"Das Glatteis war schuld", stellte das eine fest.
"War es nicht!", knurrte das andere. "Er war es! Ich bringe ihn um, ich schwör's!"
"Tust du nicht."
"Doch! Ich erschieß' ihn! Ich ziele, ziehe den Abzug und dann ..."
"Kannst du nicht." Abgeklärt kaute es an einem Heuhalm.
"Warum sollte ich das nicht können, hm?!"
"Weil du keinen Zeigefinger hast."
Helga ließ ihr Strickzeug sinken. Das war gerade ein ordentlicher Rums gewesen! Laut genug, dass sogar Wilhelmine ihn gehört hatte. Und das wollte was heißen.
Seit über 45 Jahren lebten die Frauen nun zusammen. Ihre Ehemänner waren Brüder gewesen. Sie waren viel zu früh verstorben. Geblieben war das alte Bauernhaus am Waldrand und darin, in Ermangelung einer anderen Möglichkeit, die beiden kinderlosen Schwägerinnen.
"Was wird das gewesen sein?", murmelte Wilhelmine, vermutlich zu sich selbst.
Helga antwortete trotzdem. "Ich weiß es nicht."
"Weißes Licht?!"
"Ich - weiß - es - nicht!"
Schwerfällig erhob Mina sich aus ihrem verschlissenen Ohrensessel. "Ich schaue nach."
Wilhelmine war zwar taub wie eine Nuss, aber, gemessen an ihren 75 Jahren, noch immer recht gut zu Fuß. Umso verwunderlicher war es, dass sie nicht wieder zurück in die Stube kam. Wenig enthusiastisch machte Helga sich auf, um Nachschau zu halten. Ihre Suche war schließlich in der Scheune von Erfolg gekrönt. Sie fand ihre Mitbewohnerin bewegungslos unter einem Loch im Dach stehend, das dort definitiv nicht hingehörte. Frierend zog Helga die Wollweste fester um ihren Oberkörper, mit dem Blick ungläubig einer besonders dicken Schneeflocke folgend, die durch die Lücke zu Boden taumelte. Und dann blieb ihr die Luft weg.
Nicht so sehr, wegen der Flocke. Vielmehr wegen des Kerls, auf dessen Traumkörper sie schmolz. Und von diesem war eine Menge zu sehen! Unanständig viel!
Das letzte Mal, dass Helga einen halbnackten Mann gesehen hatte, war 1982 auf dem Zelt Fest der freiwilligen Feuerwehr gewesen. Als der Bruckner Josef, im Kampf um seine Bürgerrechte anlässlich einer willkürlichen Bierpreiserhöhung, blank gezogen hatte. So hatte es jedenfalls am nächsten Tag in der Regionalzeitung gestanden.
Es könnte auch sein, dass der Sepp an jenem denkwürdigen Abend zum Opfer schlecht verarbeiteter chinesischer Konfektionsware und einer erschreckend ambitionslosen Feinrippunterhose unbekannter Herkunft geworden war, nachdem ihm jemand die Hosenträger geklaut hatte. Aber was wusste man schon.
Wenn Helga so darüber nachdachte, war das damals alles mögliche gewesen. Nur, erotisch nicht. So was von nicht. Was da allerdings zu ihren Füßen lag, dem Geruch nach sturzbetrunken und dabei wohlig schnarchend, war eine ganz andere Sache.
Schwarze Stiefel, schwarze Hose aus Leder, der Gürtel nicht mal nachlässig geschlossen. Der beißenden Kälte zum Trotz, ruhte sein makelloser Oberkörper, gänzlich entblößt, auf einem roten Mantel mit weißem Fellbesatz. Sein Fünftagebart verlieh ihm eine unverschämt kühne Ausstrahlung. Wie hingegossen lag er da, in vollkommener Schönheit. Nie war ihr ein Mann anbetungswü...
Er kotze in den Heuhaufen.
Gleichermaßen geschockt wie gefesselt, kam Helga nicht mal auf die Idee, ihm aufzuhelfen. Wenn auch leicht wackelig, schaffte er das beim zweiten Versuch sowieso alleine, grinste wie ein Lausbub und meinte, "Habt ihr Mädels auch ne' Couch, oder so?"
Beide Frauen deuteten in Richtung Stube, wohin er sich zufrieden in Bewegung setzte.
Noch immer sprachlos, schauten die Schwägerinnen ihm hinterher.
"Ich habe ihn zuerst gesehen!", proklamierte Wilhelmine nach wenigen Sekunden und sauste ihm nach.
"Klasse", maulte das eine in seinem Versteck, "mitten auf's Essen."
Das andere seufzte versonnen. "Er hat die drei G's verinnerlicht, wie kein zweiter."
"Hä? Geimpft, genesen, getestet?"
"Nö. Gefeiert, gesoffen, gekotzt."
Als die Dämmerung hereinbrach, schlummerte der schöne Unbekannte noch immer tief und fest auf der Ofenbank. Weil Wilhelmine zu sehr damit beschäftigt war, seinen Schlaf zu bewachen, bemerkte nur Helga das energische Klopfen an der Haustür. Kaum war diese geöffnet, sah sie sich einem älteren Herrn mit langem, weißem Bart gegenüber. Ihm saß ein Rotkehlchen auf der Schulter, das erschrocken auf und davon flatterte.
Er räusperte sich. "Wie ich soeben hörte, ist mein Sohn bei Ihnen zu Gast?"
"Groß, bärtig, hat mächtig einen sitzen?"
"Na ja. Er hat nicht immer ... einen Bart."
"Kommen Sie rein."
Sehr zu Wilhelmines Entsetzen und Helgas Amüsement, zog der Alte derart rabiat an der Decke, dass sein Sohn ohne Vorwarnung auf die Dielen krachte. Schon der zweite Aufprall am heutigen Tag und diesen bemerkte er. Schlagartig nüchtern! Im wahrsten Sinne des Wortes.
"Dad? Was machst du denn hier?" Leicht desorientiert schaute er sich um. "Und was, verdammt, mach' ich hier ..."
"Das frage ich mich allerdings auch!" Grimmig stemmte der Alte die Fäuste in die Seiten. "Hoch mit dir! Wir gehen!"
"Nichts da", stellte Helga klar. "Er hat das Scheunendach kaputt gemacht, das repariert er vorher noch!"
"Wie hast du das denn wieder geschafft?", wollte der Vater genervt wissen.
"Es war das Glatteis. Die konnten keinen Anlauf nehmen, der Schlitten begann zu schleudern und dann ..."
"Was ist das denn für ein Unsinn?! Du sprichst von den beiden, als wären sie Anfänger! Sie brauchen doch keinen Anlauf! Warum warst du überhaupt auf dem Boden? Entgegen meiner Anweisung?"
"Musste mal."
"Du musstest pinkeln?"
Das erklärte Helga die offene Hose. Der Rest des Gesprächs blieb ein Rätsel.
"Wenn es nur das gewesen wäre ..."
Ungehalten verpasste der Vater dem inzwischen Sitzenden einen halbherzigen Schlag auf den Hinterkopf.
Gerade wo es anfing interessant zu werden, musste Helga erneut an die Tür. So viele Gäste auf einmal hatten sie lange nicht mehr gehabt.
"Sepp?", entfuhr es ihr.
Sie hätte mit allem gerechnet. Ehrlich gesagt, der Osterhase hätte sie weniger überrascht, als Josef Bruckner es in diesem Moment tat. So viele Jahre war das schon her, seit sein Weg ihn vom Zelt Fest im Dörfchen, ins Parlament der Hauptstadt gebracht hatte.
"Wie kommst du denn zu uns rauf?" fragte sie verwundert.
"Mein Enkelkind hat mich gefahren, nur gab es schon unten an der Bundesstraße kein Weiterkommen mehr. Das letzte Stück mussten wir spazieren."
"Ja, ja. Wegen dem Glatteis", stellte Helga fest. "Habe davon gehört." Ratlos schaute sie sich um. "Wo ist denn dein Enkelkind?"
"Zwei Rehen nachgegangen, die gerade um die Ecke verschwunden sind."
"Dann komm wenigstens du mal rein."
"Hola, die Waldfee."
"Was?!" und "Wo?!" riefen Vater und Sohn gleichzeitig, beide mit entsetztem Gesichtsausdruck nach einer Möglichkeit suchend, sich zu verschanzen. Als wären Waldfeen erstens real und zweitens irre Wesen, von denen man sich in Acht nehmen müsste.
Josef riss in einer beschwichtigenden Geste seine Hände hoch. "Nur eine Redewendung."
Ähnliches war ihm kürzlich in einem Meeting mit Tierschützern passiert, als er sagte, man könne nicht den ganzen Tag die Sau raus lassen. Sichtlich erleichtert, fielen die zwei anderen auf die Eckbank.
"Josef", stellte Josef sich vor.
"Claus." Die alten Herren reichten sich die Hände. "Das ist Nick. Mein Sohn."
"Einen Schnaps?", fragte Wilhelmine in die Runde, das Tablett mit Flasche und Gläsern bereits in der Hand.
Missmutig in der Ecke unter dem Herrgottswinkel lümmelnd, war Nick gezwungen, sich an Früchtetee und Vanillekipferl zu halten, weil er im Beisein seines alten Herrn keinen Obstler bekam.
"Ich habe nichts als Ärger mit dem Jungen", machte Claus sich Luft. "Ich weiß einfach nicht, wonach er sucht! Er weiß es selbst nicht!"
"Ey, ich mag das nicht, wenn du über mich redest, als wäre ich nicht hier, Dad!"
"Und ich mag das nicht, wenn du dich benimmst wie ein Teenager! In deinem Alter! Anstatt dich endlich im Familienunternehmen einzuarbeiten und zu heiraten!"
"Ja, klar. Als wäre ich der romanische Typ."
"Du hast nur Partys, Alkohol und Frauen im Kopf!"
Nick sah unbeteiligt an die Decke.
"Es sind doch Frauen? Oder?", hakte Claus nach, nicht sicher, ob er die Antwort überhaupt hören wollte.
"Meistens schon."
Fertig mit Welt, verdrehte der Alte die Augen und kippte das nächste Gläschen auf ex.
"In welcher Branche sind Sie denn tätig?", wollte Josef interessiert wissen.
"Nun ... Logistik und Transportwesen."
Fröhliches Gekicher und reges Getrappel auf dem Gang unterbrach das Gespräch. Ein durch und durch glückliches Gesicht erschien in der Tür zur Stube, dahinter zwei Geweihe.
"Sieh nur Großvater! Es sind keine Rehe, das sind Rentiere!"
"Na, bitte!" Claus deutete auf die zwei und schaute anklagend auf seinen Sohn. "Ich sagte doch, du sollst Dancer und Prancer nehmen!"
"Sind sie das nicht?", gähnte Nick gelangweilt.
"Aber nein! Das sind Smiley und Stitch! Die sind noch in der Ausbildung!"
"Ja, sorry. Die sehen doch alle gleich aus."
"Überhaupt nicht."
Das musste dann wohl Josefs Enkelkind sein. Und es lachte noch mehr, als die beiden Tierchen, Smiley und Stitch, anfingen seine Taschen zu durchsuchen.
"Ich fürchte nur, ich habe einen Müsliriegel mit ihnen geteilt und nun werde ich sie irgendwie nicht mehr los."
"Versuch es mal mit Äpfeln", bot Helga an. "Auf der Anrichte neben der Terrassentür steht eine Schüssel voll."
Sie sahen ihm alle nach, dem Enkelkind von Josef, wie es die Rentiere begeistert in Richtung Obst lockte. Es hatte hellblonde Haare. Vorn waren sie länger und fielen frech in ein kantiges Gesicht mit auffallend geschwungenen Wimpern über ausdrucksstarken, blauen Augen. Es trug einen dunklen, kurzen Wollmantel und ein fliederfarbenes Hemd. Eine Herrenuhr und schwarzen Nagellack mit Glitzer. Männerschuhe und einen pastellrosa Schal.
Es war im Ganzen ... nicht einzuordnen.
An jedem anderen Abend wäre ihr das vielleicht seltsam vorgekommen. Heute blickte Helga in die Runde, schenkte sich einen Schnaps ein und befand, dass Josefs Enkelkind unter ihren Besuchern, wer oder was diese auch sein mochten, nicht auffiel. Kein bisschen.
Eine ganze Weile hing sie ihren Gedanken nach. Die Gespräche und das Gelächter am Tisch nahm sie nur am Rande zur Kenntnis. Wie die Tatsache, dass Nick aufgestanden war. Erst als Josef seine Hand auf ihre legte, wurde sie sich wieder der Gegenwart gewahr.
Müßig darüber zu grübeln, was hätte sein können. Wäre es möglich noch einmal von vorne anzufangen, das wusste sie in diesem Augenblick mit Gewissheit, sie würde nichts anders machen.
In der Zwischenzeit hatte Josefs Enkelkind es tatsächlich geschafft, die Rentiere mit Hilfe von Äpfeln und einigen Keksen, durch die Terrassentür nach draußen zu locken. Dort stand es, kraulte mal das eine, mal das andere am Köpfchen und schaute still nach oben.
"Bist du traurig?", fragte Nick es vorsichtig.
"Nein. Ein wenig enttäuscht, vielleicht. Ich hatte gehofft, die Sterne zu sehen. Sie leuchten so viel heller auf dem Land."
Ohne seinen Blick abzuwenden, hob der schöne Mann eine Hand, bewegte leicht die Finger und die Wolkendecke riss auf. Der Himmel glitzerte über ihnen in all seiner Pracht.
"Boah", motzte Stitch. "Er ist so ein Angeber, echt!"
"Du bist doch nur eifersüchtig."
"Ich habe es zuerst angeleckt, also gehört es mir!"
"Hat es zurückgeleckt?"
"Das geht dich gar nichts an!"
"Also ... nicht."
"Klappe!"
"Danke. Es ist wunderschön."
Unsicher wie nie zuvor, strich Nick sich eine Strähne seiner schwarzen Haare hinter das Ohr. "Du scheinst dich gar nicht über mich zu wundern."
"Du dich auch nicht über mich."
"Wenn du es möchtest, hole ich all diese Sterne herunter und lege sie dir zu Füßen", flüsterte Nick.
"Lass", schüttelte Josefs Enkelkind den Kopf. "Sie sind herrlich, genau da, wo sie sind. Atemberaubend. Vollkommen. Findest du nicht?"
"Ja. Wie du."
"Und der sagt, er ist kein Romantiker?", raunte Josef in Richtung Claus. "Von dem Burschen können wir sogar in unserem Alter noch was lernen."
"Kann sein, dass er selbst nicht weiß was er sucht. Aber ich glaube, er hat es trotzdem gerade gefunden", dachte Helga laut nach.
"Sag mal, Sepp", mischte sich nun auch Wilhelmine ein. "Dein Enkelkind ..."
Der Großvater nickte. "Es ist ein Engel."
"Na, was soll's", entschied Claus. "Was auch immer. So lange es keine Waldfee ist, soll es mir recht sein. Das sind komplett irre Wesen. Vor denen muss man sich in Acht nehmen."
Nick lächelte ihm von der Terrasse dankbar zu.
"Wo wir gerade beim Thema sind, Junge, deine Mutter sagt, du rufst sie seit Wochen nicht zurück."
Josefs Hand lag ruhig auf Helgas. Und auch nach all den Jahren, war das Gefühl noch immer warm und vertraut.
"Sepp? Was verschafft mir die Ehre in dieser tiefreligiösen Zeit?"
"Die wir lieber besinnlich im Einkaufzentrum unserer Wahl verbringen sollten?"
Sie lachte aus vollem Herzen. Wirklich verändert hatte er sich nicht. Sie sich auch nicht und er wusste das. Sie hatte nie die Welt verändern wollen. Ihr waren die kleinen Dinge wichtig gewesen. Das Zusammensein. Die Freude und die Liebe. Damals wie heute. Bis zu einem gewissen Grad, da war sie sich sicher, waren Glück und Zufriedenheit eine bewusste Entscheidung. Wie in diesem Moment. Sie drückte seine Hand und nahm sich einen Keks.
"Josef?"
"Helga?"
"Willst du deine Hosenträger zurück?"
"Wääääh. Ich kündige!"
"Alter!" Smiley drehte auf den vereisten Terrassenfliesen eine weitere Pirouette. "Ich finde es einfach nur zauberhaft!"
"Zau-ber-haft?! Niemand sollte so ein Wort benutzen! Ich gebe Bruce Darnell die Schuld! So viel Glühwein gibt es gar nicht, dass ich hier irgendwas zau-ber-haft finden könnte!!!"
Das fröhliche Rentier stoppte gerade noch so, wenige Millimeter vor seinem grummeligen Artgenossen. "Challenge accepted!"
ENDE