh Schreck, der Traktor begann tatsächlich Richtung Ausgang zu rollen. Sehr, sehr langsam, aber für meinen Geschmack viel zu schnell.
«Konzentrier dich auf deinen Weg» sagte der Traktor. «Schau dort hin, wo du hin willst!»
Ich blickte auf den Ausgang, der unweigerlich näher und näher kam.
«Fokusiere die Mitte des Ausgangs!» befahl der Traktor.
«Schau nicht auf das Steuerrad, sondern drehe automatisch ein bisschen nach links oder nach rechts, wenn du findest, dass du nicht genau auf die Mitte zufährst!»
«Genau wie beim Fahrrad fahren, nicht wahr?» sagte ich mit zittriger Stimme.
«Ja genau wie beim Fahrrad fahren,» lachte der Traktor.
Wir rollten aus dem Stall ins gleissende Sonnenlicht.
«Dreh nach links, wir nehmen den Weg zum Wald,» wies mich Kapitän Ferguson an.
Während wir auf dem Wiesenpfad gemächlich an den Weiden vorbei Richtung Wald tuckerten, fühlte ich mich mit jeder Sekunde sicherer. Das machte Spass! Genau so hatte ich es mir vorgestellt! Kurz vor dem Bachübergang stieg das Gelände etwas an und der Traktor gab mir neue Anweisungen.
«So, bis jetzt bist du nur gerollt, aber nun musst du etwas Gas geben, oder wir kommen nicht weiter!»
In meiner Hast erwischte ich das Bremspedal, anstatt auf das Gaspedal zu treten und der Traktor kam abrupt zum Stillstand und das Motorengeräusch brach unvermittelt ab.
«Du hast vergessen, durchzukuppeln!» sagte der Traktor mit tadelnder Stimme.
Aber ich fand das gar nicht schlimm. Ich freute mich richtig, dass ich nochmals die Gelegenheit hatte, den Zündschlüssel zu drehen. Bei meinem zweiten Versuch klappte alles bestens. Ich gab etwas Gas und dann noch etwas mehr und wir rollten fröhlich dem Wald entgegen.
Ich kann mich an keinen Tag in meinem Leben erinnern, wo ich mich so glücklich gefühlt habe!
Wir drehten eine Runde auf der Wiese vor dem Wald und kehrten dann gemächlich auf die Farm zurück. Ich visierte wieder den Stalleingang und fuhr direkt mit dem Traktor hinein.
Als der Motor leise tuckernd erstarb, atmete ich tief aus.
«Gut gemacht Matrose!» meldete sich der Traktor wieder zu Wort.
«Danke Kapitän!» erwiderte ich stolz.
«Wenn dann dein Vater dir alles nochmals genau erklärt hat, könnten wir vielleicht zusammen arbeiten. Etwas Holz aus dem Wald holen, eine Rundballe Heu zu den Pferden in den Paddock stellen oder im Winter Schnee räumen...» sagte der Traktor.
Ich fühlte mich bei seinen Worten mindestens 10 cm grösser.
«Aye, aye Sir!» sagte ich und erhob mich vom Fahrersitz. Als ich gedankenversunken Richtung Haus spazierte, kam gerade meine Grossmutter mit dem Auto zurück. Sie stieg aus und lachte fröhlich.
«Und?» wollte ich wissen, «Ist das Lamm nun zur Welt gekommen?»
«Ja,» sagte meine Grossmutter «es wollte rückwärts raus, aber alles ist gut gegangen.»
Wir gingen gemeinsam zum Haus und mein Magen begann zu knurren. Es war schon Mittag vorbei.
«Ich habe einen Bärenhunger, Oma!» sagte ich.
«Ich auch!» erwiderte meine Grossmutter, legte ihren Arm um meine Schultern und gemeinsam betraten wir das Haus.
Anmerkung des Autors:
Als am Abend die Grossmutter die Stallltüre schliessen wollte, blieb sie einen Moment verduzt stehen und starrte auf den Traktor.
«Ja sowas..» sagte sie zu sich selber.
Sie näherte sich dem Traktor und strich in einer sanften Geste über die schwarzen Buchstabe Fergusen, die auf der Seite des Traktors aufgemalt waren.
«Ich hätte schwören können, dass ich dich das letzte Mal rückwärts reingeparkt habe!» sagte sie.
Leise vor sich hinmurmelnd verliess sie den Stall: «Man wird auch nicht jünger, mein Gedächtnis lässt nach!»