Die wahren Monster sind in deinem Kopf
Verschlafen wische ich mir die Augen aus. Ich halte einen Becher heißen Kaffee in der Hand, bin noch im Morgenmantel. Meine Haare stehen, zu einer Sturmfrisur verstrubbelt, in alle erdenklichen Richtungen und meine Augen sind leicht geschwollen. Gestern Abend brachte ich kein Auge zu. Ich hatte das unangenehme Gefühl, beobachtet zu werden. Alte Erinnerungen kamen hoch. Schreckliche Erinnerungen. Immer und immer wieder musste ich das Licht einschalten und nachsehen, ob sie hier im Raum stehen würden. Es artete beinahe in panische Angst aus. So verbrachte ich beinahe die ganze Nacht damit, mir hirnrissige Videos im Internet reinzuziehen, um diese innere Stimme, die nichts Gutes verkündete, ausblenden zu können. Ich zwang mich, wach zu bleiben. Das hört sich nun ziemlich blöde an, aber wer dieses Gefühl kennt, weiß, was ich meine. Schließlich ließ es, nach einigen Stunden erzwungenem Wachens nach und ich konnte endlich in einen ziemlich unruhigen Schlaf fallen.
Mit einem Blick auf meine Armbanduhr stelle ich wenig überrascht fest, dass ich nur eineinhalb Stunden Schlaf erwischt habe. Ich gähne herzhaft und kratze mich am Kopf. Wie gerne würde ich jetzt noch im Bett liegen und dösen… Aber das geht nicht. Ich muss arbeiten, auch wenn ich selbst meinen Beruf nicht wirklich als „Traumjob“ bezeichnen würde; ich bin eine Reinigungskraft der Berliner Sanitäranlagen. Kloputzer, auf gut deutsch. Irgendwie muss ich ja auch über die Runden kommen. Ich seufze. Die Augen fallen mir beinahe zu, so müde bin ich. Ich bin es nicht gewohnt, lange aufzubleiben; Ich lege mich um sieben Uhr schlafen und wache meist pünktlich um fünf Uhr auf. Eigentlich passt mir das nur allzu gut in den Kram, die perfekte Aufstehzeit als „Kloputzer“. Nur wenige meiner Mitarbeiter erscheinen so ausgeruht und putzmunter am Posten, wie ich es tue. Aber heute fände ich einen freien Tag auch nicht schlecht…
Lustlos tappe ich die Treppen hinunter, um die Zeitung zu holen, wobei ich auf Frau Schmidt treffe, die, wie es schien, mal wieder auf der Suche nach einem Opfer ist, das sie mit Frischfleisch aus der Gerüchteküche füttern kann. Obwohl ich das nicht leiden kann, grüße ich sie mit gespieltem Interesse; „Guten Morgen, Frau Schmidt! Was machen Sie denn zu dieser frühen Stunde schon hier?“ Während ich die Zeitung aus meinem Postfach hole, beginnt sie auch schon zu jammern; „Ach, es ist schrecklich…“ Kaum merkbar rolle ich die Augen. „Was denn?“, hake ich dennoch nach, denn sie scheint es zu erwarten. Außerdem möchte ich nicht unhöflich wirken. „Nicht eine Minute Schlaf hab ich erwisch, heute Nacht! Und da ich sowieso schon auf den Beinen war, dachte ich, kann ich ja gleich die Zeitung holen. Alles tut mir weh, und müüüüde bin ich…“, klagt sie und legt dabei theatralisch den Handrücken auf ihre beinahe faltenfreie Stirn. Verwundert ziehe ich die Augenbrauen hoch. Im Vergleich zu meinem Gesicht, das mich vorhin mit tiefen Augenringen aus dem Spiegel angegähnt hat, wirkt sie recht ausgeschlafen, um nicht zu sagen topfit. „Aber da gibt es etwas, das noch schlimmer ist…“ „Was, noch schlimmer?“, frage ich ironisch-verwundert. „Allerdings…“ Sie schaut nach links, dann nochmal nach rechts, wirft noch einen verstohlenen Blick über die Schulter und beugt sich schließlich geheimnistuerisch zu mir nach vorn. „Deine Nachbarin, diese… na wie heißt sie noch gleich… diese… aja, diese Brunninger da…“ Oh, wie ich das hasse. Immer versucht sie, den Anschein zu erwecken, ihr würde der Name der Person, die sie gerade verteufelt, nicht einfallen, um die Unterhaltung unnötig in die Länge zu ziehen. Hat sie denn keine Hobbys? Oder Freunde? Kurz verschwende ich einen Gedanken an alles, was sie mir jeden Tag aufs Neue auf dramatische Art und Weise vorlästert, über alle möglichen Leute, sei es ein Promi, oder die Schwester der Nachbarin von Herrn Gürkes Nichte. Vermutlich nicht.
„Ja“, sage ich geduldig und immer noch Interesse vortäuschend. „Was ist mit ihr?“ Nochmals dreht sie sich um, um zu prüfen, ob uns jemand belauscht. Wie immer dramatisiert sie herum. „Sie kommt mir schon seit gestern Morgen so komisch vor. Um nicht zu sagen verrückt… So etwas hab ich noch nie gesehen! Meiner Meinung nach, gehört sie ins Irrenhaus.“ Tief in mir spüre ich einen Alarm losgehen. Ich muss zu ihr. Ich habe das Gefühl, ihr helfen zu müssen. Und dass ich der einzige bin, der versteht, worum es hier wirklich geht… Ich bin der einzige, der ihr helfen kann… hoffentlich…
Plötzlich reißt Frau Schmidts schrille Stimme mich aus den Gedanken. „Aber; Psssssst!“ Sie drückt den Zeigefinger so fest auf ihre Lippen, dass sie aussieht, wie eine Ente, die einen Luftkuss verschicken will und gibt mir so das Zeichen, es niemanden weiterzusagen. Ich nicke, obwohl ich weiß, dass diese Geschichte noch bei den nächsten 30 Leuten landen wird, die ihr heute über den Weg laufen. Schon fängt sie an, mir das nächste Gespräch aufzuhalsen; „Und neulich, da hab ich gehört…“ „Tut mir leid, Frau Schmidt, aber ich muss dann mal rauf, der Kaffee köchelt.“ Obwohl ich gleich darauf, als ich einen großen Schluck aus der Tasse nehme, die ich schon die ganze Zeit mit mir rumtrage, zur Kenntnis nehmen muss, dass dies eine ziemlich blöde Aussage war, ließ ich sie einfach stehen um die Treppen hinauf zu eilen, bis in den zweiten Stock. Als ich dort ankomme, renne ich jedoch an meiner eigenen Wohnungstür vorbei, stattdessen mache ich vor der von Frau Brunninger Halt. Ich bin kurz davor, die Klingel zu drücken, da fällt mir siedend heiß ein, wie früh es noch ist. Jemanden vor Sonnenaufgang aufwecken, um ihm zu sagen, dass man gehört hat, er sei verrückt? „Nein“, denke ich und ziehe die Hand weg. „Soweit kommt’s noch!“ Besorgt stapfe ich zurück zu meiner Wohnung. Tja, erstmal gemütlich frühstücken. Dann geht bestimmt auch dieses mulmige Gefühl weg. Doch ich irre. Kaum sitze ich fünf Minuten kauend am Tisch, gehen meine Gedanken förmlich über. Was ist, wenn alles wieder so ist, wie es damals war? Was ist, wenn ich als einziger übrigbleibe? Und was ist, wenn ich nicht übrigbleibe? Ich reibe mir die Schläfen. „Alles ist okay, Tom, alles okay. Die Schmidt lügt doch sowieso immer bei ihren Lästereien! Und wenn schon; Kann doch mal passieren, dass man für einen Moment am Rad dreht. Sie übertreibt malwieder“, versuche ich mich zu beruhigen. Doch es klappt nicht; der Gedankenzirkus geht weiter.
Nachdem ich gegessen und mich gekleidet habe, packe ich meine Schlüssel und verlasse die Wohnung. Diese schlimme Vorahnung, die sich so tief in meinem Kopf verankert hat, bin ich zwar immer noch nicht losgeworden, doch ich versuche, mich durchzubeißen. Als ich den Schlüssel abziehe, fällt mir Frau Brunningers Wohnungstür ins Auge. „Vielleicht ist sie ja schon wach“, denke ich und gehe schnurstracks hinüber. Mein Herz beginnt wie wild zu pochen, als ich die Klingel drücke. Aus Erleichterung, vielleicht in Kürze Klarheit über das Gerücht zu haben, oder aus Angst, was auf mich zukommt, bleibt mir nebelhaft. Zu meiner Verwunderung wird mir die Tür sofort, beinahe im selben Zeitpunkt von meiner Zielperson geöffnet. Sie spricht kein Wort, und ihre Augen, die weitaufgerissen ins Jenseits starren, wirken, als würden sie einen milchig-trüben Schleier tragen. Ich erschrecke bei ihrem Erscheinungsbild und weiche einen Schritt zurück. An ihr vorbei kann ich in ihre Wohnung sehen und erhasche gerade noch einen Blick auf eine große, dürre Gestalt, die im nächsten Moment mit einem hämischen Lachen aus meinem Sichtfeld verschwindet. Mir war zum Schreien zumute aber es blieb mir im Halse stecken. Ich hatte Recht; Sie sind da.