Das "Welcome-Home" duckt sich auf einer Anhöhe direkt am Waldrand, dort, wo die Haustiere noch hingehören und die Wildtiere schon. Wo es nicht einsam ist, wenn nachts der Mond scheint, aber andere Zeichen von Zivilisation fehlen.
Sein Dach scheint von einer dicken Schneeschicht bedeckt zu sein, aber das finden die seltenen Wanderer im Winter unbedeutend, weil sich das Weiß so vollkommen ins Landschaftsbild einfügt, dass sie nicht einmal einen Gedanken daran verschwenden, wieviel oder wenig Schnee gefallen ist. Im Sommer allerdings löst der Anblick bei einigen Verwirrung aus.
Von weitem sehen die Bewohner der flachen, roten Hütte kugelförmig aus, aber in Wirklichkeit täuscht das: Sie haben sehr lange Beine, gemessen an ihrer Körpergröße. Die klappen sie beim Hocken so dicht an ihren Körper, dass sie wie kleine Kugeln aussehen.
Die Haltung nehmen sie oft ein. Es ist ihre Natur oder zu ihrer Gewohnheit geworden, denn in ihrem Heim haben sie wegen der niedrigen Deckenhöhe keine andere Wahl als zu hocken. Es sei denn, sie wollten wie die meisten ihrer Besucher auf allen Vieren laufen oder auf dem Boden liegen.
Ihre Gastfreundschaft sorgt dafür, dass immer reges Treiben im Welcome-Home herrscht: Die schwarze Katze, deren Frauchen sie in eine Kutsche verzaubern wollte, und der sie nur knapp entkommen konnte. Der Wolf, dem der Bauch aufgeschlitzt wurde, und der deshalb dringend Pflege brauchte. Die Maus, die sich nicht mehr erinnern kann, wo sie hingehört.
Und natürlich all die fleißigen Wichtel selbst, deren Hauptaufgabe eigentlich darin besteht, den Menschenkindern in der Vorweihnachtszeit nette Überraschungen zu bereiten (und die deshalb der Faulheit und des Müßiggangs in den übrigen elf Monaten bezichtigt werden. Aber ehrlich: Sooo viele Überstunden, wie sie in dem einen Monat machen müssen, seit die Menschenbevölkerung rasant explodiert, dass sie nur noch mit Zeitmaschinen, die gleichzeitiges Erscheinen auf allen Kontinenten erlauben, unterwegs sein können, und all die ungedankte Vorarbeit eingerechnet, hätten sie den elffachen Urlaub wirklich verdient. Aber wer kann denn beschwören, dass sie in diesen elf Monaten wirklich nichts tun?)
***
Der Kleinste der Wichtel, Ivgy, liebte es, sich auf die Wiese vor dem Haus zu hocken und all die Lebewesen zu erfreuen, denen er begegnete.
Das Löwenmäulchen fiel ihm sofort auf, als er eines frühen Sommermorgens aus der Tür trat.
"Hallo", grüßte Ivgy und hockte sich neben die Blume, wobei er seine langen Beine zusammenklappte, sodass er von weitem kugelrund und kurzbeinig wirkte. "Du bist aber wunderschön. Was kann ich für dich tun?"
Das Löwenmäulchen war überhaupt nicht so glücklich wie die sonnige Farbe auf den ersten Blick vermuten ließ. "Ich langweile mich, so alleine auf so weiter Fläche", klagte es, "ich mag nicht immer an derselben Stelle bleiben. Und verwandeln mag ich mich schon gar nicht, dann büße ich all meine Schönheit ein."
"Hm." Der kleine Wichtel strich mitfühlend über die Blüte. "Ich habe eine Idee. Zieh doch bei mir ein. Wir sind so viele Wichtel, da wird bestimmt immer jemand Zeit für dich haben. Und in der Adventszeit, wenn wir besonders viel zu tun haben, leistet dir bestimmt jemand von den anderen Gästen Gesellschaft."
Weil die Blume gleich viel fröhlicher aussah, buddelte er sie samt Wurzeln aus und brachte sie nach Hause. Dort suchte er einen passenden Topf und trug seinen neuen Freund überall herum, damit er alle kennenlernen und sich den Platz aussuchen konnte, den er am liebsten mochte.
"Hallo Ivgy", schmunzelte Ma Mia, ihres Zeichens Wichtel-Älteste und Köchin für alle. "Wen bringst du uns denn da? Ein Löwenmäulchen - wie schön. Wir werden uns um es kümmern, aber nun sieh, dass du hinaus kommst, und Geschenke für die Menschenkinder sammels. Denn nachher wird es ganz plötzlich kalt und alle wollen sie eine Kleinigkeit ..."
"Ja, schon gut", murmelte der kleine Wichtel.
"... und wenn wir uns nicht rechtzeitig an die Arbeit machen, wird es wieder so eine Hetze, und alle werden uns faul schimpfen. Eine Schande, wenn ein Kind ohne Geschenk bleibt, bloß weil wir unsere Arbeit nicht geschafft haben."
Igvy hätte mit Ma Mia mitsprechen können, so oft hatte sie schon ihre langatmigen Erklärungen wiederholt. Mit ihr zu diskutieren, hatte wenig Zweck. Vor allem verlor man dabei nur wertvolle Zeit, in der man draußen sein und neue Freunde finden konnte. Also stiebitzte er eins der gerade ofenfrischen Schoko-Zimt-Plätzchen und ging wieder vor die Tür.
Sein Blick fiel auf einen schillernden Käfer, gerade rechtzeitig. Beinahe wäre er auf ihn getreten. "Hallo du, wer bist du denn?"
"Pass doch auf! Da wagt man sich einmal im Leben aus dem Wald heraus, und schon wird man umgebracht", brummte der Käfer, der sich als Kai vorstellte und mächtig aufpumpte.
"Tut mir leid", nuschelte Ivgy zerknirrscht. "Kann ich das vielleicht wieder gut machen? Wünscht du dir etwas?"
"Mmmmmh", machte Kai. Es klang gleich viel freundlicher. "Eigentlich kam ich herbei, weil mir diese dicken, braunen Bällchen, die wir immer rollen und tagein, tagaus fressen müssen, nicht mehr bekommen. Ich dachte, vielleicht habt ihr etwas Neues?" Sehnsüchtig schielte er dabei auf das Plätzchen in Ivgys Hand.
"Oh, kein Problem. Nimm ruhig den Keks, ich bekomme bestimmt noch mehr."
"Ist der lecker", schwärmte Kai und schlug mit den Flügeln. "Oh, wenn ich solche Köstlichkeiten zu essen hätte, würde ich nicht mehr aus dem Haus gehen!"
Sogleich lud Ivgy ihn ein, Gast bei den Wichteln zu sein, und zeigte ihm das Haus.
"Aber dass du nun endlich an die Geschenke denkst, Kleiner", mahnte Ma Mia. "Du weißt doch, nachher wird es ganz plötzlich kalt und alle wollen sie ..."
"Schon gut, bin schon weg", rief Ivgy, schnappte sich eine Hand voll Marzipan-Kuller und lief auf die Wiese. Marzipan war definitiv eins von den Dingen, die ihn glücklich machten. Aus lauter Übermut sprang und tanzte er herum, bis er ganz erschöpft war und sich der Länge nach ins Gras fallen ließ. Er ließ sich vom Zauber der weißen Wolken gefangen nehmen und fand sich bald in Träumen wieder, die ihn zu allerlei abenteuerlichen Orten und Wesen führten. Wie lange er so geträumt hat? Stunden, Tage, Wochen können es gewesen sein.
***
Jedenfalls war es plötzlich bedeutend kälter, als etwas über ihm grollte. Flüssigkeit tropfte in sein Gesicht. "Ihhh!" Der Wichtel trocknete sich mit seinem Ärmel ab und setzte sich auf. Er starrte in ein Paar gelber Augen. Heißer Atem wurde ihm ins Gesicht geblasen. "Wer bist du denn? Und warum siehst du mich so an?"
Statt einer Antwort fletschte sein Gegenüber die Zähne. "Sag, Kleiner, du siehst doch, wer ich bin, warum fragst du? Du solltest lieber Angst haben."
"Natürlich sehe ich, dass du ein Wolf bist, aber hast du denn keinen Namen?"
"Namen?" Freudlos lachte das ausgezehrte Tier. "Was schert es dich? Wer will das wissen, wenn er nicht mehr lange genug lebt, um es weiter zu erzählen?"
"Oh!" Ratlos zupfte Ivgy an einem Ohr des Wolfes. "Willst du mich fressen? Das wäre aber zu dumm!"
"Ha. Für dich wohl, für mich wäre es ein Glückstag! Du solltest zittern vor Furcht!"
"Das glaubst du nur, weil du es noch nicht getan hast", konterte Ivgy, "aber wenn du es hättest tun wollen, dann hättest du es bereits getan, aber stattdessen sprichst du mit mir. Das macht doch keinen Sinn, wenn du mich fressen willst. Außerdem schadest du dir nur selbst, denn wenn du mich frisst, egal ob es dir bekommt, dann bist du der einzige auf der Erde, der nie und nimmer im Welcome-Home willkommen ist. Dich wird nie ein Wichtel einladen, niemals."
Trotzig schaute der Grimm auf den rotzipfeligen Kleinen. "Was geht mich das Welcome-Home an, wenigstens werde ich satt. Zittere, kleines Kerlchen, zittere!" Er riss sein Maul zu einem schaurigen Heulen auf, obwohl ihm schon ein ganz, ganz kleines bisschen das Herz weh tat.
"Warum soll ich Angst haben? Willst du riskieren, dass du Bauchschmerzen kriegst, operiert und mit Steinen gefüllt wirst? Das ist dem letzten von euch passiert, der versucht hat, eine von uns zu fressen. Ganz ungesund. Außerdem dumm. Hätte er sie ziehen lassen und die Geschenke in Ruhe verteilen, hätte sie ihm gerne Wünsche erfüllt. Das machen wir nun einmal so. Wünsche erfüllen, ist toll. Aber sie müssen von Herzen kommen, sonst hat es keinen Wert. Auch genug Futter für ein ganzes Jahr hätte er haben können, wenn er es gewollt hätte."
Futter? Ein ganzes Jahr? Ganz ohne Jagd! Schlaraffenland, welch bessere Altersversicherung konnte es für einen Wolf geben. Wenn er auch noch einen warmen Platz an einem Ofen haben könnte. Er seufzte. Außerdem war es gar nicht so unangenehm, hinter dem Ohr gekrault zu werden. Zögernd gestand er seine heimlichen Wünsche. "Aber wehe, du verrätst mich, dann fr..."
"Ach, du! Gewöhn es dir mal ab", winkte Ivgy ab. "Ich kann dich gar nicht verraten, das geht gegen die Wichtelehre, und die ist heilig. Also was ist? Du kannst mit mir ins Welcome-Home kommen, wenn du niemanden frisst. Dort gibt es für jedes Wesen den richtigen Platz und so viel gutes Essen, wie du magst."
***
Ma Mia blieb der Mund vor Überraschung stehen, als sie sah, wen der kleine Wichtel anschleppte. Sie gestikulierte mit dem Kochlöffel und schnappte nach Luft. "DEN kannst du aber nicht hier einquartieren. ALLE, aber DEN nicht!" Aufgeregt packte sie Ivgy am Arm und zog ihn mit sich in die Küche. Dort glucksten, ruckelten und kruntschten allerlei Geräte. "Weißt du denn nicht ...? Der ist doch damals ...", zischte sie und schüttelte Ivgy. Ihre rote Haube verrutschte und gab einen dicken, grauen Zopf sowie eine lange Narbe frei. "Ich möchte nicht noch einmal ..."
"Schon gut, ich pass auf, dass er keinen Unsinn macht. Der Trick ist ganz einfach, du musst ihm nur genug Essen vorsetzen. Und natürlich keine Angst haben."
"Aber das ist ..."
"Ich dachte, wir sind dazu da, alle Wesen zu beschenken."
"... der Wolf, der Grimm, der ..."
"Wo ist da bitte schön der Unterschied zu dem Feuer speienden Drachen, den Wuntraj angeschleppt hat?"
"Der hat sich eingelebt. Das ist doch was ganz anderes ..."
"Und zu dem Troll mit der dicken Keule, den Murmk Beherbergung angeboten hat?"
"Der lebt doch jetzt im Keller und arbeitet mit dem Erdfeuer."
"Und der Nachtalb, den Mirga mitgebracht hat?"
Ma Mia seufzte. Ihr kleinster Urururenkel hatte eindeutig ein zu gutes Gedächtnis für diese Diskussion. Wenn sie das Gespräch nicht bald beendeten, würde im Handumdrehen Weihnachten vor der Tür stehen und fragen, wo all die üblichen Geschenke für Groß und Klein blieben, die sie eigentlich anfertigen und verteilen sollten. Dabei kam der große, Weißbärtige nie zu ihnen ins Welcome-Home. Nur, wenn irgendwo etwas fehlte. Er würde wieder abwechselnd schluchzen und wettern, das die Wichtel alle faules Pack seien, und gar nicht verdienten an seinem Geschäft teilzuhaben. Zitternd erinnerte sie sich, wie er vor der Holzhütte aufgetaucht war, damals als sie darauf bestanden hatte, den Wolf mit nach Hause zu bringen. Alle hatten davor gewarnt, aber sie wusste es natürlich besser. Und dann hatte sie Monate damit zugebracht, nur für das gefräßige Vieh zu kochen. Die Zeit hatte ihr dann zum Schluss natürlich gefehlt. Am Schlimmsten war, dass alle Wichtel seitdem für faul gehalten werden: 'Die tun doch nichts, nur einen Monat, und den Rest des Jahres machen sie frei', hieß es im Weihnachtsbetrieb. Von Wegen! Ma Mia nahm sich damals fest vor, es allen zu zeigen. Mit der Zeit wurde sie immer besser darin, die Arbeit zu organisieren und vor allem die anderen anzutreiben. Sie ließ das Strohdach durch das magische weiße Dach austauschen, das für eine Kühlung der neu gebautenTunnel quer durch die Erde sorgte, sodass die Wichtel unbehelligt Abkürzungen nehmen konnten. Sie waren darin so gut geworden, dass manche Menschen sogar glaubten, sie könnten an mehreren Orten gleichzeitig auftauchen. Es hatte so lange gedauert, das Gerücht von der Faulheit zum Schweigen zu bringen. Alles hatte geklappt seitdem. Bis heute.
Ihr Gedankenstrom wurde dadurch unterbrochen, dass die Tür aufschwang. Eine rote Zunge schleckte quer über einen der Tische, auf dem Stollen und Gebäck abkühlten. "Hm! Köstlich! Ich glaube, dieses ist das schönste von allen Zimmern." Der Wolf fraß sich durch mehrere Bleche und blieb vor einem der Öfen stehen, in dem gerade Zimtsterne gebacken wurden. "Und so schön warm! Hier mag ich bleiben." Er sprach's, fraß noch mehr Kuchen und rollte sich vor dem Ofen zusammen.
Ivgy grinste. "Wenigstens ist er friedlich! Ma Mia, was würde Dir eigentlich Freude machen? Soll ich beim Backen helfen?"
Sie trommelten weitere Helfer zusammen und begannen Mehl, Zucker, Gewürze und Eier zu mischen, zu kneten und zu formen. Ob sie alle Leckereien rechtzeitig fertig bekommen, werden wir wohl erst an Heiligabend erfahren. Aber wenigstens wurde der Wolf satt und hat auch nie wieder versucht, einen Wichtel zu verspeisen.