Das 7. Türchen im Adventskalender, betreut durch Riley Mcforest:
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Vielen Dank, dass ich dabei sein darf!
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Deswegen war sie nicht nach Skansen gekommen! Nicht um zu sehen, wie alle Leute Arm in Arm und Hand in Hand gingen. Obwohl sie es sich hätte denken können: Skansen an einem Freitagabend - einem warmen, spätsommerlichen Freitagabend noch dazu!
Sie war durch den ganzen Park gelaufen, der halb Freilichtmuseum und halb Tierpark war, hatte mit ein paar Katzenkindern gespielt, an einem nachgebauten Mühlteich gesessen, den Blick auf Stockholm bewundert und im Aussichtsturm Tee getrunken. Dann war sie von ein paar älteren Frauen angesprochen worden, und sie würde nie erfahren weswegen, weil sie immer noch nicht genug Schwedisch konnte. Die Omas hatten gelächelt, ihren Arm getätschelt und waren weitergegangen. Da hatte sie gewusst, dass die dunkle Wolke noch da war, von der sie sich eigentlich hatte ablenken wollen: Sie war allein und hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte.
Aber es ging nicht an, dass sie gerade jetzt den Mut verlor. Sie war fest entschlossen, sich dieser trüben Stimmung nicht hinzugeben, nicht schon heute, an ihrem ersten Abend in Stockholm. Denn im Grunde war es doch gar nicht so schlecht gelaufen. Sie war gut über den Sommer gekommen mit ihren Jobs in Skåne und auf Öland. Jetzt war die Saison allerdings zu Ende. Und Reitunterricht für Anfänger und Voltigieren waren eigentlich sowieso nicht ganz das, was sie sich vorgestellt hatte... Sie hatte geglaubt, Schweden sei ein gutes Land für Reitlehrer, Schwerpunkt Westernreiten - aus irgendeinem Grund hatte sie das geglaubt. Schön blöd; Golflehrer waren allemal gefragter. Und plötzlich war der Sommer um, und sie stand da ohne Job, unsicher, ob ein letzter Großangriff auf die Gestüte Mittelschwedens der Mühe wert war - oder ob... - ob sie aufgeben sollte...
Aber nein, Schluss! So weit war es noch nicht!
Sie schaute auf die Uhr. Halb acht durch. Der Park leerte sich. Jeder ging irgendwohin. Sie seufzte. Vielleicht sollte sie einfach nur ins Kino gehen.
Auf dem Weg zum Ausgang kam sie am Galejan-Theater vorbei, einer überdachten Bühne mit Tanzfläche. Dort spielte eine Kapelle zum Tanz auf. Sie ließ sich von der Musik anlocken und schlenderte auf den Platz. Es war voll, aber es gab kein Gedränge - außer auf der Tanzfläche. Die Musik gefiel ihr; sie hatte es zunächst für Volksmusik gehalten, aber es war doch etwas anderes. Das Kino konnte warten. Sie suchte sich einen Platz und ließ sich schließlich auf den Rand eines Blumenkübels nieder.
Sie war auf eine rein schwedische Veranstaltung geraten. Die Leute tanzten, lachten, unterhielten sich, aßen und tranken, und sie war vermutlich die Einzige hier, die kein Wort verstand von dem, was der Mann mit dem Akkordeon auf der Bühne ansagte. Sie musste sich wohl überraschen lassen. Die Musik wurde jazziger. Die Sonne ging gerade unter und vergoldete den ganzen Platz, während die Bäume ringsum bereits dunkel waren. Ihr Blick blieb für einen Moment an einem Mann hängen, der allein in der Menge stand, einen Plastikbecher mit Bier in der Hand. Komisch, dachte sie unwillkürlich, wer kommt denn allein hierher? Dann fiel ihr auf, was sie gedacht hatte. Sie wandte sich ab.
Nach einer Weile schaute sie wieder zu dem Mann hinüber. Er gefiel ihr nicht besonders – vielleicht Anfang dreißig, aber die Haare schon recht dünn, und blond noch dazu. Immerhin war er klug genug, sie kurzgeschnitten zu tragen. Ein typisches Schwedengesicht: kleine Augen mit reichlich Fleisch drumherum. Er trank aus seinem Becher und sah sie plötzlich an. Hastig drehte sie den Kopf weg.
Das fehlte noch, dachte sie, dass irgend so einer sich angemacht fühlt. Vorsichtig schielte sie hinüber; er sah sie noch immer an. Sie biss sich auf die Lippen und versuchte, sich auf die Musik zu konzentrieren. Die hatte ohnehin bereits von einem guten Teil ihres Körpers Besitz ergriffen; sie wiegte sich leicht im Takt. Die Band war wieder zu volkstümlicheren Klängen zurückgekehrt, zu schwungvollen Tänzen, verspielt und elegant arrangiert. Die Musiker schwelgten in ihren Melodien, und sie erkannte in der sanften Heiterkeit problemlos das Land wieder, das sie in den vergangenen Monaten lieben gelernt hatte. Zum Glück war die Stimmung so fröhlich, sie hätte sonst bestimmt geheult!
Als sie sich wieder einmal umsah, dachte sie zunächst, der Mann sei verschwunden, aber dann entdeckte sie ihn doch, ein paar Meter weiter hinten. Er zog sich gerade seinen Pullover fester um die Schultern; die Sonne war fort, es wurde kühl. Er blickte auf, direkt in ihre Augen, und sie dachte plötzlich, warum eigentlich nicht? - Sie hielt den Blick einen Augenblick fest und schaute dann zur Seite. Warum sollte sie nicht was für ihr Selbstwertgefühl tun? Und für seins, er sah auch ein bisschen traurig aus. Ein harmloser Flirt, mehr sollte es ja gar nicht sein... Um dem Abend einen kleinen Kick zu geben und die dunkle Wolke zu verscheuchen.
Sie setzte sich ein wenig aufrechter hin und folgte der Musik mit gesteigerter Aufmerksamkeit. Als sie das nächste Mal zu ihm hinüber blickte, sah er ein wenig ungläubig aus, als zweifele er an - ja, an was eigentlich? Sie hätte fast gelächelt, aber ein Lächeln zu diesem Zeitpunkt hätte alles verdorben. Bis zu einem Lächeln sollte es eigentlich überhaupt nicht gehen.
Jedes Mal, wenn sie in der folgenden Stunde den Blick wie zufällig über die Zuschauer gleiten ließ, sah der Mann zu ihr her. Manchmal streiften ihre Augen ihn nur, manchmal sah sie ihn auch ein wenig länger an. Es funktionierte. Von Minute zu Minute verbesserte sich ihre Laune. Sie fühlte sich längst nicht mehr so fremd und allein, und was noch fehlte, erledigten die Musiker, indem sie eine friedlich-heimelige Stimmung auf den Platz unter den hunderten von Glühlampen zauberten.
Während der Pause befürchtete sie, dass der Mann sich bemüßigt fühlen könnte, sie anzusprechen. Das wollte sie vermeiden, und so holte sie sich vom anderen Ende des Platzes etwas zu trinken und schob sich erst wieder auf ihren Blumenkübel, als die Musiker bereits auf der Bühne waren. Sie stellte mit Genugtuung fest, dass er sich einen Platz weiter vorn gesucht hatte; jetzt konnte er sie besser sehen, und sie brauchte sich auch nicht mehr den Hals zu verrenken. Sie nahm's zur Kenntnis und wandte den Blick ab. Kein Grund, es ihm einfach zu machen. Schon beim zweiten Stück lief alles wieder wie von selbst. Es störte sie überhaupt nicht mehr, dass sie nichts verstand, im Gegenteil: dies war die beste Gesellschaft, die sie sich wünschen konnte. Ort, Zeit, Musik und das hauchdünne unsichtbare Band, das sie mit diesem Unbekannten verknüpfte, verschmolzen zu einem wohligen Gefühl, das sie genoss wie schon lange nichts mehr. Sie lächelte - wenn sie nicht gerade zu ihm hinsah.
Als sie schon dachte, das Konzert neige sich dem Ende zu, betrat ein Sänger die Bühne. Er wurde mit großem Beifall begrüßt. Ein bekannter Mann also. Er sang ein paar Volkslieder, in die die Menge begeistert einstimmte, singend, pfeifend, tanzend. Sie fand das alles hinreißend und klatschte mit, wohl wissend, dass sie selber hinreißender wurde, je hingerissener sie war. Dann stimmte der Sänger "Moon River" an, und das Publikum verstummte. So ein sentimentales Volk, diese Schweden! Alle lauschten andächtig diesem sehnsüchtig-herben Lied, und plötzlich fand sie gar nichts mehr dabei, ihren fremden Freund anzuschauen und ihm ihr langsamstes und intensivstes Lächeln zu schenken. "We're after the same rainbow's end," sang der Sänger, während sie lächelte. "Waiting 'round the bend," und sie lächelte noch immer. Bei "my Huckleberry friend" senkte sie langsam die Augen, und als sie sie wieder hob, war ihr Gesicht der Bühne zugekehrt. Sie applaudierte mit den anderen und beglückwünschte sich zu diesem Effekt. Er hatte bestimmt weiche Knie bekommen. Was für ein Timing! Ein perfekter Moment.
Langsam ging der Abend zu Ende. Sie sah noch einige Male flüchtig zu ihrem blonden und im Grunde gar nicht so unattraktiven - nun ja: Mitspieler hinüber, ohne jedoch von ihm Notiz zu nehmen. Nach der letzten Zugabe wanderte sie im Strom der anderen zum Ausgang, und als sie sah, dass er dort stand und sie direkt an ihm vorbeigehen musste, holte sie ihr Handy aus der Tasche und begann, aufgeregt hineinzusprechen. Sie verließ den Park, ohne den Mann eines weiteren Blickes zu würdigen. Draußen ergatterte sie wie durch ein Wunder ein Taxi und brauste davon. Sie würde keinen weiteren Gedanken an ihn verschwenden. Ihr Gleichgewicht war wieder hergestellt. Sie konnte die nähere Zukunft in Angriff nehmen.
Am nächsten Tag schlenderte sie durch die rappelvollen Einkaufsstraßen am Bahnhof und aß ein Eis. Das Eis war die Belohnung dafür, dass sie so fleißig gewesen war - sie hatte fünfzehn Adressen von Gestüten und Reiterhöfen in Mittelschweden herausgesucht, die vielversprechendsten, die das WorldWideWeb hergab. Dazu hatte sie knapp zwei Stunden in dieser Kellerbude, die ein Internet-Café war, gehockt - und ohne die Hilfe einer Dreizehnjährigen, die ihr beim Schwedischlesen hatte helfen müssen, säße sie da immer noch. Jetzt chattete das Mädchen auf ihre Kosten mit Gott weiß wem, und sie genoss ihr Walnusseis. Sie konnte zufrieden sein mit ihrer Ausbeute. Als nächstes würde sie einen Schlachtplan machen und sich auf der Karte die Lage der Höfe ansehen, um eine Route festzulegen, auf der sie sie abklappern würde. Montag würde sie dann versuchen, ein paar Termine zu machen und sich dann so langsam auf den Patt machen... Das Schokoladeneis war auch extrem lecker... Irgendwie ist doch alles wieder ins Lot gekommen, dachte sie und blieb vor dem Schaufenster eines Plattenladens stehen.
Ein Plakat hatte ihre Aufmerksamkeit erregt - es war die Band, die sie gestern gehört hatte. Dass der Typ mit dem Akkordeon einer von den ABBAs war, war ihr gar nicht aufgefallen! Witzig! Sie hatte ein Viertel ABBA gesehen! Wo sie ABBA doch immer so ätzend gefunden hatte! Interessiert betrachtete sie die Auslage. Einen Moment lang fand sie die CD verlockend - aber erstens hatte sie keine Gelegenheit, sie zu hören, und zweitens war's vielleicht auch besser, wenn sie ihre Kohle noch ein bisschen zusammenhielt. Obwohl es ein schönes Souvenir gewesen wäre... Sie seufzte und wandte sich ab. Um ein Haar hätte sie dem Menschen, der gerade aus dem Laden trat, beim Umdrehen ihr Eis vor die Brust geklatscht. Erschrocken machte sie einen Satz rückwärts und setzte zu einem entschuldigenden Grinsen an.
Dann stand die Welt still. Sie war verwirrt. Es kam ihr vor, als müsste sie den Mann kennen, der hier vor ihr stand. Als ihr klar wurde, dass es ihr armes Opfer von gestern Abend war, schoss ihr das Blut ins Gesicht. Sie schluckte. Ihr Blick fiel auf die CD in seinen Händen, die er offenbar gerade gekauft hatte - die von gestern Abend, womit endgültig jeder Zweifel beseitigt war. Das Grinsen war ihr vergangen. Auch in seinem Gesicht sah sie hauptsächlich Verwirrung. Auf einmal hatte sie das Gefühl, schon seit Stunden hier zu stehen und ihn anzustarren, und als er dann auch noch den Mund öffnete, um etwas zu sagen, setzte endlich ihr Fluchtreflex ein. Sie schüttelte den Kopf, murmelte eine Entschuldigung und ging eilig an ihm vorbei die Straße hinunter.
Wie peinlich! dachte sie. Wie unglaublich peinlich! Er hatte sie zweifellos wiedererkannt. Wie blöd! Das hätte ja nun wirklich nicht sein müssen! Bloß weg von ihm! Das eine Mal, dass sie so was machte - da musste sie natürlich gleich für bestraft werden... Wie peinlich - und wie dämlich, dass sie nicht souveräner gewesen war! Doppelt peinlich sogar: gestern war sie unfair gewesen und heute uncool! - Sie war schon um ein paar Ecken gebogen, als sie endlich stehen blieb und sich umschaute. Er war nicht zu sehen. Sie konnte sich langsam wieder einkriegen. Peinlich, oberpeinlich! war aber immer noch alles, was sie denken konnte.
Die Sache beschäftigte sie noch eine ganze Weile. Irgendwie geschieht es mir recht, dachte sie. Sie hatte sich gestern nicht gut benommen. Der Flirt war okay gewesen, aber sie war ein bisschen zu weit gegangen, um sich dann doof zu stellen. Und alles nur, damit sie sich besser fühlte! Da sie nicht wirklich an ihm interessiert gewesen war, hätte sie es nicht so drauf ankommen lassen dürfen. Was heißt eigentlich "interessiert gewesen"? dachte sie. Sie war immer noch nicht interessiert, auch wenn er wirklich gut aussah, aus der Nähe. Ein nettes Gesicht hatte er allemal. In einem anderen Leben hätte sie es sich vielleicht noch einmal überlegt. Aber hier und jetzt - nein. Und schon gar nicht mit dieser Vorgeschichte. Nein. Viel zu peinlich!
Wenn sie einer gefragt hätte, warum sie den Rest des Tages mit einem ausgesprochenen Touristenprogramm vollpackte, wäre sie um eine Antwort durchaus verlegen gewesen. Sie mochte es sich selber kaum eingestehen, aber Stockholm war ihr ein wenig unheimlich geworden. Sie wollte um keinen Preis diesem Mann noch einmal über den Weg laufen. Also machte sie erstmal eine Stadtrundfahrt mit dem Boot und ging dann ins Vasamuseum, wo sie mehrere Stunden damit verbrachte, das in schummrigem Licht inszenierte Schiff zu bestaunen, das einmal der Stolz der schwedischen Marine hätte werden sollen. Alles nur, um nicht diesem Mann zu begegnen. Sie wusste, das Zusammentreffen heute Mittag war nichts als ein dummer Zufall gewesen. Sie verstand selbst nicht, wieso die Sache sie so aufregte. Aber sie war angespannt, den ganzen Tag lang, und musterte wachsam jeden, der ihren Weg kreuzte und nicht eindeutig Asiate oder Afrikaner oder weiblich war, um notfalls rechtzeitig die Kurve kratzen zu können. Als das Vasamuseum sie jedoch am späten Nachmittag wieder ins Sonnenlicht entließ, hatte sie sich wieder im Griff. Stockholm war groß. Er konnte nicht überall sein. Und, hey, sie war cool!
Sie bummelte durch die Stadt. Wäre doch schade, dachte sie, wenn man nichts davon sehen würde, bloß wegen eines Kerls, von dem man nicht mal was will. Sie fand, dass Stockholm ganz und gar nicht der Vorstellung entsprach, die man sich von einer skandinavischen Hauptstadt machte. Es leuchtete im Sonnenschein mit dem Wasser um die Wette, und der Platz vor dem Schloss, schrieb sie auf eine Postkarte nach Hause, war auf eine schwedische Art italienisch. Sie wusste selber nicht, wie sie das genau meinte, aber die Mahner und Zweifler in Tyskland sollten ruhig wissen, dass es ihr gut ging, und dass sie vorläufig noch nicht ans Heimkommen dachte.
Dann wandte sie sich der Altstadt zu. Das Gassengewirr begann gleich hinter dem Schloss, und es dauerte nicht lange, bis sie nur noch eine ganz vage Vorstellung davon hatte, wo sie sich befand. Manche Gassen waren belebt, mit Cafés und Läden und Touristen voll, und manche waren so leer und still, dass sie dachte, es müsste ein Traum sein, hier zu leben, praktisch abseits der Zeit. In einer der engen Gassen hatte ein Haus verspiegelte Fensterläden, damit die Bewohner überhaupt etwas Licht in ihre Zimmer bekamen. Sie stand nachdenklich davor. Viel Licht, viel Schatten. Vielleicht war es doch kein Traum, hier zu wohnen. Ob es teuer war? Es war wirklich schwer zu sagen. Stellenweise bestimmt. Sie war gerade an so einer Stelle, die extrem teuer aussah, einem kleinen Platz mit zwei, drei Cafés. Alle Tische waren besetzt, aber die Menschen machten eine angenehme, gedämpfte Art von Lärm - eher ein Gemurmel, das die Atmosphäre der Häuser nicht störte, sondern unterstrich. Da fiel das Taxi schon mehr auf, das soeben vor einem Haus losgefahren war und jetzt schon wieder anhielt und irgendein Problem zu haben schien. Es hupte sogar und zog damit alle Aufmerksamkeit auf sich.
Sie blieb ebenfalls stehen. Direkt vor dem Auto saß eine Taube auf der Straße. Sie pickte an irgendetwas herum und ließ sich absolut nicht stören. Der Taxifahrer stieg aus und jagte sie weg, aber als er wieder hinter dem Steuer saß, war auch die Taube wieder an ihrem Platz. Nach dem zweiten Versuch spätestens rechnete sie damit, dass er das Tier jetzt wohl überfahren würde, aber der Mann war zu so einer Rohheit offensichtlich nicht im Stande. Er hing halb aus der offenen Fahrertür und machte scheuchende Bewegungen mit seinem freien Arm, bereit, sofort aufs Gas zu gehen, wenn die Taube das Feld räumte. Sie beobachtete das Schauspiel eine Weile, zusammen mit den Gästen an den Cafétischen, aber dann entschied sie, dass dem Mann geholfen werden musste. Sie überquerte die Gasse, ging auf den Wagen zu und bedeutete dem Fahrer, er solle sich hinter das Lenkrad setzen. Dann näherte sie sich der Taube; ein angedeuteter Tritt genügte, und das Tier flatterte von dannen. Ein paar Leute an den Tischen applaudierten. Sie knickste kokett, winkte dem Fahrer zu und war schon im Weggehen, als das Taxi noch einmal stoppte. Jemand war ausgestiegen, der Fahrgast. Er rief ihr etwas zu. Fragte etwas, dem Tonfall nach. Schwedisch, sie verstand kein Wort. Es war der Mann von gestern Abend. Von heute Mittag. Er wiederholte seine Frage und machte ein, zwei Schritte auf sie zu. Sie sah ihn wie durch ein Fernglas, jedes Detail, aber es kam ihr nicht vor, als ob es sie etwas anginge. Eine junge Frau von einem der Cafétische schaltete sich ein. "Er fragt, ob er dich irgendwohin mitnehmen kann," sagte sie auf Englisch. "Danke," stammelte sie, ebenfalls auf Englisch, der Frau zugewandt. "Nein danke. Vielen Dank." Die Frau rief etwas zurück. Der Mann zuckte die Achseln und stieg wieder ins Auto. "Alles in Ordnung," murmelte sie, während das Taxi um die Ecke verschwand. "Alles cool."
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"Moon River" antwortete sie, als Per sie fragte, wie das Fohlen heißen sollte. Die Stute hieß Morita, und das schwarze Pferdekind würde zu einem Schimmel heranwachsen. Per nickte: Moon River ging in Ordnung. Sie sahen zu, wie Morita ihren zehn Minuten alten Sohn sauberleckte, während das Fohlen schon auf wackeligen Beinen in der Box herumstakste. Sie hielt ihm die Hand hin und es saugte versuchsweise an ihrem Finger. Sie lachten. Dann gab Per dem Pfleger noch ein paar Anweisungen, sie verließen den Stall, verabschiedeten den Tierarzt und gingen zum Haus. In dieser klirrend kalten Dezembernacht war es heller als an manch einem verhangenen schwedischen Wintertag. Der Mond war fast voll, und der Schnee und der zugefrorene See reflektierten sein Licht. "Ein guter Name, Moon River, sagte Per, als sie sich in der Halle trennten. Sie lächelte und wünschte ihm eine gute Nacht.
In ihrem Zimmer trat sie noch einmal ans Fenster. Wer hätte das vor vier Monaten gedacht, dass sie heute hier sein würde, zufrieden mit der Welt wie selten zuvor? Vor vier Monaten hatte sie noch auf sehr dünnem Eis gestanden - sie brauchte nur an ihre unglückselige Flucht aus Stockholm denken, um zu wissen, wie dünn. Dann aber war sie praktisch wie auf Schienen hierher gefahren - dies hier war der erste Hof, den sie angesteuert hatte - und vom ersten Moment an war klar gewesen, dass sie und Per dieselbe Wellenlänge hatten. Per war ihr Boss, er leitete das Gestüt; es gehörte ihm zusammen mit seinem jüngeren Bruder, aber der war Anwalt und ließ sich nie hier blicken. Per trug indes nicht schwer an der Verantwortung; er hatte Pläne, er wollte etwas Neues ausprobieren, Westernreitkurse anbieten, er war voll auf dem Trip, und sie kam genau richtig, um die Sache für ihn umzusetzen. Sie hatte sich in die Arbeit gestürzt. Genau wie ein paar andere Angestellte hatte sie ein Zimmer im Gutshaus bekommen. Sie hatte sich sich im Nu eingewöhnt. Es ist, dachte sie, wie im Märchen. Sie fühlte sich so wohl, dass sie nicht mal über Weihnachten nach Hause fahren wollte. Schweden, dachte sie, als sie sich in ihr Bett kuschelte, hat wirklich alles richtig gemacht mit mir. Habe ich das wirklich verdient?
Eine Sache gab es da nämlich, die ihr immer dann einfiel, wenn etwas besonders schön war. So wie vorhin, als das Fohlen geboren wurde. Sie konnte, so sehr sie sich auch bemühte, den Mann nicht vergessen, den sie in Stockholm - nun ja: nicht kennen gelernt hatte. Es war wie verhext - je besser es ihr hier ging, um so mehr fühlte sie, dass sie in der Stadt etwas Wichtiges zurückgelassen hatte, einen Fehler gemacht, eine Chance verpasst hatte. Sie kam sich ganz klein und armselig vor, wenn sie an ihn dachte. Sie wollte nicht selbstmitleidig sein, aber sie hasste es, wie die Sache gelaufen war. Wie schlecht sie draufgewesen sein musste, um das so passieren zu lassen! Wie neurotisch, paranoid, neben sich. Es war erschreckend! Schauderhaft! Blöd, dass sie die Zeit nicht zurückdrehen konnte. Aber sie hatte drei Chancen gehabt. Vier Chancen - das gab's nicht mal im Märchen. Was für eine verdrehte Tussi sie gewesen war, die nicht gewusst hatte, was sie wollte. Sie hasste sich selbst in ihrem damaligen Aggregatzustand. Es würde wohl noch einige Nächte geben, in denen sie dieses Problem wachhalten würde... Sie lenkte ihre Gedanken zurück zu dem neuen Pferdekind und voraus auf das Weihnachtsfest, sie zwang sich regelrecht dazu, und über dieser Anstrengung schlief sie ein.
Am Weihnachtsabend hatte Per Freunde eingeladen, zwanzig Leute wimmelten im Haus herum. Sie kochten gemeinsam ein großes Festmahl, und als sie mit Essen fertig waren, spannten sie die Pferde vor die Schlitten und fuhren am See entlang. Sie tobten herum, spielten Fangen und bewarfen sich mit Schnee. Es war bitterkalt und sternklar, und der Fackelschein und der Vodka machten alles so unwirklich, dass sie sich allesamt benahmen wie Kinder. Sie trieben die Pferde im Galopp durch den Schnee, fielen von den Schlitten, schrien, lachten, rappelten sich wieder auf, und jagten weiter. Es war lange nach Mitternacht, als sie völlig abgekämpft zum Haus zurückkehrten.
Sie war die Nüchternste von allen, also versorgte sie die Pferde. Als sie sicher war, dass die Tiere alles hatten, was sie brauchten, ging auch sie ins Haus. Im Wohnzimmer hatte die Stimmung inzwischen einen weiteren Höhepunkt erreicht. Während sie ihre Stiefel auszog und sich den Schnee aus den Klamotten klopfte, hörte sie, wie Hochrufe ausgebracht wurden. Ihr Schwedisch war besser geworden; die Rufe galten dem Weihnachtsmann. Sie grinste kopfschüttelnd. Völlig ausgeflippt, dachte sie.
Als sie das Zimmer betrat, traf die Wärme sie wie ein Schlag. Für einen Augenblick fühlte sie sich benommen. Ihr Gesicht begann zu glühen. Dann sah sie, dass der Weihnachtsmann tatsächlich gekommen war. Er stand hinter dem Tisch, komplett mit Mütze und Bart, schenkte Punsch aus und ließ sich feiern. Per, dachte sie im ersten Moment, aber dann sah sie Per inmitten der anderen stehen, mit einem Glas Punsch in der Hand.
Per hatte sie auch gesehen. Er hob die Hand und winkte sie heran. Gleichzeitig schrie er nach Ruhe. Oh Gott, dachte sie, jetzt kommt's, jetzt werde ich dem Weihnachtsmann vorgestellt. Die anderen hatten Platz gemacht, und als sie vor dem Tisch stand, legte Per den Arm um sie und sagte, "Lieber Weihnachtsmann, dieses Kind war besonders artig, viel artiger als wir. Deshalb hat es auch noch keinen Punsch. Gib ihm ein Glas Punsch." Per lallte schon ein bisschen. Der Weihnachtsmann zögerte kurz, aber dann gehorchte er. Er war wohl auch schon nicht mehr nüchtern; seine Hand zitterte. Sie nahm das Glas und sagte artig danke. Per fuhr fort, "Und jetzt sag hallo zu deinem anderen Chef ."
"Dem Weihnachtsmann?" fragte sie.
"Genau. Der Weihnachtsmann ist mein Bruder," sagte Per.
Sie sah den Weihnachtsmann neugierig an. Er lächelte hinter seinem Bart. Plötzlich schwankte der Boden unter ihren Füßen, und der Weihnachtsmann aus Stockholm sagte, "Ich glaube, wir kennen uns schon."