Eric sprang die Treppenstufen hinab und warf einen Blick auf seine Uhr. Verdammt, er war spät dran. Doch er konnte seinen Rucksack nicht finden. Er lugte in das Wohnzimmer, das nur von einer kleinen Lampe im Regal beleuchtet wurde. Die Vorhänge hingegen waren komplett zugezogen und er wusste auch, weshalb. Damit man die Weihnachtsbeleuchtung der Nachbarn nicht sehen konnte.
»Manu?«
»In der Küche«, ertönte die Stimme seines Freundes aus der Ferne, sodass Eric sich umdrehte und den besagten Raum aufsuchte. Ein Lächeln glitt auf seine Lippen, als er Manuel erblickte. Manuel sah ihn von der Seite an und erwiderte sein Lächeln, auch wenn ihm die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Der Dezember war für ihn der schwierigste Monat im Jahr, da ihn die Weihnachtszeit an seine Familie erinnerte, die er vor wenigen Jahren verloren hatte. Besonders Heiligabend brachte all die Trauer und Verzweiflung hoch, die er das restliche Jahr über nur mit Mühe kontrollieren konnte. Manuel hatte sich nie ganz von dem Verlust erholt. Und Eric verfluchte sich dafür, dass er ihn ausgerechnet heute Nacht allein lassen musste.
»Mach dir keine Sorgen um mich, ich komme klar«, sagte sein Freund, schloss den Abstand zu ihm und hielt ihm ein Stück Apfel hin, das er sich auf der Küchenzeile gerade zurechtgeschnitten hatte. Schmunzelnd nahm Eric es an und schob es sich in den Mund, ehe er sanft seine Hände auf Manuels Hüften legte. Im Gegensatz zu ihm trug Manuel nur eine lockere Jogginghose und einen dünnen, grauen Pullover, der trotz alledem außerordentlich gut an ihm aussah. Für einen Moment vergaß Eric, dass er es eilig hatte.
»Ich hoffe, du hast heute einen ruhigen Dienst«, hauchte Manuel und zupfte leicht an der dunklen Polizeiuniform, die Eric bereits angezogen hatte. Dienst, das war das Stichwort, das Eric zischend Luft einziehen ließ.
»Weißt du, wo mein Rucksack ist?«
»Natürlich weiß ich das«, erwiderte Manuel und entfernte sich von ihm. Eric musste an sich halten, nicht nach seinem Handgelenk zu greifen und ihn zurückzuziehen, um sich die verlorene Nähe zurückzuholen. Manuel griff nach dem Rucksack, der an ihrem Esstisch lehnte und brachte ihn zu ihm.
»Bitte sehr, mein Bär. Ich habe dir Essen eingepackt, damit du nicht an Heiligabend zum nächsten Fastfood-Restaurant rennst.« Manuel hielt ihm den Rucksack hin, ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen, das Eric seit Wochen nicht mehr an ihm gesehen hatte. Er musste zugeben, dass es ihn überraschte, es ausgerechnet heute zu sehen – zusammen mit diesem verfluchten Kosenamen, den Manuel ihn schon sehr früh in ihrer Beziehung aufgedrückt hatte. Braune Haut, haarig wie ein Bär, hatte Manuel mal gesagt und Eric hatte nur gelacht. Aber er hatte sich damit abgefunden und mittlerweile fuhr eine angenehme Wärme durch seinen Körper, wenn Manuel ihn so nannte.
Eric nahm den Rucksack an sich. »Danke, Goldie.«
Sanftes Wesen, Goldlöckchen wie ein Golden Retriever.
Manuel legte eine Hand an seine Wange und verschloss ihre Lippen miteinander, kurz nur, so kurz, dass Eric murrend versuchte, seine Lippen wieder einzufangen, nachdem Manuel sich von ihm gelöst hatte. Doch der wich zurück und lachte. »Du kommst zu spät.«
»Spielverderber«, erwiderte Eric murrend, bevor er seinem Freund ein letztes Mal durch die Haare fuhr und sich schweren Herzens mitsamt seinem Rucksack zur Haustür begab. Manuel folgte ihm und warf ihm ein letztes, warmes Lächeln zu, ehe Eric nach seinem Schlüssel griff und die Haustür öffnete.
»Bis später«, sagte er leise, auch wenn der Impuls immens war, diese Uniform einfach wieder auszuziehen und bei Manuel zu bleiben. Doch er konnte ihn ohnehin nicht vor seinen dunklen Gedanken beschützen, das hatte er mittlerweile verstanden.
»Bis später. Pass auf dich auf«, erwiderte Manuel und wurde mit jedem Wort leiser.
Die letzten Worte versetzten Eric einen Stich, weil er wusste, wie ernst Manuel sie meinte – wie groß Manuels Angst war, noch jemanden zu verlieren.
»Im Ernstfall schiebe ich meinen Kollegen vor, der macht das schon«, feixte Eric und brachte seinen Freund zum Lachen. Manchmal die einzige Medizin, die ihnen half.
»Okay, okay. Jetzt verschwinde schon, du Clown.«
Glücklicherweise war sein Dienst tatsächlich ruhiger, als man das in dieser Nacht vermuten sollte. Einige Einsätze wegen Ruhestörung bekamen sie rein, den ein oder anderen Verkehrsunfall, und einmal einen eskalierten Familienstreit; nichts, womit sie nicht umgehen konnten. Aber er hatte seinen Streifendienst in der Nacht auch mit Georg, einem seiner älteren Kollegen, den er sehr schätzte. Er war erfahren und abgebrüht, zugleich aber locker und lustig. Ein bisschen traditionell vielleicht, aber das schob Eric auf dessen Generation. Immerhin konnte er sich nicht beklagen, dass jemand aus seinem Kollegium Probleme mit seiner Hautfarbe und Sexualität hatte, auch wenn Georg sich besonders an letzteres erst hatte gewöhnen müssen.
»Ich hab Kohldampf, halt hier mal an der Tanke«, sagte Georg, nachdem sie gerade von ihrem letzten Einsatz kamen – wieder eine Ruhestörung, die eigentlich keine war. Eric lenkte das Polizeiauto auf den Parkplatz der Tankstelle und schaltete den Motor ab.
»Mein Gott, lass den Motor ruhig an, wir müssen schließlich schnell wieder losfahren können!«
Eric schmunzelte. »Sei ruhig und hol dir was zu essen.«
»Immer so ein vorlautes Mundwerk«, murmelte Georg grinsend, ehe er das Fahrzeug verließ. Auch Eric stieg aus dem Wagen, aber nur, um seinen Rucksack aus dem Kofferraum zu holen. Sie waren bereits seit Stunden unterwegs und er hatte noch nichts gegessen. Er wühlte in dem Rucksack auf der Suche nach dem Essen, das Manuel ihm eingepackt hatte – fand stattdessen aber ein kleines, quadratisches Geschenk, das ihn die Stirn runzeln ließ. Vorsichtig nahm er es aus dem Rucksack und drehte es zwischen seinen Händen. Ihm entwich ein Glucksen, als er einen näheren Blick auf das Geschenkpapier warf. Braunbären im kindlichen Zeichenstil waren darauf abgedruckt, sie alle trugen ein blaues Hütchen, zwischen ihnen zierten blaue Blumen das Papier. Eric strich mit dem Daumen über einen der Bären und schüttelte den Kopf.
Nicht sein verdammter Ernst. Sie hatten sich nichts schenken wollen, verflucht noch mal. Außerdem, wie sollte er das Geschenk nun öffnen, ohne dieses Geschenkpapier zu zerreißen?
»Oh, von deinem Freund?«, ertönte plötzlich Georgs Stimme hinter ihm, die ihn herumfahren ließ. Georg biss herzhaft in sein Frikadellenbrötchen und grinste. Eric hob die Augenbrauen, ehe er ein zustimmendes »Mhm« ausstieß.
»Mach schon auf«, setzte Georg mit vollem Mund nach und entlockte Eric ein Schmunzeln. Sein Kollege konnte aber auch schamlos sein. Nichtsdestotrotz machte er sich daran, vorsichtig das Geschenkband abzuziehen und das Geschenkpapier an den Stellen sachte aufzureißen, an denen es zusammengeklebt worden war.
»Mach keine Wissenschaft draus und reiß es einfach auf«, forderte Georg, ehe er erneut in sein Brötchen biss.
»Das geht nicht, da bin ich drauf«, antwortete Eric und deutete auf einen der Bären.
Mit verengten Augen lehnte Georg sich vor. »Sind das… Bären?«
»Ja.«
Georg nickte langsam, aber ließ es unkommentiert. Er wusste nichts von ihren Kosenamen, die Manuel und er sich gegeben hatten, doch vermutlich konnte Georg den Zusammenhang erahnen. Nachdem Eric das Geschenkpapier abgezogen hatte und das Geschenk betrachtete, schlich sich ein Lächeln auf seine Lippen, während es in seinem Bauch kribbelte.
»Eine Schneekugel?«, fragte Georg.
Nicht nur irgendeine Schneekugel. Darin saßen ein Braunbär und ein Golden Retriever, ein bisschen kindlich gestaltet, aber wunderschön. Eric schüttelte die Schneekugel und ließ weiße Kügelchen auf die beiden Tiere hinabfallen. Verzückt betrachtete er das Schauspiel und vergaß regelrecht, dass er eigentlich im Dienst war. Und er wünschte sich gerade nichts mehr, als bei Manuel zu sein und mit den Fingern sanft durch seine Haare zu gleiten, während er ihm in seine himmelblauen Augen schaute. Verdammt, er liebte diesen Kerl.
Letzten Endes war es Georg, der ihn mit einem Räuspern aus seinen Gedanken holte. »Ich habe übrigens auch was für dich.«
Eric legte den Kopf schief, als Georg etwas aus seiner Papiertüte holte, die er von der Tankstelle erhalten hatte. Eine Tafel Schokolade.
»Merry Christmas«, sagte Georg und hielt ihm die Schokolade hin.
Grinsend nahm Eric sie an sich. »Danke, Georg. Ich befürchte, ich muss jetzt auch noch mal in die Tankstelle.«
Georg lachte. »Ach quatsch. Ich habe das nicht nötig.« Er klopfte auf seinen rundlichen Bauch, ehe er demonstrativ den Rest seines Brötchens in seinen Mund schob.
Eric verdrehte die Augen und wollte gerade etwas erwidern, als eine Stimme durch das Funkgerät einen neuen Einsatz ankündigte – konditioniert sahen sie beide zum Auto und lauschten, ehe Eric seufzend das Geschenkpapier zusammenfaltete und es bedacht zurück in den Rucksack schob, gefolgt von der Schneekugel. Dabei hatte er nun nicht mal etwas essen können.
Es war früh am Morgen, als Eric vor seiner Haustür stand und seinen Schlüssel aus dem Rucksack zu fischen versuchte. Wo war das verfluchte Ding? Gerade als er das Klimpern seines Haustürschlüssels im Rucksack hörte, wurde die Tür auch schon aufgerissen. Eric starrte hoch, mitten in das Gesicht seines Freundes, und grinste. »Guten Morgen, Goldie.«
»Guten Morgen, mein Bär«, erwiderte Manuel und selbst die mittlerweile tiefen Augenringe konnten nicht über sein warmes Lächeln hinwegtäuschen. Eric legte eine Hand an seine Brust und schob ihn sanft nach hinten, damit er die Haustür hinter sich schließen konnte. Danach zog er Manuel an seinem Pullover an sich und küsste ihn. Beinahe sehnsüchtig legte Manuel seine Arme um ihn, ehe er sein Gesicht in Erics Halsbeuge vergrub. Eric hielt ihn fest und streichelte ihm sanft über seinen Rücken; einige Sekunden standen sie so da, aber Eric wollte seinem Freund all die Zeit geben, die der brauchte.
Als sie sich voneinander lösten, umfasste Manuel Erics Gesicht mit seinen Händen und musterte ihn ausgiebig, als hätten sie sich Wochen nicht mehr gesehen.
»Ich weiß, dass ich außerordentlich schön bin, aber ich würde gerne langsam diese Uniform loswerden.«
Manuel lachte. »Lass es mich doch ein paar Sekunden genießen.«
»Na gut. Aber nur noch fünf.«
Sanft streichelte Manuel mit dem Daumen über seine Wange und nahm die Worte offensichtlich sehr ernst – denn nach beinahe genau fünf Sekunden verschloss er ihre Lippen miteinander, ehe er von ihm abließ und ins Wohnzimmer ging.
Nachdem Eric sich aus seiner Uniform gezwängt und im Badezimmer frisch gemacht hatte, kehrte er zu seinem Rucksack zurück, um das Geschenk samt Geschenkpapier herauszufischen. Auf dem Weg in das Wohnzimmer hielt er beides in der Hand, ein breites Grinsen auf den Lippen. Manuel musterte ihn von der Couch aus und lächelte.
»Wir wollten uns nichts schenken.«
»Ich konnte nicht anders«, erwiderte Manuel.
»Wie hast du es überhaupt geschafft, so eine Schneekugel zu finden?« Eric kam neben der Couch zum Stehen und hielt die Schneekugel in die Luft. Demonstrativ schüttelte er sie, um ein weiteres Mal weiße Flocken auf den Bären und den Golden Retriever hinabregnen zu lassen.
»Individualisiert. Cool, oder?«
Eric lächelte. »Sie ist wunderschön. So wie du.«
Manuel atmete tief ein und wandte den Blick ab, ein unterdrücktes Grinsen auf den Lippen. So war es meistens, denn Komplimente anzunehmen fiel ihm besonders schwer, auch wenn er sie insgeheim genoss.
»Und das?« Eric wedelte mit dem Geschenkpapier in seiner anderen Hand.
Ein Kichern entwich Manuel, das Eric die Wärme in die Brust trieb. Es war so unbeschwert, wie er ihn selten in der Weihnachtszeit erlebte.
»Das war Zufall. Ich musste einfach an dich denken, als ich das gesehen habe.«
»Natürlich«, murmelte Eric mit einem Schmunzeln auf den Lippen. »Aber jetzt bringe ich es nicht übers Herz, das Papier wegzuschmeißen. Ich meine, schließlich bin ich da drauf. Von den komischen Hüten mal abgesehen…«
Diesmal wurde aus Manuels Kichern ein Lachen. »Selbstverliebter Clown.«
Als Eric ihn empört ansah, setzte Manuel eine engelsgleiche Unschuldsmiene auf und klimperte regelrecht mit den Wimpern. Eric zog zischend Luft ein. So würde er diesem Typen niemals böse sein können.
»Aber das Papier sieht doch noch gut aus, also pack es weg, dann kann ich es wiederverwenden«, setzte Manuel nun nach. »Recycling und so.«
»Recycling? Genau genommen ist das kein – «
»Halt den Mund«, fuhr sein Freund dazwischen und klopfte fordernd auf die Couch. »Komm einfach her.«
Na, das ließ Eric sich nicht zweimal sagen.
Vorsichtig legte er sowohl das Geschenkpapier als auch die Schneekugel auf dem Beistelltisch ab, ehe er seinen Platz an Manuels Seite einnahm. Nicht nur das, er kroch regelrecht über ihn und drückte ihn sanft nach unten, bis Manuel mit dem Rücken auf der Couch lag und gezwungenermaßen seine Beine auf die Sitzfläche legte. Für einen kurzen, schwachen Moment war Eric versucht, eine Hand unter den grauen Pullover seines Freundes zu schummeln, aber es brauchte nur einen Blick in dessen Gesicht, um den Gedanken wieder zu verwerfen. So sehr Manuel es auch zu verbergen versuchte, ihm konnte er selten etwas vormachen. Also ließ Eric sich neben ihm auf die Couch fallen und umschloss ihn stattdessen mit seinen Armen, streichelte ihm sanft über den Oberarm.
»Du kannst nicht aufhören, an sie zu denken, oder?«, flüsterte Eric.
Manuel vermied es, ihn anzusehen, doch das schwache Nicken war Antwort genug. Eric drückte sich ein wenig fester an ihn und verteilte sanfte Küsse in seiner Halsbeuge. Ein leises Glucksen entwich seinem Freund, ehe er einen Arm um Eric legte. Der wiederum sah überrascht auf und traf auf blaue Augen, die ihn anfunkelten.
»Es wird besser«, sagte Manuel. »Vor allem, wenn du bei mir bist.«
»Dann bleib ich besser hier, hm?«
»Was anderes würde ich dir auch gar nicht erlauben«, entgegnete Manuel neckisch und streichelte sanft Erics Rücken. »Du bist meine Familie, Eric.«
Im ersten Moment fuhr ein Ruck durch Erics Körper, ehe er realisierte, was sein Freund da gerade gesagt hatte. Perplex starrte er ihn an; starrte ihm in die schönen, erwartungsvollen Augen und wiederholte die Worte in seinem Kopf, wieder und wieder, um auch ja sicher zu gehen, dass er sie richtig verstanden hatte.
Du bist meine Familie.
Das war ein Zugeständnis, das Eric niemals erwartet und ganz bestimmt nicht gefordert hatte. Es dennoch zu hören, erfüllte ihn mit einer Wärme, die ihn wie ein verdammtes Honigkuchenpferd grinsen ließ. Er rückte noch ein Stück näher an seinen Freund, bis er zur Hälfte auf ihm lag, aber es kümmerte ihn nicht. Jedes bisschen Nähe mehr, das er kriegen konnte, war ihm recht. Sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von Manuels entfernt; er konnte dessen Atem spüren.
»Ich glaube, dir ist nicht bewusst, was du da gesagt hast, Goldie.«
Manuel schmunzelte. »Meinst du?«
»Ja«, sagte Eric. »Nach den Worten wirst du mich offiziell nie wieder loswerden. Damit ist es amtlich.«
»Oh nein, ich hätte das Kleingedruckte lesen sollen«, erwiderte Manuel und lachte leise, ehe er Eric einen kurzen, sanften Kuss auf die Lippen drückte.
»Spinner«, nuschelte Eric gegen seine Lippen, bevor er sich einen weiteren Kuss stahl. Und noch einen. Er würde Manuel nie mehr loslassen. Nicht an Heiligabend und auch nicht an den übrigen Tagen des Jahres. Nie mehr.