Sina war schon immer unauffällig gewesen. Sie war ruhig und besonnen, meldete sich kaum im Unterricht und verbrachte die Pausen meistens alleine oder mit ihrer besten Freundin.
Doch schon immer probierte sie gerne neue Sachen aus. So hatte sie auch keine Sekunde gezögert, als sie den Aushang für die Theater-AG entdeckt hatte. Texte zu lesen, Figuren zu erarbeiten, Monologe auswendig lernen, das alles hatte so spannend geklungen und ihr tatsächlich sehr viel Spaß gemacht. Das Stück war toll, ihre Rolle recht klein, aber wichtig. Das Auswendiglernen war überhaupt kein Problem gewesen. Die Gruppe war nett und sie unterstützten sich gegenseitig.
Ja, alles hätte perfekt sein können. Hätte Sina nicht bis zum Schluss erfolgreich immer wieder verdrängt, dass sie das Stück würden aufführen müssen. Auf einer Bühne. Vor Zuschauern.
Sie, Sina, die sich doch kaum traute, sich im Unterricht zu melden, die immer im Hintergrund blieb und in Gesprächen lieber schwieg, als zu reden. Ausgerechnet sie sollte nun dort oben stehen und ihren Text aufsagen. Vor all den Eltern, Lehrern, Schülern und anderen Besuchern. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, war ihre Figur auch noch als erstes auf der Bühne. Nicht ganz alleine zwar, aber sie war trotzdem die erste die sprechen würde.
Sinas Spiegelbild sah sie, übertrieben stark geschminkt, aus dem großen Spiegel ängstlich an. Es sah blass aus, unter der Schminke. Sehr blass. Und zittrig. Das war das Lampenfieber.
Aus dem Zuschauerraum war leises Getuschel zu vernehmen, Kleiderrascheln und Stühlerücken. Die letzten Zuschauer trafen gerade ein. Hier, hinter der Bühne gingen die Schauspieler ein letztes Mal ihren Text durch, suchten ihre Requisiten oder perfektionierte ihre Schminke und Frisuren.
Alle wirkten etwas aufgeregt, aber niemand sah so panisch aus, wie Sina sich fühlte.
Kurz überlegte sie, einen Nervenzusammenbruch vorzutäuschen - oder gleich wirklich einen zu bekommen - aber auch dann wäre die ganze Aufmerksamkeit bei ihr und das hasste sie. Außerdem war sie niemand der so leicht aufgab. Sie liebte das Theaterspielen, hatte jede Probe genossen. Sie konnte ihren Text und sie kannte das Stück. Wusste wo ihre eigenen Schwachpunkte lagen und die der anderen. Sie war gut gewesen in den Proben. Das sagte sie sich immer wieder, während sie versuchte ihren Atem und ihr rasendes Herz zu beruhigen.
Dann kehrte draußen im Zuschauerraum plötzlich Stille ein. Die Theaterleiterin trat auf die Bühne, um das Stück anzukündigen. Paul winkte Sina zu sich. Er stand bereits am Bühnenaufgang, denn er war in der ersten Szene dabei. Langsam ging Sina zu ihm. Ihre Beine fühlten sich an, wie Wackelpudding, sie hatte Angst, dass sie sich weigern würden, sie auf die Bühne zu tragen.
Doch dann kam die Theaterleiterin zurück, die Scheinwerfer gingen aus, andere gingen dafür an. Und ohne darüber nachzudenken, machte sie die paar Schritte hinter dem Vorhang nach vorne.
Scheinwerferlicht blendete sie, verwehrte ihr den Blick in den Zuschauerraum. Die davon ausgehende Wärme trieb ihr Schweißperlen auf die Stirn. Vielleicht war es aber auch ihre Nervosität. Paul brachte sich bereits in Position. Sina wusste, dass sie nun etwas sagen musste, dass sie nun ihren ersten Satz sagen musste, doch sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wie er lautete. Panik stieg in ihr auf.
Dann begegnete sie Pauls Bilck. Sah in seinen Augen ihre eigene Angst gespiegelt. Sie erinnerte sich an die Proben und an den Zusammenhalt, der in ihrer Gruppe herrschte.
Und endlich kamen die Worte zu ihr zurück.
"Ich mache mir Sorgen, um Lady Summer", begann sie zögerlich. Zuerst kamen die Worte leise, fast gehaucht, doch mit jedem neuen Satz gewannen sie an Kraft, wurden stärker und füllten den Raum. So begann Sina, das schüchterne Mädchen, die Geschichte zu erzählen.