Wenig später verließ Baldwyn den Schrein des Winters und kehrte in das rasch wachsende Lager vor den Mauern der heiligen Wehranlage zurück, um seinen alten Freund und Beschützer aufzusuchen. Sir Estermonds Lager war selbst im Gewirr der aberdutzenden von Zelten leicht zu finden. Es war das einzige, welches nicht aus Fellen, Leder und Stämmen sowie den Stoßzähnen gewaltiger legendärer Tiere, von denen Baldwyn bis heute der Meinung war sie müssten eigentlich nur Kreaturen aus alten Mythen sein, errichtet war. Sir Estermonds Zelt stand stets gerade, aufrecht und stolz. Errichtet aus festem Leinen und mit geraden und präzise ineinander gesteckten Zeltstangen. Auf der Spitze des großen Ritterzeltes flatterte noch immer das Wappen des Hauses Isegrim. Baldwyns Familie. Auch wenn es dem jungen Prinzen in Verbannung stets das Herz brach es zu sehen, so erfüllte ihn der Anblick des schwarzen Wolfes auf blutrotem Feld doch stets mit Stolz. Der Legende nach entstammten die Isegrim sowohl dem Blut der Nordmänner als auch der Linie der Eroberer des mystischen alten Imperiums, welches einst alles Land südlich der weißen Berge beherrscht hatte. Niemand wusste heute noch, was mit dem alten Imperium geschehen war und warum es verschwand, und viele hielten es für nichts weiter als ein Märchen, doch die alten Familien des Reiches hielten an der Geschichte ihres edlen Blutes fest. Baldwyn glaubte diese Geschichten und er hatte sich stets vorgenommen eines Tages herauszufinden wohin das Imperium verschwunden war. Doch zuerst galt es sein Reich zurückzuerobern. Als er so, mit wachsender Ungeduld im Herzen, auf Estermonds Zelt zusteuerte, sah er das schamanische Oberhaupt der Aresinger, jenes Stammes der den Raben als höchsten Tiergeist ehrte, das Zelt des alten Ritters verlassen. Als er Baldwyn bemerkte, nickte er ihm kurz zu und verschwand daraufhin schnellen Schrittes im Getümmel des Lagers. Was hatte der oberste Schamane des Raben mit Sir Estermond zu schaffen? Mit dieser Frage im Kopf schritt Baldwyn unter dem Vordach des stolzen Ritterzeltes hindurch und schlug die Eingangsplane beiseite.
„Baldwyn mein Junge!“ rief der alte Ritter freudig zu Begrüßung. „Wie ist es euch auf der Reise ergangen?“
„Gut alter Freund. Wir hatten mehr Schwierigkeiten auf dem Weg erwartet, doch wir haben nicht einen Mann an Gletscherspalten oder Schneekatzen verloren. Wie erging es euch?“
„Ihr wisst doch. Ein alter Ritter aus dem Süden so hoch im Norden... meine Knochen werden mich noch eines Tages umbringen, wenn es weiter so kalt bleibt.“ Sir Estermond erlaubte sich ein kurzes Lachen.
Baldwyn lächelte, als er sich zu Estermond an den kleinen Tisch setzte und sich etwas von dem Wein einschenkte, den der alte Ritter sichtlich genoss. „Soweit ich mich erinnere, hattet ihr seit langem nur noch diese eine Flasche Wein aus der Heimat übrig. Warum habt ihr sie jetzt geöffnet?“
„Ich hatte im Gefühl, dass die ruhigen Zeiten bald vorbei sein werden und ich wusste nicht, ob ich noch einmal die Gelegenheit dazu bekommen würde in Ruhe eine Flasche Wein zu genießen.“
Baldwyns Lächeln verschwand.
„Habt Ihr deshalb mit dem Patron des Raben gesprochen?“
„Ach nein, ich habe den guten Mann lediglich um einen kleinen Gefallen gebeten.“ Winkte der alte Ritter ab.
Baldwyn musterte die fein säuberlich aufgestapelten und offensichtlich frisch versiegelten Pergamentrollen auf Estermonds Tisch und fragte weiter: „Der Gefallen bezog sich doch sicher nicht auf das Versenden von Korrespondenz an alte Freunde?“
„Ihr seid ein kluger junger Mann mein Prinz. Das habe ich Euch schon immer gesagt.“ Entgegnete Sir Estermond lächelnd. Er nahm einen ordentlichen Schluck Wein, bevor er fortfuhr: „Ich habe Isvar, den Patron des Raben, darum gebeten mir die heiligen Raben ausleihen zu dürfen. Sie sind recht nützlich wisst ihr? Die Stämme des Nordens mögen das Konzept einer Brieftaube nicht verstanden haben. Aber zur Not tut es auch ein Rabe. Recht intelligente Tiere. Zu intelligent, um sie vernünftig abzurichten. Aber wenn sie einen Ort kennen, können sie ihn finden.“
„Und welchen Ort auch immer die heiligen Raben kennen, dort bedarf es Nachrichten mit dem Siegel des Königs?“ frage Baldwyn in forschendem Ton, während er eine der Pergamentrollen aufnahm und das frische tiefrote Siegel des gekrönten Wolfes darauf begutachtete.
Sir Estermond senkte die Stimme beinahe zu einem Flüstern, so als ob er Angst hätte belauscht zu werden, und blickte seinen Schützling eindringlich an: „Wir brauchen Freunde in der Heimat mein Prinz, das wisst ihr. Jetzt mehr denn je.“
Baldwyn ließ die versiegelte Nachricht auf ihren Platz zurücksinken und erwiderte den Blick seines Beschützers und Lehrers.
„Sir Estermond.“ begann er in ernstem Tonfall „Sprecht geradeheraus.“
Einen langen Moment lang schwieg der alte Ritter und sah seinen jungen Prinzen seltsam traurig an. Dann holte er unter seinem Gewand eine Blume hervor, die bis aufs Blatt der Blume glich die Baldwyn für Nym auf ihrem Erkundungsritt gepflückt hatte, kurz bevor sie alle zum Thing aufgebrochen waren.
„Diese Blume nennt man den Königslotus. Wisst Ihr auch warum?“
„Nein.“ Antwortete Baldwyn. „Ich kann mich nicht daran erinnern diese Blume jemals gesehen zu haben, bis ich vor einigen Tagen eine am Pass im Süden pflückte.“
„Wie könnt Ihr auch. Ihr wart noch ein kleines Kind, kaum mehr als ein Säugling, als ich Euch vom einzigen Ort in der gesamten Nordmark an dem sie wächst fortbrachte. Diese Blume findet man nur auf den Hügeln an der Burg Eurer Vorväter. Es ist die Blume Eures Hauses. Man sagt das Blut der ersten Isegrim tränkte die Hügel in der Schlacht, die das Reich unter ihrem Banner einte. Und um ihre heldenhaften Opfer zu ehren, ließen die Götter diese Blume aus ihrem Blut wachsen.“
„Aber wie kann es dann sein, dass wir diese Blumen hier gefunden haben?“
„Ihre Sporen müssen weit gewandert sein, oder jemand hat sie mitgebracht.“
„Aber wer...?“ begann Baldwyn und stockte, als ihm die Antwort selbst einfiel.
Estermond sprach indes aus, was sie beide dachten: „Euer Onkel hat Euch nach all den Jahren doch gefunden.“
Eine Zeit lang saßen die beiden schweigend da, während sich ihre Gedanken verfinsterten.
„Wisst Ihr“ sagte Baldwyn schließlich, „ein Teil von mir hat sich immer gewünscht, dass er mich einfach vergisst. Ich glaube dieser Teil von mir wollte vermutlich einfach hier oben im Norden bleiben und mit Nym gemeinsam in Frieden leben.“ Als Baldwyn die Häuptlingstochter mit den feuerroten Haaren erwähnte lächelte er für einen kurzen Moment, bevor sein Blick wieder finster wurde und er fortfuhr: „Aber das ist nicht mein Schicksal. Ich war mein Leben lang auf der Flucht vor diesem Mann, doch das muss ein Ende nehmen. Umso wichtiger ist es, dass ich die Stämme beim Thing überzeuge mir in den Süden zu folgen. Ich darf ihm nicht den ersten Zug überlassen. Wir müssen mit einer Armee nach Süden ziehen. Besser heute noch als morgen. Doch damit ich überhaupt auf dem Thing sprechen darf, muss ich in den Stamm aufgenommen werden. Und ich weiß nicht, ob ich das schaffe.“
„Bedenkt mein Prinz, es gibt immer noch die Möglichkeit, ohne die Stämme des Nordens nach Hause zurückzukehren. Es gibt unter den Fürsten des Königreiches immer noch jene, die euren Thronanspruch unterstützen und euren Onkel für einen Usurpator halten.“
„Und wie sicher seid ihr euch, dass mir diese Fürsten des Südens, die mich vermutlich noch nie gesehen haben, in den Krieg folgen, wenn ich allein mit einem einzelnen Ritter an meiner Seite vor ihrer Tür stehe? Für wie hoch werden sie wohl die Chance auf meinen Triumph einschätzen? Glaubt ihr wirklich, dass sie aus reinem Glauben an unsere Sache ihre Macht zu unseren Gunsten in die Waagschale werfen?“
„Wie ich bereits sagte, Ihr seid ein kluger junger Mann.“ Gab Estermond Antwort, während Baldwyn sein Glas zornig in einem Zug leerte. „Nun kommt es also auf euch an, mein Prinz. Und deshalb, habe ich den Wein aufgemacht, bevor wir nicht mehr dazu kommen ihn zu trinken.“
Estermond zwang sich zu einem Lächeln, während er ihnen beiden nachschenkte.
Baldwyn betrachtete die rote Flüssigkeit in seinem kristallenen Glas.
Und je länger er den Wein betrachtete, desto mehr war er sich sicher, dass er die Farbe von Blut besaß.