Shiori wusste, dass sie auf Akiyoshi hören sollte. Er hatte bestimmt Recht, wenn er sagte, dass die Männer, welche ihm folgten, gefährlich waren. Und es machte nur Sinn, dass sie selbst, dann in diese Sache verwickelt war. Dennoch: Sie wollte hören, was er auf seinen Abenteuern bisher so erlebt hatte.
»Also, was möchtest du, dass ich dir erzähle?«, riss Akiyoshi sie in diesem Moment aus ihren Gedanken. »Gibt es irgendwas bestimmtes?«
Sie schüttelte den Kopf. »Fangt mit dem an, womit Ihr Euch am besten fühlt.«
»Das ist leichter gesagt, als getan«, meinte Akiyoshi. »Mein ganzes Leben war bisher nicht gerade ruhig, geschweige denn lustig.«
»Ich habe doch auch nicht nach einer lustigen Geschichte gefragt, oder?«, wollte sie wissen.
»Auch wieder wahr.« Er nickte. Dann setzte er sich noch einmal bequemer auf dem Futon hin. »Ich darf dir nicht sagen, wer mein Meister ist. Aber vielleicht interessiert es dich, wie ich ihn getroffen habe?«
»Oh ja, unbedingt!«, rief Shiori begeistert. »Er ist nur ein Jahr älter als Ihr, richtig?«
Akiyoshi nickte. »So ist es. Und seit dem Tag, an dem ich ihn getroffen habe, sind nur vier Monate vergangen. Um genau zu sein, war es an seinem Geburtstag, dem einundreißigsten Januar, als wir uns kennenlernten.«
»Sein Geburtstag?«, fragte Shiori ihn erstaunt. »Das muss ja tatsächlich eine Überraschung gewesen sein. Für euch beide.«
»So ist es.« Wieder nickte Akiyoshi. »Auch wenn ich manchmal immer noch glaube, dass ihm eigentlich nur langweilig war. Aber genau weiß ich das natürlich nicht.«
»Ihr könnt ihn ja mal fragen«, schlug sie ihm vor.
Akiyoshi schüttelte, zu ihrem Erstaunen, den Kopf. »Nein, besser nicht.«
»Warum nicht?«, wollte sie wissen. »Er wird Euch wohl kaum den Kopf abreißen, oder?«
»Mein Meister ist manchmal etwas speziell. Es gibt nicht viele Menschen, die ihn verstehen. Geschweige denn überhaupt welche, die ihm nahe stehen. Dass ich die Ehre habe, kann ich immer noch kaum glauben.«
»Das hört sich an, als ob Ihr ihm sehr nahe steht«, wandte Shiori nachdenklich ein.
»Ich will wirklich nicht arrogant klingen, doch ich denke man kann uns fast Freunde nennen. Oder zumindest Vertraute.« Akiyoshi lächelte. »Was vermutlich keine Überraschung ist, wenn man bedenkt, dass er mir gleich zweimal das Leben gerettet hat.«
»Also jetzt bin ich echt neugierig«, stellte Shiori klar.
»Das habe ich mir gedacht.« Akiyoshi grinste.
»Sehr gut.« Sie erwiderte sein Grinsen. »Also was ist? Ich bin ganz Ohr.«
***
Der Bezirk, in welchem Akiyoshi unterwegs war, war der abstoßendste und verrufenste von allen in seiner Stadt. Hier fand sich der letzte Abschaum, der sich bei Tag meist überhaupt nicht auf die Straße traute. Akiyoshi wäre gar nicht erst hier, wenn er es nicht zwingend gemusst hätte. Doch genau das war der Fall.
»Am besten bring ich das einfach schnell hinter mich«, murmelte er vor sich hin und zog die Kapuze seines Mantels ein Stück tiefer in sein Gesicht. Auch wenn er natürlich wusste, dass es unwahrscheinlich war, dass man ihn erkannte. Denn er war zum ersten Mal hier. Ginge es nach ihm, würde es zugleich das letzte Mal sein. Was tat man nicht alles für seine Eltern. Doch wie sagte schon Buddha: »Ehre deine Eltern.« Manchmal aber fragte er sich, ob es dabei ein Limit gab. Und wenn es das tat, wo es lag.
»Hey, Süßer. Lust auf eine Nacht mit mir? Du kommst ganz sicher auch auf deine Kosten und billig bin ich auch«, hörte er, wie eine Frau ihn von der Seite ansprach.
»So siehst du auch aus«, dachte Akiyoshi bei sich, schnaubte missfällig und ließ sie ohne eine Antwort stehen. Er zog den Zettel mit der Adresse aus seiner Tasche. So weit weg von hier konnte es nicht mehr sein. Er sah sich um. Für einen Moment bedauerte er es, dass er lediglich sein Tantō bei sich trug. Doch sein Katana und Wakizashi hätten ihn augenblicklich als das ausgewiesen, was er auch war: Ein Samurai. Das konnte er sich hier nicht leisten. Oder vielmehr einen Ronin. Denn einen Dienstherrn, dem er dienen konnte, hatte er momentan leider nicht. Was ein weiteres seiner vielen Probleme war, über das er nicht die Zeit hatte, nachzudenken. Zumindest nicht jetzt. Denn jetzt hatte er etwas anderes zu erledigen.
»Aus dem Weg!«
Bevor Akiyoshi auch nur die Möglichkeit hatte zu reagieren, wurde er so heftig angerempelt, dass er ins Straucheln geriet. An ihm vorbei eilte jemand, der wie er selbst, einen dunklen Mantel mit Kapuze trug, die das Gesicht der Person verdeckte. Dennoch konnte Akiyoshi erkennen, wie elegant und gewandt diese Person sich bewegte. Es war beeindruckend.
»Verflucht nochmal! Hättet Ihr diese Ratte nicht einfach festhalten können? Jetzt ist mir dieser Dieb entwischt!«, rief ein Mann wütend, der aus einem der Häuser gerannt kam. »Und Ihr seid schuld daran!«
Akiyoshi runzelte die Stirn. War es klug sich auf eine Diskussion einzulassen? Wohl kaum.
»Seid ihr taubstumm, oder was?«, schimpfte der Mann weiter auf ihn ein. »Oder ignoriert Ihr mich einfach?«
»Wenn Ihr von dieser Person bestohlen wurdet, ist das bedauerlich aber nichts was mich etwas angeht«, sagte Akiyoshi betont ruhig. »Doch jetzt entschuldigt mich bitte: Ich habe selbst etwas zu erledigen.«
»Etwas zu erledigen, ja?«, wiederholte der Mann sarkastisch. »Was könnte das wohl sein?«
»Nichts, das Euch etwas angeht«, antwortete Akiyoshi.
»Ist das so?«, der Mann baute sich drohend vor ihm auf. »Wer ersetzt mir dann den Schaden? Denn der Dieb konnte entkommen, wegen Euch. Seid Ihr womöglich sein Komplize und steckt mit ihm unter einer Decke?«
»Natürlich nicht. Jetzt lasst mich endlich in Ruhe«, knurrte Akiyoshi. »Ich habe nichts mit Euch und Eurem Dieb zu tun.«
»Das lasst mal mich entscheiden«, entgegnete der Mann. »Jetzt zeigt mir Euer Gesicht. Das dürfte wohl kaum ein Problem sein, wenn Ihr nichts zu verbergen habt. Oder irre ich mich?«
Das war das Letzte, was Akiyoshi wollte. Doch bevor er etwas tun, geschweige sagen konnte, zog der Mann ihm die Kapuze vom Kopf. Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Doch dann ...
»Ihr!«, rief der Mann. »Ihr seid es! Wie könnt Ihr es nur wagen, hier aufzukreuzen? Ich muss schon sagen: Entweder seid Ihr komplett verrückt oder einer der mutigsten Männer, die ich kennenlernen durfte.«
So wie es sich anhörte, tippte Akiyoshi darauf, dass der Mann glaubte, dass Ersteres zutraf. Widersprechen konnte er ihm da nicht. Er selbst befand sich gewiss nicht, hier weil er es wollte. »Dann seid ihr«, sagte Akiyoshi, nachdem er wenigstens halbwegs seine Fassung wieder gewonnen hatte »flinkes Wiesel?«
»Ganz genau. Und Ihr müsst der jüngere Sohn von Shinji sein«, flinkes Wiesel feixte. »Was könnte solch jemand wie Ihr es seid wohl von mir wollen?«
Akiyoshi der fand, dass dieser Name äußerst passend war, besonders der Part mit dem Wiesel, verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Ihr wisst ganz genau, weshalb ich hier bin!«, brach es aus ihm heraus. »Also tut bloß nicht so, als wüsstet Ihr es nicht!«
»Ach... Geht es etwa wieder um diese alte Geschichte?«, flinkes Wiesel verdrehte die Augen. »Ich habe Shinji schon gesagt, dass... «
»Denkt Ihr wirklich, dass es reicht, Euer Bedauern auszudrücken? Ihr tragt Schuld an dem Tod meines Bruders!«, rief Akiyoshi wütend und packte flinkes Wiesel am Kragen seines Hemdes. »Überdies war er ein angesehener Samurai, wie Ihr auch sehr gut wisst. Glaubt bloß nicht, dass Ihr das aussitzen könnt!«
»Was wollt Ihr nun machen? Etwa die Polizei damit behelligen? Die haben mit Sicherheit anderes tun, als sich Eure Beschwerden anzuhören. Vor allem, da Ihr und Euer Vater noch nicht einmal stichhaltige Beweise habt.« Flinkes Wiesel gab sich unbeeindruckt, doch Akiyoshi bemerkte, wie eines seiner Augen nervös zu zucken begann.
»Beweise?«, fauchte Akiyoshi wütend. »Ein Halsabschneider wie Ihr verlangt Beweise?« Er konnte kaum an sich halten.
»Natürlich. Alles andere wäre Selbstjustiz, oder nicht?«, fragte flinkes Wiesel. »Aber mal von Ehrenmann zu Ehrenmann: Ihr wisst nicht was Aizen -«, weiter kam er nicht.
»Wagt es nicht den Namen meines Bruders in Euren Mund zu nehmen«, knurrte Akiyoshi. »Jemand wie Ihr es seid hat nicht das Recht dazu.« Er funkelte flinkes Wiesel an. »Und meine Schwester werdet Ihr auch endlich in Ruhe lassen. Ansonsten seit demnächst Ihr es, der den Kopf verliert.«
»Soll das eine Drohung sein?«, fragte flinkes Wiesel, obwohl die Antwort offensichtlich war und keinerlei Erläuterung bedurfte.
Akiyoshi zuckte mit den Schultern. »Im Moment ist es erstmal eine Warnung. Es kommt darauf an, was Ihr daraus macht.« Er räusperte sich kurz. »Doch wie ich, wisst auch Ihr mit Sicherheit, dass es kein Verbrechen darstellt, wenn ein Samurai jemanden wie Euch tötet.«
»Samurai, ha! Ihr und Shinji seid höchstens gewöhnliche niederrangige Ronin! Das wird sich vermutlich so bald auch nicht ändern«, flinkes Wiesel schnaubte abfällig. »Außerdem kenne ich Leute, die Ihr nicht unterschätzen solltet. Leute, gegen die so jemand wie Ihr nichts ausrichten könnt.«
Akiyoshi ballte zornig die Hände zu Fäusten. Dann, wie es geschah, wusste er selbst nicht genau, fühlte er auf einmal, wie sich kalter Stahl hart gegen seine Kehle presste.
»Also wollt Ihr nun auch mich töten?«, fragte Akiyoshi flinkes Wiesel mit gepresster Stimme. »Ist das Euer Ernst?«
»Und wie es das ist. Doch daran seid Ihr ganz allein Ihr Schuld«, stellte flinkes Wiesel klar. »Euer erster Fehler war, überhaupt hierher zu kommen. Der zweite diesen verfluchten Dieb nicht aufzuhalten, als Ihr die Möglichkeit dazu hattet und der dritte schließlich, dass Ihr glaubt mir gewachsen zu sein.«
»Wer soll es nach mir sein? Mein Vater, meine Mutter – oder doch meine Schwester?«
»Aber nein. Für Eure Schwester habe ich eine ganz besondere Verwendung, das kann ich Euch versichern. Ich werde mich Ihrer persönlich annehmen, wenn Ihr wisst was ich meine«, antwortete flinkes Wiesel.
Akiyoshi, der nur allzu gut verstand, spürte, wie sich allmählich Übelkeit in ihm auszubreiten begann. Seine Schwester war vor ein paar Tagen elf geworden. »Das werde ich nicht zulassen«, presste er hervor und versuchte den Schmerz, den er fühlte, als sich der Dolch durch das Sprechen noch enger an seine Kehle drückte, zu ignorieren.
»Wollt Ihr hier sterben oder geduldig warten bis der richtige Zeitpunkt gekommen ist?«, hörte Akiyoshi eine Stimme hinter sich im Dunkeln.
Die Antwort, welche die richtige war, hätte er gerne gegeben. Doch leider war ihm das nicht möglich in der gegenwärtigen Situation. Überhaupt fragte Akiyoshi sich, warum flinkes Wiesel ihn nicht längst getötet hatte.
»Ihr sagt ja gar nichts mehr«, höhnte dieser. »Habt wohl die Sprache verloren. Soll mir auch recht sein.«
»Ich werde Euch helfen«, ertönte wieder die Stimme aus der Dunkelheit. »Aber dafür müsst Ihr mir dienen. Bis ich Euch aus meinem Dienst entlasse. Falls ich das überhaupt jemals tun werde.«
»Einverstanden.« Akiyoshi wusste nicht, ob er es flüsterte oder doch nur dachte. Zu unwirklich erschien ihm all das. Fast wie ein Traum, etwas, auf das er keinen Einfluss nehmen konnte. Andererseits: Er hätte so einen Meister und konnte sich endlich mit Stolz einen wahren Samurai. Zumindest wenn er das überlebte und das war recht fraglich. Dann, ganz plötzlich, hörte er ein lautes gequältes Aufstöhnen und sah überrascht, wie flinkes Wiesel vor ihm zusammenbrach und sich mit einem Mal der Dolch an seiner Kehle lockerte.
»Los jetzt!«
Akiyoshi verspürte einen festen Griff um sein Handgelenk, dann rannte er los ohne sich ein weiteres Mal umzusehen. Der einzige Gedanke, der sich in seinem Kopf fand war: »Schnell weg hier.«
Dann irgendwann, wie weit sie gerannt waren konnte Akiyoshi nicht sagen, hielten sie in einer Seitengasse an.
»Wie ist Euer Name?«, wollte sein Retter wissen.
Akiyoshi räusperte sich vorsichtshalber. Er war nicht sicher, ob er seiner Stimme trauen konnte. »Hasegawa«, antwortete er dann und verneigte sich kurz. »Hasegawa Akiyoshi zu Euren Diensten. Ich bin ein Ronin.«
»Nein. Ihr wart ein Ronin«, wurde er sofort korrigiert. »Da Ihr mir nun dient, seid Ihr ein Samurai. Und ich kann Leute wie Euch gebrauchen.«
»Wie ist Euer Name?«, wollte Akiyoshi wissen. »Ihr habt Euch noch gar nicht vorgestellt.«
»Oh, natürlich. Wie unaufmerksam von mir.« Sein Retter verbeugte sich ebenfalls, wenn auch kurz. »Ihr dürft mich Yasu nennen. Zumindest vorerst.«