Eine Blume würde sich niemals selbst zwingen, im kalten Winter zu blühen - warum also wir?
Sanft strich ihre Mutter ihr über die Haare.
„Hallo, meine kleine Butterblume, alles in Ordnung? Geht es dir heute besser?“ Besorgt musterte sie das blasse Gesicht des jungen Mädchens, was zwischen den Kissenbergen fast zu verschwinden schien. Neben ihr lag ihr Lieblingskissen, wenn sie nachts Angst hatte, klammerte sie sich daran, es beruhigte sie. Neben dem Bett standen mehrere große Ständer, alle aus kaltem Metall, die kleineren Teile jedoch aus Plastik. Es waren Anzeigen, Beutel, Schläuche, und noch mehr Anzeigen. Anzeigen für alles mögliche: Ihr Herzschlag, ihre Atemzüge, der Blutdruck, und noch vieles mehr was sie nicht verstand, auch wenn die Ärzte versucht hatten es ihr zu erklären. Sie hatte nicht zugehört. Sie hörte überhaupt nicht mehr zu, nicht in diesem Zimmer, wo alles in sterilweiß gestaltet war. Ihre Mutter behauptete gerne, dass sie selber es war, die ihrer Umgebung die Farbe verlieh. Falls das so war, dann hatte das Krankenhaus wohl alle Farbe aus ihr herausgezogen, dachte sie müde. Eine Butterblume.. Butterblumen blühten nur eine kurze Zeit, das wusste sie. War dieses Schicksal auch ihr bestimmt? Immerhin lag sie nun seit fast fünf Monaten hier, im Krankenhaus. Oh, wie sie es hier hasste. Doch ihrer Mutter zuliebe öffnete sie die Augen und lächelte vorsichtig. Ihr Gesicht hatte das Lächeln verlernt, merkte sie, und erschrak selber ein wenig darüber. Sie war es früher immer gewesen, die ihre Geschwister immer zum Lachen gebracht hatte und selber so oft gekichert hatte, dass sie oft Krämpfe in den Gesichtsmuskeln bekommen hatte. Und nun war ein einfaches Lächeln anstrengend.
„Ja.. ja, es ist alles gut. Ich bin bloß müde. Können die Ärzte nicht wenigstens bunte Bettwäsche bringen? Oder Blumen?“ Aus traurigen Augen schaute sie ihre Mutter an. Diese lächelte selber leicht verkrampft.
„Das Thema hatten wir doch schon. Bunte Bettwäsche geht nicht, ich bezweifle, dass sie hier überhaupt welche haben. Aber ich habe eine Überraschung für dich. Schließ wieder die Augen“, meinte sie geheimnisvoll und lächelte nun ehrlicher. Gehorsam schloss Linnea wieder die Augen.
Auch sie selber war nach einer Pflanze benannt worden – dem Moosglöckchen. Sie wusste nicht viel darüber, aber sie liebte den Namen dieser Pflanze. Ihr Traum war es, eines Tages ein vollständiges Herbarium zu besitzen oder noch besser, all diese Pflanzen lebend zu besitzen und dann ihren großen Garten zu pflegen. Es war der größte ihrer Träume, wo sie sich vor allem in dieser dunklen Zeit oft drin verlor. Doch hatte sie inzwischen immer mehr Abstand dazu genommen, da sie wusste, dass dieser Traum sich wohl kaum erfüllen würde. Zu klein war die Chance, den Krebs noch zu besiegen. Vor knapp einem halben Jahr war sie in das Krankenhaus eingeliefert geworden, davor war der Krebs noch nicht so schlimm gewesen. Sie fühlte sich so schwach… Dann riss ein Knistern sie aus den Gedanken.
„Riech mal. Kannst du erraten, was das ist?“ Ihre Mutter hielt ihr etwas vor die Nase, wahrscheinlich der Ursprung des Knisterns. Neugierig und mit weiterhin geschlossenen Augen beugte sich Linnea etwas vor und schnupperte.
„Rosen.. Jasmin..“ Sie hob den Kopf und lächelte. „Hast du da etwa Hartriegel reingetan?“
Hartriegel war auch eines ihrer Lieblingsgewächse. Oft blühte er schon sehr früh im Jahr, so wie jetzt. Anscheinend hatte ihre Mutter irgendwo welchen gefunden, denn sie wusste, dass sie niemals Blumen auf dem Markt oder in Läden kaufte.
„Gut geraten – erraten. Mach die Augen auf.“ Mit einem hoffnungsvollen, glücklichen Ausdruck im Gesicht hielt ihre Mutter ihr den tatsächlich farbenfrohen Blumenstrauß hin. Er war in ein wenig Papier gewickelt, wie man das eben so tat. Linnea musste erst einen Arm aus der Decke befreien, die auf ihrem Schoß lag, um den Strauß entgegennehmen zu können, was länger brauchte als gedacht. Sofort vergrub sie das Gesicht in den duftenden Pflanzen, ihr waren Tränen in die Augen getreten.
„Butterblume konnte ich leider nicht finden… Schade, dass es Winter ist. Ein paar Monate noch, dann kann ich dir wieder Butterblumen bringen.“ Entschuldigend sah ihre Mutter sie an. „Eine Blume würde sich selbst niemals zwingen, im kalten Winter zu blühen…“
Etwas in diesen Worten berührte Linnea tief in ihr drin. Vielleicht hatte ihre Mutter es nur unbewusst gesagt, doch Linnea verspürte plötzlich neue Hoffnung. Sie selber hatte zwei Pflanzen als Namensvettern. Konnte es bei ihr ähnlich sein? Eine Blume würde sich niemals zwingen im Winter zu blühen, da hatte sie Recht. Warum also Menschen? Mit Menschen kannte sie sich nicht so gut aus, in ihren bisherigen zehn Lebensjahren hatte sie sich hauptsächlich mit Pflanzen beschäftigt und so viel wie möglich von ihrer Mutter, die Botanikerin war, gelernt wie sie konnte. Plötzlich mit Tränen in den Augen sah sie zu ihrer Mutter hoch.
„Danke.“ Sie versuchte zu lächeln, war allerdings zu müde und zu berührt, als dass es ein richtiges Lächeln wurde. Wieder schob sie ihr gesamtes Gesicht in den Strauß, um seinen Duft tief in ihr zu behalten.
Ihre Mutter beugte sich zu ihr herunter und gab ihr vorsichtig einen Kuss auf die Stirn, wodurch auch sie ihr Gesicht in die Blumen schieben musste, was beide leicht zum Kichern brachte. Wieder einmal dachte Linnea, dass ihre Mutter all dies absolut nicht verdient hatte. Sie hatte es auch so schon schwer genug, auch ohne ein krebskrankes Kind.
Ihr Arm war müde, sie ließ ihn samt Strauß vorsichtig wieder auf die Bettdecke sinken und bemerkte nicht einmal, wie sich ein nasser Fleck auf dem Stoff ausbreitete. Der Strauß war unten, an den Stängeln, in feuchtes Papier gewickelt, um ihn länger haltbar zu machen. Auch ihre Augenlieder sanken nun wieder fast gegen ihren Willen herunter.
Das müde, traurige und liebevolle Lächeln ihrer Mutter bekam sie nicht mehr mit, genauso wenig, wie diese leise das Zimmer verließ und den Ärzten noch kurz Bescheid gab.
Zwei Jahre danach, im Winter, verstarb Linnea – jedoch nicht am Krebs. Diesen hatte sie im Sommer nach den beschriebenen Ereignissen besiegt, mithilfe einer Therapie und ganz viel positiver Energie durch Blumen und Farbe, zu guter Letzt hatten ihr die Ärzte doch tatsächlich wenigstens ein buntes Kissen gebracht. Dennoch hatte der Krebs ihren Körper so stark geschwächt, dass eine schlichte Erkältung, die zu einer Lungenentzündung wurde, ihrem jungen Leben schließlich ein Ende bereitete.
Zwei Sommer hatte sie noch erleben dürfen, zwei Sommer voller Licht, Wärme und duftenden Butterblumen.