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Nach dem Prompt „Lederschildkröte“ der Gruppe „Crikey!“
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Manchmal träumte die Gefangene noch von ihrer Heimat. Die Zelle hatte ihr so vieles genommen. Die Erinnerung an ihre Eltern oder Freunde, an ihren Namen - doch die Träume waren geblieben.
Im Schlaf sah sie weiße Strände und Wiesen mit Olivenhainen, hörte die Worte einer nahezu vergessenen Sprache.
"Sie sind mysteriöse Tiere."
Ein graues Wesen in den Wellen vor ihr. Eine Schildkröte, jedoch mit einem glatten, lederartigen Hautpanzer. So groß wie ihre Hand, wollte das Tier in die Fluten. Doch die Träumerin fürchtete um das Tier, sah besorgt zu den Möwen im Himmel.
"Du musst sie gehen lassen."
Zum Ursprung der Stimme konnte sie sich nicht umdrehen. So blieb das Gesicht zu der Stimme verloren. Sie konnte nicht einmal bestimmen, ob es ein Mann oder eine Frau war.
Was blieb, war ein unbenanntes Gefühl. Zugehörigkeit, Geborgenheit. Familie. Worte, die in der wachen Welt jede Bedeutung verloren hatten.
"Hörst du? Du kannst sie nicht für immer beschützen. Jedes Leben muss einmal enden. Wir können immer nur eine Weile herausschlagen. Tage. Wochen. Monate. Manchmal sind es Jahre. Aber jedes Leben endet. Das ist der Lauf der Welt." Sanfte Finger an ihrer Hand. "Also lass los. Es ist okay. Wir müssen das Schicksal respektieren."
Die kleine Schildkröte in ihrer Hand. Ein dunkles Tier mit langen Flossen, den Kopf neugierig erhoben.
"Ich will nicht, dass sie stirbt." Ihre eigene Stimme, außerhalb der Träume nur noch ein trockenes Krächzen. Im Traum jung und weich. Sie strich mit Fingern, die noch nicht von Fesseln gezeichnet waren, über den Kopf der kleinen Schildkröte. Darauf ein blassrosa Punkt, der mit dem dunklen Strich aussah wie ein Kompass mit einer Nadel.
"Ich weiß. Und es ist gut, wenn du schützen willst, wenn du Trauer um ein anderes Wesen empfindest. Doch die kleine Schildkröte wird in Gefangenschaft nicht glücklich sein. Schenke ihr die Freiheit, mit aller Gefahr."
Zögerlich streckten sich ihre Finger. Die Schildkröte robbte los. Bangen Herzens sah sie ihr nach, der kleinen Kompass-Schildkröte.
Tod. Schicksal. Wie lange hoffte sie in dem Kerker schon, dass das Leben enden würde? Doch Elfen lebten lang. Unendlich, wenn sie Pech hatten.
Heute verstand sie das große Geschenk der Freiheit. Damals hatte sie nichts als Angst empfunden.
Doch wie durch ein Wunder entging die kleine Schildkröte den Angriffen der hungrigen Seevögel. Das kleine Mädchen damals jubelte. Später erfuhr sie von anderen Gefahren der See. Von Raubfischen und Haien und allerlei anderem, das Jagd auf kleine Schildkröten machten, sodass sie niemals die beeindruckende Größe ihrer Eltern erreichen konnten.
Sie hätte die Vögel vertreiben können, aber vielleicht wäre es nur ein kurzer Aufschub gewesen. Außerdem, das lernte sie später, mussten auch Möwen und Raubfische und alle anderen essen. Es stand ihnen nicht zu, ein Leben über das andere zu stellen.
Der Besitzer der mysteriösen Stimme wusste das. Langsam war sie sich sicher, dass es ein Mann war. Er war ein Heiler, der beste seines Fachs.
Oder war auch das nur ein Traum? Langsam fiel es der Gefangenen schwer, Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden.
Schlimmer wurde es, als der Lärm begann. Eine Kakofonie aus Bersten und Krachen. Schüsse. War da nicht die ferne Erinnerung an ein anderes Leben? Weckte der Duft nach Pulverrauch nicht eine schwache Ahnung der Elfe, die sie einst gewesen war?
Ein anderes Leben. Eine Jagd nach Verbrechern. Ein verlorener Kampf.
Damals war sie in die Zelle gekommen. Ja, so musste es gewesen sein.
Oder war das ein Traum gewesen? War sie die Verbrecherin, von den Ordnungshütern gefangen worden?
Das blendende Licht einer Explosion stach in ihre Augen. In ihrem Ohr dröhnte das Echo wie ein ferner Schrei. Schmerz, schon längst zur Gewohnheit geworden, und doch anders.
Das Gitter war fort. Was für ein ungewohnter Anblick! Als wäre ihre Nase fort, die sie sonst immer im Blickfeld hatte. Sie fühlte sich ungeschützt, allein. Die Welt war zu grell, aus den Fugen, denn die schiefen, vertrauten Rohre waren fort.
Lärm. Feuer. Verständnislos krabbelte sie zur Dunkelheit. Hielt erst inne, als ihre Hände in kaltes Wasser trafen, als sie salzigen Schaum auf den Lippen schmeckte.
Ihr trüber Blick wanderte über die Küstenlinie. Kein vertrauter Stein. Fremde Pflanzen. Ein Land, so unbekannt, dass es auch ein fremder Planet sein könnte. Eine andere Welt.
Sie brach im Wasser zusammen, den Kopf zur Seite gekehrt, sodass sie noch atmen konnte. Eine ganze Weile trieb sie dahin, von den Wellen gewogen.
Erst als sie aufwachte, wurde ihr bewusst, dass sie frei war. Durst brachte ihre Sinne zusammen, fokussierte sie auf ein Ziel. Den Strand hinauf rauchte die Ruine ihres Gefängnisses. Brennende Schiffe am Kai. Eine vernichtete Welt. Eine gesprengte Fessel.
Sie schleppte sich den Strand entlang, dann in den Wald. Ihre Ohren vernahmen das Plätschern von Wasser aus einer Entfernung, die sich ewig zu strecken schien. Endlich fand sie es, trank, wunderte sich, dass Wasser so frisch und vollmundig und süß schmecken konnte. Wunderte sich zugleich, dass sie das trockene Brot und fahle Wasser ihrer Zelle vermisste, die Vertrautheit.
Sie schüttelte den Kopf. Nein! Sie war frei. Die Unsicherheit, die Gefahr, das gehörte dazu. Keine Routine mehr, keine eintönige Ewigkeit.
Freiheit. Gefahr. Schicksal.
Das war Leben. Sie war dem Tod ausgeliefert, doch ihm zugleich entkommen. Denn was war Tod, wahrer Tod, anderes als Stillstand?
Hier draußen würde sie, selbst wenn sie nicht überlebte, als Mahlzeit etwas anderem dienen. Als Tier oder Pflanze weiter existieren. Keine Energie ging jemals verloren. Plötzlich erinnerte sie sich an diese Weisheit.
Es blieb nicht das letzte, was zurückkehrte. Sie erinnerte sich an Früchte und dass man sie essen konnte. Sie erinnerte sich an das Angeln. Sie erinnerte sich an Schiffe und Navigation, und daran, dass die Sterne sie heimführen könnten. Nur kannte sie keines der Sternbilder über sich.
Nach einigen Tagen, in denen sie langsam zu ihrer Kraft zurückfand, sah sie ein großes Tier am Strand. Eine Schildkröte, so lang wie sie, die sich im Sand ausruhte. Der Panzer war lederartig, nicht aus verhärteten Knochenstückchen.
Langsam ging sie näher. Das Tier hob den Kopf. Darauf ein blassrosa Fleck, wie in ihrem Traum.
"Kompass", flüsterte sie und ging vor der Schildkröte in die Knie.
Mit dunklen Augen blickte das Tier sie an. Stieß sanft den großen Kopf gegen ihre Hand.
Sie folgte der Schildkröte ins Meer. Umfasste den stabilen, doch weichen Panzer, ließ sich in die Fluten zerren.
Sie hatte gelernt, dem Schicksal zu folgen. Sich treiben zu lassen. Man konnte nicht alles bestimmen. Es lag Weisheit darin, das Schicksal anzunehmen.
Sie musste fort, das wusste sie. Die Unbekannten, welche das Gefängnis niedergebrannt hatten, waren nicht ihre Verbündeten gewesen, nur zufällig die Feinde ihrer Feinde. Sie war hier nicht sicher. Also musste sie, um auf Aufschub zu hoffen, ein anderes Risiko eingehen.
Die Schildkröte tauchte manchmal ab, manchmal auch für Stunden. Doch zuverlässig kehrte sie an die Seite der Befreiten zurück. Manchmal mit Algen um den Hals, als hätte sie ihr ein Geschenk gebracht. Salziges Essen. Gerade genug. Doch vieles im Leben bestand daraus, dass es gerade genug war.
Tag und Nacht verstrichen. Irgendwann blinzelte sie, kaum fähig, den Kopf zu heben, und sah helle Strände vor sich.
Die Schildkröte verschwand, tauchte ab. Von den letzten Wellen getrieben wurde sie an Land gespült. Ihre flatternden Lider fielen zu.
Sie hörte Rufe, Schritte im Sand. Jemand rüttelte sie. Mehr als ein Stöhnen zur Antwort konnte sie nicht bieten.
Eine Trage. Wiesen mit Olivenhainen. Ein Zimmer mit hellen Wänden.
Stimmen.
"... heute Morgen gefunden, sie ... gestern Nacht angespült worden ..."
Das Bewusstsein entglitt ihr wieder und wieder. Auf und ab. Wie Atem, wie das Meer.
Flossenschläge der Schildkröte. Nein, ein Traum. Sie musste nicht länger in einem Traum leben.
Eine Hand auf ihrer Stirn. Prüfend, routiniert. Alt und schwielig. Ein Ohr an ihrem Mund.
Dieser Geruch.
Sie schlug die Augen auf. "Wer ...?"
Spröde Lippen wollten keine Worte formen. Und doch, ihr Herz schlug schneller.
Ein Gesicht über ihr. Runzeln, Altersflecken, spitze Ohren. Augen, weich und grün.
Ein Gefühl. Erkennen. Vertrauen. Gespiegelt in dem Gesicht.
"Papa ..."
Drei Wörter, ein Hauchen. "Bei den Göttern!"
Und mit diesem vertrauten Klang, der bekannten Sprache, wusste sie schlagartig wieder, wer sie war.
Die Finsternis der Gefangenschaft war endlich vorbei.