- Ein wundersamer Advent -
Schon den ganzen Tag über fiel kalter Nieselregen aus einem trostlosen Novemberhimmel. Jonas stiefelte lustlos von der Schule nach Hause. Was für ein blöder Tag! Er ging zwar erst seit zwei Wochen auf diese neue Schule, wusste aber jetzt schon, dass es da ganz bescheuert war. Gleich am ersten Tag hat niemand ihn bei sich sitzen lassen wollen. Nun saß er ganz hinten und konnte kaum noch lesen, was an der Tafel stand. Die olle Katrin und ihre Freundinnen hatten gestern seine Federmappe im Waschbecken versenkt. Und heute hatten sie wohl auch noch sein Hausaufgabenheft weg genommen. Er kann es ihnen zwar nicht beweisen, aber das Heft war verschwunden und da kommen ja wohl nur diese blöden Mädchen in Frage. Aber auch dieser Schultag hatte mal ein Ende, und nun lief Jonas, wie ein begossener Pudel, durch den Schmuddelregen nach Hause.
Im Schaufenster des kleinen Kiosks an der Ecke blinkte schon die Weihnachtsdekoration. Gestern war der erste Advent gewesen, doch Jonas war ganz und gar nicht weihnachtlich zumute. Was war das für ein bescheuertes Weihnachten, wenn man all seine Freunde verlassen musste, um in eine völlig fremde Stadt umzuziehen? Jonas war stinksauer auf seinen Vater, der an alle dem Schuld hatte. Aber er war auch furchtbar traurig darüber. Das konnte nämlich nur bedeuten, dass sein Vater ihn nicht mehr lieb hatte.
Nun war alles weg. Sein Vater, das Haus, das Geld, seine Freunde, und vor allem die lustigen Späße, die seine Mutter immer mit ihm gemacht hatte. Jonas sah es ihr an, dass sie sich bemühte, aus ihrer neuen, kleinen Wohnung etwas heimeliges zu machen. Doch sie hatten soviel zurück lassen müssen, dass es nicht viel gab, mit dem seine Mutter etwas aufbauen konnte, das ihm sein altes Heim ersetzt hätte.
Er bog in die Straße ein, in der sein neues Zuhause lag. Drei Stockwerke, fünf Mietparteien und ein enger Hausflur vollgestellt mit einem Rollator und einem Kinderwagen.
Unter der ersten Wohnungstür im Erdgeschoss drang der Geruch von türkischen Essen hervor. „Yildiz" stand auf dem Klingelschild. Was war das für ein komischer Name?
Die Wohnungstür daneben zierte eine Fußmatte mit einem Katzenmotiv. Hier wohnte Frau Grottenfels. Jonas nannte sie in Gedanken nur „Grottenolm", denn die alte Frau sah genauso aus, wie er sich einen Grottenolm vorstellte. Manchmal, wenn er zur Schule ging, stand sie an ihrem Fenster und schaute ihm hinterher. Jonas hatte neulich in einem Buch ein Bild von einer Baba Yaga gesehen. Seither schüttelte es ihn bei dem Gedanken, Frau Grottenfels würde ihn mit ihrem Blick von hinten verhexen.
Er stapfte weiter die Treppe hoch. Hier wohnten die Bachhubers. Sie waren beide schon etwas älter, aber noch nicht so alt wie Frau Grottenolm. Ihre Kinder waren schon aus dem Haus, wie Frau Bachhuber seine Mutter bei ihrem Einzug erzählt hatte. Frau Bachhuber trug immer pastellfarbene Strickjacken, jeden Tag in einer andern Farbe, und dazu eine Perlenkette. Ihr Mann war seltener zu sehen, aber wenn, dann raucht er Pfeife und lächelte Jonas unter seinem buschigen Schnauzbart an. Wie ein Walross sah er aus, fand Jonas. Und seine Frau wie eine Haselmaus.
Im ersten Stock versuchte Jonas immer, besonders leise aufzutreten. Aber nicht wegen der Bachhubers, sondern wegen Herrn Jablonski. Er wohnte gleich neben Bachhubers und war hier der Hausmeister. Gleich am ersten Tag hatte er Jonas angeschnauzt, er dürfe sein Fahrrad nicht einfach so an die Hauswand lehnen. Er meinte, dass hier vorm Haus viel geklaut würde, und hatte ihn hinters Haus geschickt, zum Fahrradkeller. Aber wahrscheinlich hatte er nur Angst um den Putz am Haus, der olle Brümmelkopp.
Leise betrat Jonas den letzten Treppenabsatz. Die Treppe wurde nach oben hin enger. Das ganze Haus schien hier zu schrumpfen. Hier oben unterm Dach war die letzte Wohnung. Außer der Tür, hinter der sich nun Jonas neues Heim befand, gab es nur noch die Tür zum Dachboden. Dort hinein war Jonas noch nie gegangen. Es gruselte ihn, da er wusste, dass es dort viele dunkle Ecken mit Spinnweben gab.
Den ganzen Weg von der Schule nach Hause hatte er hin und her überlegt, wie er es seiner Mutter schonend beibringen konnte, dass sein Hausaufgabenheft weg war. Er wusste ja, dass seine Mutter für diesen Monat kaum noch Geld hatte. Es reichte noch nicht mal für einen Adventskranz. Und dann erst recht nicht für ein neues Schulheft. Sein Magen zog sich zusammen, bei dem Gedanken, seiner Mutter schon wieder Sorgen machen zu müssen. So wurde sein Herz schwerer und schwerer, je näher er der Wohnungstür kam.
Doch, was war das? Mitten auf der abgewetzten Fußmatte lag sein Hausaufgabenheft. Und zwar nicht so krumm und schief, als wäre es ihm heute früh in der Eile aus dem Ranzen gefallen, sondern ordentlich und gerade und ...
Jonas traute seinen Augen kaum, denn mitten auf seinem Hausaufgabenheft, gleich unter seinem Namenszug, mit dem seine Mutter alle seine Hefte in ihrer Schönschrift beschriftet hatte, prangte ein glänzender, silberner Stern. Richtig festlich wurde Jonas zumute, beim Anblick des Stickers, der mit Sicherheit nicht von seiner Mutter stammte. Schnell steckte er das Heft, das ihm nun irgendwie wertvoller vorkam, in seinen Ranzen. Er war heilfroh, dass er nun seiner Mutter nichts von dem Verlust des Heftes sagen musste.
Aber seltsam war das alles schon.
Sehr seltsam.
***
In den darauf folgenden Tagen war es kälter geworden. Manchmal hatte frühmorgens Raureif das Metallgeländer der Schultreppe überzogen, und Jonas konnte sich die Wartezeit, bis der Hausmeister die Schule aufschloss, damit vertreiben, dass er mit dem Fingernagel kleine Muster in die weiße Eisschicht ritzte. Wenn er Glück hatte, machten ihm die anderen Kinder seine kleinen Kunstwerke nicht gleich wieder zunichte. Aber in letzter Zeit hatte er nicht viel Glück.
Katrin hatte versucht, mit ihrem Filzstift sein Hausaufgabenheft zu bekritzeln, als er gerade nicht hinsah. Als jedoch ihre Freundin den glänzenden Stern sah und mit einem begeisterten Leuchten in den Augen laut aufquietschte, hatte sie es lieber sein gelassen.
Nun saß Jonas hinten in der letzten Reihe und verfolgte gelangweilt den Geschichtsunterricht. Seine Gedanken fingen an, umher zu schweifen. Morgen war Nikolaus.
Er war kein Kind, das an Nikolaus mit vollen Stiefeln überhäuft wurde. Trotzdem wusste er, dass es dieses Jahr ziemlich eng werden würde, falls es denn überhaupt etwas gab. Seine Mutter hatte durch die Trennung auch ihren Job verloren. Und so sparte sie an allen Ecken und Enden.
Auf dem Heimweg lag Schnee in der Luft. Jonas schnupperte neugierig und dachte an die vergangenen Winter, als er mit seiner Mutter rodeln ging, bis es so dunkel war, dass man die Piste nicht mehr erkennen konnte. Erstaunt drehte er den Kopf herum, als seine Nase einen neuen Geruch auffing. Vom Kiosk an der Ecke roch es ungemein lecker nach Waffeln. Er wusste ja, dass er kein Geld dabei hatte, aber trotzdem zog es ihn wie magisch in den kleinen Laden. Hinter dem Tresen stand eine kleine, stämmige Türkin mit einem roten Kopftuch und lächelte ihn freundlich an. Mit Erstaunen erkannte Jonas seine Nachbarin mit dem komischen Namen.
„Yildiz", genau, so hieß sie. Da lief er schon so lange an ihrem Kiosk vorbei und nicht ein einziges Mal war ihm der Name über der Eingangstür aufgefallen.
Frau Yildiz ließ sich von seinem unschlüssigen Gesichtsausdruck nicht beirren. Sie sah seine rot gefrorenen Wangen und auch, dass er nicht mal eine Mütze trug. „Hallo Jonas!" rief sie ihm entgegen. Seltsam, dass sie seinen Namen wusste, aber seine Mutter sprach ja schließlich auch mit allem und jedem im Haus.
Frau Yildiz drehte sich zu ihrem Waffeleisen um, das mit leisem Puffen und Fauchen den gesamten Kiosk mit Wohlgeruch füllte. „Gut, dass du kommen." redete sie weiter, ohne sich dabei umzudrehen. „Ich haben Waffel, das ist geworden zu braun. So ich können nicht verkaufen. Du wollen?" Mit diesen Worten hielt sie ihm eine Waffel hin, die so ebenmäßig hell war, wie dicker Vanillepudding. Eilig streute sie ein wildes Gestöber aus Puderzucker über das noch dampfende Gebäck. „Du nehmen, du essen. Wie gehen deiner Mutter?"
Jonas war verwirrt. Doch sein Hunger war so groß, dass er in die Waffel biss, ohne weiter darüber nachzudenken. Ein schlechtes Gewissen überkam ihn, als er feststellen musste, dass selbst seine Oma keine besseren Waffeln backen konnte. Mit übervollem Mund konnte er auf Frau Yildiz Frage nur mit dem Kopf nicken und ein gedämpftes „Gug. Ganke." heraus drücken. Dann fiel ihm ein, dass er schleunigst nach Hause musste. Seine Mutter wartete bestimmt schon auf ihn. Eilig drehte er sich zur Tür. Gleich neben dem Ausgang stand ein kleines Regal mit Schreibwaren und Bastelartikeln. Und zwischen Plastikverpackungen mit Linealen, Bleistiften und Radiergummis entdeckte Jonas ein Packung silberner Aufkleber. Tannenbäume, Glöckchen, Engel und Sterne glänzten unter der Klarsichtfolie im Schein der Schaufensterbeleuchtung. Da erinnerte Jonas sich daran, dass er vor Tagen morgens sehr spät dran war, auf dem Weg zur Schule. Und da ist ihm direkt vor dem Kiosk der Ranzen von den Schultern gerutscht, aufgegangen und alle seine Schulsachen waren in hohem Bogen zu Boden geflogen. Wahrscheinlich hatte er in seiner Eile alles so hastig zusammen geklaubt, dass er sein Hausaufgabenheft übersehen hatte. Er drehte sich wieder zu Frau Yildiz um, auch wenn er noch gar nicht wusste, wie er ihr danken konnte, als er sah, dass sie ihn anlächelte und ihm zum Abschied winkte, als wolle sie ihn mit der Hand aus dem Kiosk fegen. „Du grüßen Mutter von mir?" Es klang mehr wie ein Befehl, als eine Frage, und so lief Jonas nickend raus auf den Bürgersteig. Ihm hätten sowieso jegliche Worte gefehlt. So schlug er den Weg nach Hause ein.
Zuhause hatte seine Mutter ihm einen Teller Suppe aufgewärmt. Kleine Klößchen schwammen darin. Die mochte er besonders gern.
„Was hältst du davon" begann seine Mutter, „wenn wir nachher noch ein bisschen in den Stadtpark gehen? Enten füttern?" Jonas wunderte sich schon ein bisschen. Bisher hatte seine Mutter mit Enten nicht viel am Hut gehabt. Aber, da er schon den ganzen Tag in der Schule gesessen hatte und es sowieso bald dunkel werden würde, willigte er ein.
Kalt pfiff der Wind um die Tannen und Föhren im Park. Erste Eisränder ragten wie kleine, spitze Zähne in den Teich hinaus, auf dem zwei einsame Entenpaare ihre Bahnen zogen. Schnell waren die Brotreste, die Jonas Mutter mitgenommen hatte, aufgebraucht. Empörte Entenblicke hinter sich her ziehend, gingen er mit seiner Mutter weiter. Nach wenigen Metern schaute sie sich verstohlen um, ehe sie eine kleine Gartenschere aus der Tasche zog. Eilig trat sie an einen Tannenbaum und schnitt ein paar versteckt sitzende Zweige ab. Dann huschte sie, die Zweige eng an sich gedrückt, zurück zu Jonas und ging zügig mit ihm zum Ausgang des Parks. Jonas war sich unsicher, ob er etwas sagen sollte. So beklommen hatte er seine Mutter noch nie erlebt. Er beschloss, lieber zu schweigen. Es war ihnen beiden eh schon peinlich genug.
Erst kurz vor ihrer Haustür entspannte sich seine Mutter. "Weißt du, ich glaube nicht, dass der Nikolaus etwas dagegen hat, wenn wir ein bisschen die Wohnung schmücken und es uns gemütlich machen." Einen Augenblick lang zögerte sie. „Aber eigentlich bist du für Nikolaus doch schon zu groß, oder? Ich meine, was das Stiefel-Aufstellen angeht." Fast schon bittend sah sie zu ihrem Sohn hinüber.
„Ja, ja," entfuhr es Jonas. "dafür bin ich wirklich schon zu alt." Bei diesen Worten sammelten sich ein paar kleine Tränen in seinen Augenwinkeln. Er schaute zum Haus hinüber, damit seine Mutter sie nicht sehen musste. In diesem Moment gewahrte er Frau Grottenfels am Fenster, die ihn reglos ansah. Verdammter Grottenolm! Stand die eigentlich nur noch da und glotzt, was andere machen? Eilig wischte er sich die Nase am Ärmel seiner Jacke ab und huschte hinter seiner Mutter ins Haus.
Am Abend saß seine Mutter an seinem Bett. Dafür war er genau genommen tatsächlich schon zu alt, aber er wollte ihr nicht die Freude nehmen, ihm etwas vorzulesen. Mit viel Überredungskunst hatte er siedazu gebracht, dass es heute Abend „Sankt Nikolaus in Not" war. Um der alten Zeiten willen. Und so las sie ihm vor, von Sankt Nikolaus, dessen Vorräte nicht für die kleine Cäcilie gereicht hatten, von Trinchen Mutser mit ihrem riesigen Schokoladenschiff und vom Dichter und dem Turmwächter.
In dieser Nacht träumte er davon, das Schokoladenschiff würde durch den Kamin zu ihm hinunter segeln und auf seinem Kissen landen. Fast meinte er, noch im Aufwachen die Schokolade schmecken zu können. Dann klingelte sein Wecker.
Beim Frühstück sagte seine Mutter nur wenig. Eilig schmierte sie Jonas die Brote für die Schule. An der Tür gab sie ihm einen Kuss auf die Stirn, so wie früher, wenn es etwas zu Trösten oder zu Heilen gab. Dann trat Jonas in den Hausflur hinaus. Das heißt, er blieb erstaunt in der offenen Tür stehen.
Vor ihm auf dem Boden stand ein Nikolausteller, so hoch mit Nüssen, Mandarinen und Schokolade befüllt, dass ein Teil davon auf die Fußmatte gefallen war. Daneben lag ein kleines, weiches Päckchen in dunkelblauem Geschenkpapier mit einer goldenen Schleife darum.
Fragend schaute Jonas seine Mutter an, doch die hatte einen ebenso überraschten Gesichtsausdruck, wie er. Eilig holten sie gemeinsam seine Schätze herein und legten sie auf den Küchentisch. Vorsichtig öffnete er das Päckchen. Zum Vorschein kam eine selbstgestrickte Mütze aus dicker, gelber Wolle, mit einem kleinen, schwarzen Bommel daran. Jonas zog sich die Mütze bis über beide Ohren. Sie war zwar ein kleines bisschen zu groß, aber dafür wärmte sie schön.
Seine Mutter erlaubte ihm noch, für den Schulweg etwas Schokolade mitzunehmen, dann musst er auch schon los. Und hatte keine Augen für seine Umgebung, vor lauter Nachdenken, wer denn sein Nikolaus gewesen sein könnte.
***
Die Tage gingen kalt und windig vorüber. Ab und zu gab es mal ein paar Schneeflocken, aber nichts davon blieb liegen. In der Schule hatte es zuerst noch einige Lacher wegen Jonas Mütze gegeben. Ein paar Kinder fanden es sehr originell, „Minion!" hinter ihm her zu rufen, wenn sie ihn sahen. Aber die Minions, fand Jonas, waren ja eigentlich ganz cool. Und immer gut drauf, egal, wie blöd es gerade lief. Und das ist ja nix Schlechtes. So lächelte er nur, wenn die anderen feixten, und bald hatte auch das Feixen ein Ende.
Weil sein Schulweg zum Laufen doch ein bisschen zu lang war, und damit er schneller zu Hause sein konnte, gerade wenn es regnete, hatte seine Mutter ihm erlaubt, das Fahrrad zu nehmen. Jeden Morgen schloss er es nun bei der Schule an den Fahrradständer an. Manchmal stellte neben ihm ein Mädchen aus seiner Parallelklasse ihr Fahrrad ab. Jedes Mal lächelte sie zu Jonas hinüber, ehe sie in der Schule verschwand und er sie erst in der nächsten großen Pause wiedersehen konnte. Dann allerdings nur von Ferne, in ihrem Pulk von Freundinnen.
Als er in der dritten Adventswoche einmal aus der Schule trat und zu seinem Fahrrad ging, konnte er gerade noch eine Horde dick vermummter Jungs weglaufen sehen. Eine böse Vorahnung beschlich ihn. Und als er sich seinem Rad näherte, sah er die Bescherung. Seine Fahrradklingel war zerlegt worden und der Federmechanismus hing verbogen aus der Klingelschale, wie ein Kasperle über der Bühne eines Puppentheaters, nachdem das Krokodil mit ihm fertig war.
Wut wallte in Jonas hoch. Wut und Frust. Wie kann man nur sowas bescheuertes machen? Vielleicht war den anderen ja nicht klar, wie teuer so eine Fahrradklingel ist, weil sie von ihren Eltern alles bekamen, was sie brauchten, und noch lauter Kram, den sie einfach nur wollten. Jetzt musste er warten, bis es zu Weihnachten etwas Geld von seiner Oma gab. Dann erst konnte er sich eine neue Klingel kaufen, und hatte weniger Geld, um seiner Mutter etwas Schönes zu Weihnachten zu besorgen. Na toll! Mit hängendem Kopf fuhr er nach Hause und lehnte sein Fahrrad, ganz in düsteren Gedanken versunken, vorm Haus an die Hauswand. Seine Mutter wartete schon mit dem Essen auf ihn, aber der Appetit dafür war ihm vergangen.
Nach dem Essen machten sie sich nochmal auf den Weg, zum Einkaufen. Im Treppenhaus kam seine Mutter dann auf das zu sprechen, was ihrem Sohn offenbar den Tag verhagelt hatte. „Sag mal, welche Laus ist dir den heute über die Leber gelaufen? Du hast ja kaum was gegessen."
Jonas schaute seine Mutter seufzend an. Sie anzuflunkern war noch nie sein Ding. Und irgendwann würde sie es ja doch heraus bekommen.
„Ein paar Jungs aus meiner Schule haben mir heute meine Fahrradklingel demoliert." Jonas duckte sich innerlich. „Ich hab sie noch gesehen, aber leider nicht erkannt." schob er noch hinterher, ehe seine Mutter nervige Fragen stellen konnte. „Ich kauf mir eine neue, wenn ich mein Weihnachtsgeld habe. Alles gut." versuchte er seine Mutter zu beschwichtigen. Die aber, schaute ihn nur in Gedanken versunken an, so als ob sie ihn gar nicht gehört hätte. Ein kurzes Lächeln folgte. Also doch alles gut.
An der Haustür kamen ihnen Bachhubers entgegen. Seine Frau trug eine volle Einkaufstasche und ihr Mann einen Karton mit Weinflaschen. „Hallo Frau Weber! Hallo Jonas." Freundlich nickte Herr Bachhuber ihnen zu. „Ach, ehe ich es vergesse ..." Herr Bachhuber stellte den Karton auf dem Treppengeländer ab. „Heute Nachmittag um Vier veranstaltet unsere Kirchengemeinde einen Adventsbasar mit Kaffee und Kuchen. Hätten sie Lust, auch dahin zu kommen? Wir haben viele, tolle Stände und könnten, ehrlich gesagt, auch noch ein paar helfende Hände gut gebrauchen. Kaffee ausschenken und so etwas. Die Helfer bekommen übrigens ihren Kuchen umsonst."
Frau Bachhuber schob sich mit ihrer zarten Stimme vorsichtig in die Unterhaltung hinein. „Wir haben dort auch einen Stand. Mein Mann schnitzt wunderschönen Baumschmuck und kleine Geschenkanhänger. Die Weihnachtsmann-Figur vor unserer Tür ist auch von ihm."
Jonas Mutter lächelt erfreut. „Liebend gern. So ein Austausch mit seinen Mitmenschen, hat doch etwas sehr schönes an sich. Und natürlich helfen wir gerne, nicht wahr, Jonas?"
Jonas hatte nicht wirklich Lust darauf, seine Zeit stundenlang mit alten Leuten in überheizten Gemeinderäumen zu verbringen, jedoch hatte er heute eh nichts besseres mehr vor, und außerdem wollte er alles tun, was seine Mutter aufheiterte und von der Sache mit der Fahrradklingel ablenkte.
Auf ihrem Rückweg vom Basar war es schon dunkel. Sanft beleuchteten die Straßenlaternen ihren Heimweg. Schon von weitem konnte Jonas sehen, dass etwas nicht stimmte. Sein Fahrrad war weg. Kalter Schweiß brach ihm aus und das Herz wurde ihm schwer. Das hatte ihm gerade noch gefehlt. Seine Schritte wurden zögerlicher, was seiner Mutter nicht verborgen blieb. „Ist was?" schaute sie ihn fragend an.
„Ich weiß nicht." stammelte Jonas. „Ich glaub, ich hab mein Fahrrad vorm Haus abgestellt. Und nun ist es weg."
„ Aber vielleicht hast du es ja doch in den Fahrradkeller getan und weißt es nur nicht mehr. Du warst ja nach der Schule ganz schön durcheinander." Seine Mutter nahm seine Hand und drückte sie aufmunternd. Der Nachmittag im Gemeindehaus hatte ihr gut getan. Endlich mal wieder etwas tun zu können, und so viele freundliche Leute. Sie hatte sich zum ersten Mal seit langem wieder wie ein Mensch gefühlt. Und das hatte ihr Mut gegeben. Einen Mut, den sie nun zu gerne an ihren Jungen weitergeben würde. „Schau doch einfach nochmal nach. Dann weißt du es genau."
Gemeinsam betraten sie den kargen Kellerraum, in dem schon Generationen von Fahrrädern ihre Spuren an der Wand hinterlassen hatten. Gleich vornean stand Jonas Fahrrad. Mit einer neuen Klingel am Lenker.
***
Nun war der Winter wirklich und wahrhaftig zu ihnen gekommen. Der vierte Advent hatte einen stetigen Schneefall im Gepäck gehabt, der die Autofahrer zum Schleichen und die Kinder zum Juchzen brachte. Jonas konnte den Beginn der Weihnachtsferien kaum erwarten. Zum einen natürlich, weil er die Pappnasen aus seiner Klasse dann eine ganze, lange Zeit nicht mehr sehen musste. Und zum anderen, eben weil dann Weihnachten kam. Dabei ging es ihm gar nicht mal darum, viele Geschenke zu bekommen. Aber an Weihnachten machte seine Mutter immer so tolle Dinge mit ihm. Mal hatten sie Kerzen gezogen, mal Spiele gespielt. Und immer hatten sie zusammen den Baum geschmückt.
Beim Gedanken an den Weihnachtsbaum wurde Jonas wieder etwas komisch zumute. Er hatte nur wenig Lust, gemeinsam mit seiner Mutter und einer Säge, bei Nacht und Nebel in den Stadtpark zu schleichen. Zumal er sich ziemlich sicher war, dass das verboten war. Ein paar Tannenzweige? Nun gut, da konnte man vielleicht noch drüber hinweg sehen, aber gleich ein ganzer Baum?
Als Jonas an diesem Nachmittag nach Hause kam, wollte er gerade die Haustür aufschließen, als sie sich mit Schwung öffnete und vor ihm das Mädchen auftauchte, das ihn in der Schule immer so nett anlächelte. Sie trug, genau wie er, eine gelbe Strickmütze auf dem Kopf. Nur bei ihrer war der Bommel rot anstatt schwarz.
„Was ... was machst du denn hier?" Jonas wurde bewusst, dass er wie ein Trottel aussehen musste, doch er konnte nichts dagegen tun.
„Hallo! Sag bloß, du wohnst hier?" Ihr Lächeln war heute noch ein bisschen breiter, als sonst. „Ich besuche meine Oma. Die wohnt auch hier. Gleich im Erdgeschoss." Mit diesen Worten deutete sie auf das Fenster, hinter dem Frau Grottenfels stand und ihr freundlich zuwinkte.
Jonas Gehirn brauchte einige Momente, um mit dieser Information klar zu kommen. Dann lächelte er verhalten zurück. „Deine Mütze .." stammelte er dem Mädchen entgegen.
„Die hat meine Oma gestrickt. Oh ..." Das Mädchen schaute auf Jonas Mütze, als sähe sie sie zum ersten Mal. „... du hast ja auch so eine. Meine Oma mag dich wohl. Ich muss jetzt los. Tschüss!" Mit diesen Worten ging sie leichtfüßig an Jonas vorbei und die Straße entlang davon.
Auf seinem Weg die Treppe hinauf, kam für Jonas gleich die nächste Überraschung, und das, wo er die erste noch nicht einmal verdaut hatte. Die Tür, vor deren Öffnen er sich am allermeisten fürchtete, war die von Herrn Jablonski. Und gerade, als Jonas die Treppe hoch kam, stand der Hausmeister in seiner offenen Wohnungstür und wartete auf ihn.
„Gut, dass ich dich mal persönlich erwische." brummte er, und Jonas rutschte das Herz in die Hose.
„Du hast letzte Woche wieder dein Fahrrad vor dem Haus abgestellt. Also nochmal werd ichs nicht in den Keller tragen, junger Mann. Und wenn mal wieder sowas is, wie mit deiner Klingel, dann kommste gleich zu mir, verstanden?"
Jonas starrte den untersetzten Mann aus großen Augen an. „Dann waren sie das ... mit der Klingel? Das ... ich ... Entschuldigung. Ich fahr jetzt immer rum zum Keller. Ich ... ääääh ... Danke!" Jonas Augen begannen zu leuchten, als ihm klar wurde, dass Herr Jablonski echt in Ordnung war. „Die Klingel ... ja, die bezahle ich ihnen natürlich."
Herr Jablonski rieb sich seine recht knollige Nase, dann winkte er gelassen ab. „Lass mal stecken, Kleiner. Ich hatte die eh noch rumliegen, und du brauchst sie mehr als ich. Na denn ..." Er wandte er sich wieder seiner Wohnung zu. „ ... machet jut. Bis die Tage."
Die Tür fiel hinter ihm ins Schloss.
Am Abend lag Jonas eingekuschelt in seinem Bett. Seine Mutter hatte ihm die Geschichte vom Tannenbaum vorgelesen, der so gerne groß und prächtig sein wollte und dabei noch nicht einmal ahnte, was einem Weihnachtsbaum widerfährt, wenn die Feiertage vorbei sind. Als sie geendet hatte, schaute Jonas seine Mutter ernst an. „Du, Mama? Eigentlich ist das doch doof. Da braucht ein Tannenbaum so lange zum Wachsen und nach Weihnachten geht es dann ab auf den Müll."
Seine Mutter lächelte zu ihm hinunter. „Da hast du wohl Recht. Aber irgendwie ist es ohne Weihnachtsbaum doch auch komisch."
Jonas dachte nach. „Dann lass uns doch einen basteln. Wir könnten doch mit buntem Papier einen Tannenbaum an die Wand kleben. Und dann noch Papierschmuck dran, das würde doch reichen."
Seine Mutter war gerührt von der Bescheidenheit, die ihr kleiner Held an den Tag legte. Noch Stunden, nachdem er eingeschlafen war, dachte sie darüber nach, wie sie es schaffen könnte ihnen einen Tannenbaum zu besorgen, auch, wenn es nur ein ganz kleiner war. Gestern erst hatte sie sich mit Frau Bachhuber darüber unterhalten, als diese vom großen Erfolg ihres Basarstandes erzählt hatte. Nur ein paar Anhänger wären übrig geblieben. Da hatte sie ihr erzählt, dass sie selbst leider keine bräuchte, da sie in diesem Jahr keinen Baum hätten. Heute schalt sie sich dafür, so ein Plappermaul zu sein. So nett die Leute im Haus auch waren, so mussten sie schließlich nicht alle wissen, wie es um sie stand. In Zukunft würde sie sich mit solchen Aussagen zurück halten.
Der 24. Dezember brach mit einem dichten Schneegestöber an. Jonas lag warm eingekuschelt in seinem Bett und schaute auf das wilde Treiben hinaus, das sein Dachfenster nach und nach wie mit einer dicken Watteschicht überzog. Endlich hatte er Ferien. Keine Schule mehr, für die nächsten zwei Wochen.
Als der Duft von warmem Kakao in seine Zimmer zog, hüpfte er aus dem Bett und lief barfuß und im Schlafanzug in die Küche. Seine Mutter hatte den Frühstückstisch gedeckt und sogar frische Brötchen gekauft. Und ein großer Becher Kakao stand dampfend an Jonas Platz.
Aus dem alten Radiorekorder dudelte Weihnachtsmusik und eine dicke Kerze, in einem Bett aus Tannenzweiglein und roten Fröbelsternen, brannte still und heimelig vor sich hin.
Jonas ließ es sich in Ruhe schmecken und dachte daran, dass es jetzt fast nicht mehr besser werden konnte.
Da fiel seiner Mutter etwas ein. „Ach ja, vorhin, beim Bäcker hat Frau Yildiz mich angesprochen, ob du nicht heute mit ihren Kindern zum Rodeln gehen möchtest. Sie haben noch einen Schlitten übrig." Jonas verschluckte sich fast an seinem Brötchen, so sehr überraschten ihn die Worte seiner Mutter. „Klar, logo." stieß er hervor, und wäre am liebsten gleich vom Tisch aufgesprungen. „Nun mal langsam." lachte seine Mutter. „Ich habe mit ihr ausgemacht, dass du so gegen Zehn bei ihnen bist. Wenn du wieder kommst, basteln wir unseren Tannenbaum und machen Essen. Außerdem ist gestern das Weihnachtspäckchen von Oma Gustel angekommen ..." verschwörerisch rollte seine Mutter mit den Augen. „... aber das gibts erst heute Abend."
Wie langsam doch die Zeit vergeht, wenn man auf etwas wartet. Für Jonas zog sich die Zeit wie Kaugummi. Doch endlich war es so weit und er schlüpfte in seine Winterjacke und die warmen Schneestiefel. Dann stürmte er die Treppe herunter, ungeachtet des Lärms, den er dabei machte.
Als er Stunden später zurück nach Hause kam, waren seine Wangen gerötet und in seinem Haar klebten Reste von Schneebällen.
„Mama! Mama!" rief er schon im Flur, während er dabei war, sich aus seinen feuchten Sachen zu schälen. „Stell dir mal vor, Hamza und Melia haben gesagt, dass sie auch keinen Weihnachtsbaum haben. Die feiern nicht mal Weihnachten, wusstest du das?" Jonas schaute in die Küche, aber da war seine Mutter nicht. Nur ein Eintopf köchelte auf dem Herd. „Die feiern dafür Zuckerfest. Als Abschluss des Ramadan. Mama, was ist Ramadan?" Jonas lief suchend durch die Wohnung. An der Tür zum Wohnzimmer kam sie ihm dann schließlich entgegen. Abrupt blieb Jonas stehen. Der Blick seiner Mutter hatte etwas Ergriffenes an sich, das er so noch nie bei ihr gesehen hatte. Fragend schaute er sie an.
„Stell dir mal vor ..." hob sie an, „... was vorhin vor unserer Tür gestanden hat. Ich wollte eigentlich nur den Müll runter bringen, und dann das ..." Ihre Stimme versagte und ihr Blick fiel auf etwas, das im Wohnzimmer hinter ihr stand. So schob Jonas sich an ihr vorbei. Und konnte kaum glauben, was er sah.
Dort stand, in einem großen Terrakotta-Topf, ein kleiner, echter Tannenbaum. An seinen Zweigen baumelten Anhänger aus fein geschnitztem Holz und auf ihren Spitzen saßen rote Schleifen. Ein paar bunte Kugeln schimmerten im Licht einer kleinen Lichterkette. Und oben an der Baumspitze strahlte ein großer Strohstern.
Jonas stand mit offenem Mund da. Sein Hirn war wie leergefegt. Er kam sich vor, als sein er Teil eines großen Weihnachtswunders, ja, einer gar wundersamen Adventszeit. Irgendwie hatten sich in den letzten Wochen so viele Dinge ineinander gefügt, dass er geneigt war, das alles als ein riesiges Puzzle einer irgendwie übergeordneten Macht anzusehen. Es wurde ihm ganz zittrig ums Herz, als er seinen Mutter ansah. „Mama, ich hätte nie gedacht, dass Weihnachten so schön sein könnte." Seine Mutter nickte nur und schloss ihn in die Arme, damit er ihre Tränen nicht sah.
Spät am Nachmittag, als die getragene Melodie der Orgel durch das Kirchenschiff schallte, sah Jonas sich um. Zwei Bänke weiter vorne saßen Bachhubers und lauschten andächtig der Weihnachtsmusik. Die beiden hatten Jonas und seine Mutter schon beim Betreten der Kirche entdeckt und ihnen lächelnd zugenickt. Dann hatten sie Frau Grottenfels mit ihrem Rollator geholfen, als diese ihren Platz am Gang einnahm. Frau Grottenfels sah heute gar nicht mehr aus wie eine Hexe, fand Jonas. Eher, wie eine gute Fee, aber keine junge, sondern so eine wie die bei Cinderella. In der hintersten Reihe saß Herr Jablonski. Neben ihm wohl seine Frau. Jonas hatte sie noch nie gesehen. Zu Jonas großer Verwunderung hatte Herr Jablonski einen Säugling auf dem Schoß, den er unentwegt wippte und von Zeit zu Zeit auf den Scheitel küsste. Erst, als das Baby anfing unruhig zu werden und seinen Daumen suchte, gab er es an eine junge Frau weiter, die auf seiner anderen Seite saß. Ihre Nase sah seiner auffallend ähnlich. Beim Krippenspiel entdeckte Jonas noch ein bekanntes Gesicht. Sie hatte heute zwar keine gelbe Mütze auf, aber Engelsflügel standen ihr sowieso viel besser, fand er.
Auf dem Nachhauseweg schaute Jonas hoch in den Abendhimmel. Auch, wenn noch nicht alle Sterne am Firmament versammelt waren, so funkelten die, die sich schon zeigten, so hell wie Diamanten. Hier unten auf der Erde hingegen, glitzerte der Schnee im Licht der Straßenlaternen, als wolle er den Sternen etwas Gleichwertiges entgegen setzen. Jonas wurde es ganz warm ums Herz. So erhaben und schön fühlte es sich an, dass er die Hand seiner Mutter nahm und sich wie der reichste Junge der Welt vorkam. Was brauchte man mehr, als ein Haus voller lieber Menschen und die Hoffnung darauf, dass die Dinge gut werden, wenn man es denn zulässt?
Beflügelt von diesem Gedanken ging er neben seiner Mutter her, mit Weihnachten im Herzen und mit Freude in seinen Augen.
***