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Nach dem Prompt „Przewalski-Pferd“ der Gruppe „Crikey!“
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Als ich jung war - vor einer Zeitspanne, die sich die kurzlebigen Völker kaum vorstellen können - lebten wir einige Monate in Naayaabin.
Es war eine gute Zeit, an die ich noch heute oft zurückdenke, und es ist der früheste Teil meines Lebens, an den ich mich erinnern kann. Natürlich war es auch eine harte Zeit, wenngleich viele der Sorgen der Erwachsenen damals an mir vorübergingen. Auf den grünen Wiesen weideten unsere Rinder und Pferde, während manche Jurte in dieser Zeit für die Bequemlichkeit eines grasgewobenen Hauses eingetaucht wurde. Zuvor hatte ich nur das Nomadenleben gekannt und genoss es, durch das Gras zu rennen, das in meiner Erinnerung noch immer so unglaublich hoch und grün ist, ganz anders als die Weiten der Steppe. Ich liebte den Anblick der mächtigen Berge und den kleinen See, an dessen Ufer wir wohnten.
Noch mehr liebte ich es, die Bayoghun zu beobachten, die wilden Pferde der Steppe. Allüberall waren sie selten, doch in diesem reichhaltigen Land lebten sie zuhauf in ihren Herden, verborgen vor den meisten Blicken, was ich jedoch erst später verstand.
Und später erst, viel, viel später, erfuhr ich, dass sie keinesfalls gewöhnliche Pferde waren, sondern Fabelwesen aus der Ordnung der Pegasi. Wenngleich mich dies nicht überraschte, denn ihren Zauber habe ich schon mit kindlichen Augen gesehen. Für mich waren sie Götter der weiten Ebenen, diese Kreaturen, die so widersprüchliche Eigenschaften in sich vereinten. Tagelang mochte ich auf einem Hügel sitzen und sie beobachten, diese stämmigen, sandgelben Tiere, kräftig und robust, als hätte der sandige Boden Gestalt angenommen. Ich sah sie grasen und kämpfen und lauschte ihrem Wiehern in schweigender Verzückung. Doch nahte ein Reiter oder ein Elf, so wurden diese kräftigen, starken Tiere zu Staub, wirbelten wie ein Sandsturm über das Gras und hinauf in den Himmel. Ich weinte wohl beim ersten Mal, da diese herrlichen Kreaturen auf diese Weise vor mir verschwanden, tanzend im goldenen Licht der Sonne. Doch sie kehrten immer zurück und ich gewöhnte mich daran, sie loszulassen.
In jener Herde, die ich damals beobachtete, gab es ein Fohlen, das es mir besonders angetan hatte. Es war das einzige Kind in der Herde, genau wie ich das einzige Kind unseres Stammes war. Ich fühlte mich ihm verbunden, denn von Zeit zu Zeit mochte der junge Hengst den Kopf heben und mir direkt in die Augen blicken, als könne er mich verstehen.
Mit einer Liebe zu ihm in meinem Herzen, deren Macht ein Kind noch nicht erfassen konnte, versuchte ich, ihm einen Namen zu geben, und meine Wahl war 'Sandsturm'. Dieses junge Tier war genauso wie die mächtigen Böen der Steppe: Frei und wild, ungebändigt, robust wie Sand, zugleich hart und weich.
Eine lange Regenzeit verbrachten wir gemeinsam, tauschten über viele Stunden hinweg ein, zwei Blicke, während ich mit einem Knochenstück versuchte, Sandsturms Bewegungen in der weichen Erde einzufangen, in Linien und Streifen, die keinem Erwachsenen einen Sinn ergaben, doch tief empfundene Dynamik zeigten.
Doch jede Regenzeit geht zu Ende. Das Gras wurde gelb und kurz, der glitzernde See schwand und die Erde wurde zu hart, um darauf zu zeichnen. Unsere Herden wurden unruhig, die Rinder wanderten immer weiter, um noch Nahrung zu finden. Die Sonne schien mit jedem Tag heißer vom Himmel. Jurten wurden gesäubert, Gepäck verschnürt, und schließlich ließen wir die Grashütten zurück, die verfallen würden wie jene aus dem letzten Jahr, noch ehe ein Monat um war.
Unser Leben kehrte zurück in den Sattel, auf den Rücken der Pferde, in die trockenen Wüsten. Wir folgen den trägen Flüssen durch ein Land ohne Gras. Wehmütig blickte ich zurück, suchte nach meinen Freunden, doch war keine Spur der wilden Bayoghun zu erblicken.
Und viele Jahre sollte ich sie nicht sehen. Auch wenn wir nach Naayaabin zurückkehrten, sah ich dort nie wieder ein wildes Pferd. Über die Jahrzehnte erfuhr ich, dass sie nichts weiter als Mythen waren, bis ich diese Wochen der Beobachtung für einen Traum zu halten begann. Erst viele Jahrhunderte später, als Hyphurion mir die Vergangenheit zeigte, löste sich der letzte Zweifel auf, dass ich sie wirklich erblickt hatte.
Doch zuvor würde ich noch einmal ein Bayoghun sehen. In einem trockenen Sommer, als sich ein Sandsturm erhob und unseren Stamm überrollte. Damals war ich 62 Jahre alt, ein junger Elf, der nun auch alleine ritt, doch noch unerfahren. Mein armes Pferd ging durch, als der Sandsturm kam, und rannte, bis es zusammenbrach. Seite an Seite kauerten wir im Sturm. Ich hielt seinen Kopf umschlossen, um es vor dem Sand zu schützen, und presste mein Gesicht in seine kurze Mähne.
So harrten wir aus, bis der Sturm sich legte. Doch als ich mich umsah, war mein Stamm nirgendwo zu sehen. Allein, nur mein erschöpftes Pferd an meiner Seite, war ich im unbarmherzigen Niemandsland. Nicht lange, und ich hörte die gelben Wölfe heulen. Sie riefen mir zu, dass meine Zeit gekommen wäre, zur Erde und zum Wind zurückzukehren.
Da erhob sich ein zweiter Sturm, direkt vor mir. Erschrocken schloss ich die Augen und klammerte mich an das Pferd, doch der Wind legte sich rasch. Als ich den Blick hob, stand ein zweites Pferd vor mir, das dem meinen in so vielen Aspekten glich und doch vollkommen anders war. Beide waren sie stämmig, gelb wie der Sand, mit kurzer, dunkler Mähne, doch dieses neue Tier hatte intelligente Augen und eine Haltung, die mir verriet, dass er nie geritten worden war und es auch niemals zulassen würde.
"Sandsturm ...", flüsterte ich, denn ich erkannte den Schwung seines Hufs, das Zucken seines Schweifs, das Nicken seines Kopfes.
Er blickte mir in die Augen, genau wie in meinen Erinnerungen und Träumen. Wie in Trance schwang ich mich auf den Rücken meines müden Pferdes, ohne einen Sattel, den ihn und auch mein Wasser hatte ich im Sturm verloren.
Mit Hufen, die kaum ein Geräusch machten, rannte Sandsturm los. Seine Gestalt verschwamm in einen Wirbel braunen Sandes, wurde fester und löste sich auf, hin und her, während mein Pferd treu folgte, als ich es auf die Spur meines Sturms lenkte.
In meinen Ohren klang nur mein Herzschlag. Wieder und wieder fielen mir die Augen zu. Irgendwann, als ich sie erneut aufriss, war Sandsturm fort und am Horizont erblickte ich Reiter meines Stamms, die nach mir suchten. Ich war heimgekehrt, dem Lied der Wölfe entkommen.
Müde vor Durst und Erschöpfung sank ich damals in langen Schlaf. Als ich erwachte, war Sandsturm bereits zu einem Traum verblasst, wenngleich mir mein Vater sagte, im Schlaf hätte ich Worte gesprochen, die er noch nie zuvor vernommen hätte.
"Ich kannte die Sprache nicht", verriet er mir, "aber es schien mir ein Klang vom Wind und der Freiheit zu sein." Dann dachte er nach. "Doch die Worte waren traurig."
Seit jenem Tag habe ich nie wieder ein Sandpferd erblickt, und ich kenne auch keine Berichte von solchen, die eines gesehen zu haben behaupten. Bis heute frage ich mich, was aus Sandsturm geworden ist. Welche geheime Welt er wohl für sich und seine Herde fand fernab der Welt der Erdvölker, die sich immer weiter ausbreitete.
Illustration von Lyzian: https://ibb.co/qp3FFZS