Wintermorgen
Weil Mike noch nicht lange in seiner Wohnung lebte, war er sehr froh, dass er sein Zuhause gefunden hatte. "Ich bin sehr froh, dass ich mein Zuhause gefunden habe", sagte er deshalb.
"Ich auch", stimmte sein Kumpel Rainer ihm zu.
Mit dem Aufsperren klappte es seltsamerweise nicht. Weil das Schlüsselloch erschreckend unscharf war und sich bewegte. Oder, weil sie beide ziemlich betrunken waren. Eher das zweite.
So ein Glück, die Tür ging von selbst auf.
"Susanna", sagte Mike, beim Anblick seines Gegenübers, ohne einen kausalen Zusammenhang zu vermuten.
"Sanna", hauchte Rainer neben ihm verklärt.
Mike hatte öfter mal ein seltsam undefinierbares Gefühl gehabt, wenn sein bester Freund und seine Schwester einander begegnet waren. Jetzt schon wieder. Im tiefsten Winkel seines Gehirns, begann sich diesbezüglich ein Gedanke zu formen. Leider ging er irgendwo zwischen der Erkenntnis, dass die Nervensäge mitten in der Nacht auf keinen Fall in seiner Wohnung sein sollte, und der Frage, ob es möglich wäre um diese Uhrzeit noch eine Leberkässemmel zu organisieren, verloren.
Kritisch zog seine Schwester eine Augenbraue nach oben. "Was ist denn mit euch?"
"Wir mögen unser Leben nicht", erklärte Mike erstaunlich flüssig. Rainer nickte enthusiastisch. Fast verlor er dabei das Gleichgewicht. Mike bekam ihn gerade noch so an der Kapuze seiner Winterjacke zu fassen.
"Und ihr glaubt, durch Alkoholmissbrauch wird es besser?"
"Wir wollten uns abschießen. Vorsätzlich. Also ist es kein Missbrauch, sondern Gebrauch."
"Kommt rein, ihr Helden. Ich mach euch einen starken Kaffee."
Jetzt war hier aber ganz klar eine Grenze erreicht! Und zwar, weil ... Ja, genau! Es fiel ihm wieder ein. "Wenn überhaupt, dann sage ich das, klar?", maulte Mike, während er in seinen Vorraum stolperte.
"Du willst mir einen Kaffee anbieten?", fragte Sanna.
"Das nicht. Aber ich lasse dir gerne ein romantisches Bad für zwei ein. Nur du und mein Fön! Wie kommst du in meine Wohnung?"
"Hab deinen Notfallschlüssel von Mama."
"Wo ist bitte der Notfall, wenn ich fragen darf?"
"Steht vor mir", murmelte sie.
"Was?"
"Nichts."
Umständlich entledigte Mike sich seiner Schuhe und des Parkers. Susannas Hilfe wäre überhaupt nicht nötig gewesen. Kein bisschen.
"Das sind gute Kekse, wirklich sehr gute", nuschelte Rainer am Küchentisch, den Mund voller Nougatkipferl.
"Die sind ja auch von dir", sagte Mike.
"Echt? Wieso?"
"Weil du Bäcker bist."
"Ach ja." Dem Glühwein sei Dank, hatte er das kurzfristig vergessen. "Ich möchte mehr Kekse und Kuchen backen", jammerte Rainer. "Aber ich darf immer nur Brot."
Konzentriert tunkte Mike ein Butterstangerl in seinen Espresso. Augenblicke später, war es einfach verschwunden. Ein Rätsel! "Eröffne einfach deinen eigenen Laden."
Sein Kumpel hörte kurz auf zu kauen. Dann blinzelte er und meinte, "Okay."
Eine Lebenskrise beendet. Gutes Gefühl. Seine Schwester löste ein gänzlich anderes aus. "Solltest du nicht studieren? Und deinem Marius auf die Nüsse gehen?"
"Markus!", zischte sie. "Mit dem Studium bin ich seit einem halben Jahr fertig!" Geknickt sank Sanna auf dem Sessel zusammen. "Und mit Markus seit drei Wochen."
Mike fühlte, dass er etwas sagen sollte. Etwas Tröstliches? Dummerweise fiel ihm so spontan nichts ein, darum versuchte er wenigstens mitfühlend auszusehen. Klappte vermutlich auch nicht.
Auf Rainers Gesicht breitete sich ein unsagbar zufriedenes Grinsen aus. Sicher immer noch wegen der leckeren Kekse.
"Essen ist heiß", wechselte Susanna zu Mikes Erleichterung das Thema. So kam das Gespräch wenigstens nicht auf ihn, an diesem unseligen Jahrestag. Damit das so blieb, machte er den Vorschlag, den Abend mit einem besinnlichen Film ausklingen zu lassen.
Viel hatte er davon nicht mehr gesehen, letzte Nacht. Dafür war Mike sicher, er war in seiner ganz persönlichen Fortsetzung aufgewacht. Ja, so musste es sein: Er starb langsam.
Als er den Arm hochriss, um seine Netzhaut vor dem gleißend hellen Scheinwerfer zu schützen, der ihm erbarmungslos ins Gesicht leuchtete, von da, wo eigentlich die morgendliche Wintersonne sein sollte, war es schon zu spät. Mike war blind. Gepeinigt von einem Kopfschmerz, der seinesgleichen suchte, fiel er von der Couch. Der Aufprall raubte ihm die Luft. Ein Röcheln war noch zu hören. Seine letzten Atemzüge? Nein, wurde ihm klar. Es war nur Rainers leises Schnarchen.
Unter größter Anstrengung, öffnete Mike die Lider. Er blickte auf rote Socken mit Tannenbäumchen darauf. Süffisant grinsend, schaute von unwesentlich weiter oben seine Schwester auf ihn herunter. Kannte das Schicksal denn kein Erbarmen?
Nach einer Dusche, zwei Schmerztabletten und anderthalb Flaschen Wasser, fühlte er sich geringfügig besser. Als er die Küche betrat, stellte Susanna eine große Tasse heißen Kaffee vor ihn auf die Arbeitsfläche. Entgegen aller Wahrscheinlichkeiten und ihrer Natur, tat sie das still.
Mike schwieg ebenfalls. Er lehnte sich an seinen Kühlschrank und wischte sich mit den Händen über sein müdes Gesicht. Nur Sekunden später, fand er sich in einer festen Umarmung, die er nach dem ersten Überraschungsmoment erwiderte. Natürlich nur aus Reflex!
Sannas lilafarbene Haare kitzelten ihn am Kinn. Ihr Bruder konnte locker drüber schauen. So fiel sein Blick auf seinen besten Freund, der im Wohnzimmer noch immer selig schlief.
Susanna. Und Rainer.
Mike meinte sich plötzlich zu erinnern, dass ihm vergangene Nacht zu den beiden irgend etwas durch den Kopf gegangen war. Und zwar ...
"Willst du darüber reden?", unterbrach Susanna leise seine Grübelei.
"Nein", brummte er und schob das zierliche Persönchen entschieden von sich.
"Ich bin für dich da!" Erwartungsvoll schaute sie ihn an. "Ich weiß genau, wie du dich fühlst!"
Hatte Markus etwa auch ihr Konto ab- und alle Wertgegenstände aus ihrer Wohnung ausgeräumt, bevor er mit dem Weihnachtsmann aus dem Einkaufzentrum durchgebrannt war? Mike bezweifelte das. "Rück meinen Schlüssel raus", sagte er.
"Aber ..."
"Keine Diskussion." Wenn ihm etwas heilig war, dann war das seine Privatsphäre. "Du übernachtest ab sofort bei Mama und Papa."
"Wie schade", schmollte Susanna, "wo du so wundervolle Feiertagsstimmung verbreitest!"
"Was könnte weihnachtlicher sein, als Dosenchili und Bruce Willis?", schoss er zurück.
Ihr entkam ein Lacher. Ihm auch. Aus dem Wohnzimmer war das dumpfe Geräusch eines Aufpralls zu hören, gefolgt von einem schmerzerfüllten Ächzen.
Mike nahm einen Schluck von seinem Kaffee. Okay, das hier war nicht perfekt. Aber gar nicht so übel.