Verpackt und gewappnet wie für einen nuklearen Winter trat Elano vor die Tür des Mietshauses in Vancouver. Hart schlug der Winterwind in sein Gesicht und fast wollte er umdrehen und wieder in seine warme Wohnung fliehen. Die ungewohnte Kälte fraß sich durch seinen Mantel und ließ ihn bis ins Mark erschaudern. Sofort fing die Nase zu laufen an und mit zitternden Fingern suchte er in den Taschen nach seinem Autoschlüssel. Durch den dicht bewölkten Himmel war es dunkler als es für die Uhrzeit sein sollte. Das brachte die Weihnachtslichter und die Dekorationen zwar zum Strahlen, doch für Elano war es zu trist. Die Sehnsucht nach der Sonne brannte in ihm, ebenso die nach den durchschnittlich 30°C in seiner Heimatstadt.
Wieder fragte er sich, warum er sich ausgerechnet Kanada für sein Auslandsjahr ausgesucht hatte. Und warum es gerade das Wintersemester hatte sein müssen!
Es hatte die ganze Nacht geschneit. Der Winterdienst hatte die Straßen bereits geräumt, doch der Parkplatz war noch immer ein einziges Eismeer. Es dauerte einige Minuten, bis Elano den Wagen fand, den er sich für seinen Aufenthalt in Vancouver gemietet hatte. Die frostige weiße Masse hatte die Aufschläge seiner Jeans bereits steif frieren lassen und die Kälte kroch ihm die Beine hoch.
Die anfängliche Faszination und Freude darüber, zum ersten Mal in seinem Leben echten Schnee zu sehen, war für Elano bereits vollkommen verflogen. Es war nur ein weiterer Punkt auf seiner Liste, warum er wieder nach Hause wollte. Alles war so verdammt kalt in Kanada!
Schnaufend schob Elano den Schnee von seinem Auto, dabei unaufhörlich in seiner Muttersprache vor sich hin fluchend. Seine Hände wurden trotz der Handschuhe kalt und die Wangen brannten, denn immer noch pfiff der Wind unerbittlich um das hohe Wohnhaus aus roten Backsteinen. Elano mochte die Architektur Vancouvers.
Nachdem er umständlich die Windschutzscheibe freigeschaufelt hatte, stand er unerwartet vor einem neuen Problem. Die Scheibe war nicht nur mit Schnee, sondern auch dick mit Eis bedeckt. Überfordert mit der Situation, versuchte Elano, die Schicht mit der Hand abzukratzen, was natürlich zu nichts weiter als schmerzenden Fingern führte.
»Caralho!«, fluchte er vernehmlich und lehnte sich an die Motorhaube. Seufzend betrachtete er die Weihnachtslichter, mit denen die Fenster und die Straßenlampen geschmückt waren. Anders als zuhause hatten die Bäume hier ihr Laub verloren und ragten kahl in den stahlgrauen Morgenhimmel. Elano hätte gern den Herbst in all den feurigen Farben erlebt, stattdessen bekam er Schnee. Zuhause hatten weder seine Freunde noch seine Familie je Schnee gesehen außer in amerikanischen Filmen.
»Hey Kumpel, gibt‘s Probleme?« Elano wurde von einer Stimme aus den Gedanken gerissen, die ihm nur vage bekannt vorkam. Als er sich herumdrehte, blickte er in das fragende Gesicht eines Typen mit so roten Haaren, dass sie selbst in der Farblosigkeit des Morgens noch leuchteten. Elano hatte ihn bereits einmal im Hausflur getroffen.
»Die Scheibe ist zugefroren«, murmelte er und zuckte mit den Schultern.
»Hast du denn keinen Eiskratzer im Handschuhfach?«
Elano drehte sich zu dem Rothaarigen herum und sein Gesicht schien so sehr ein einziges Fragezeichen zu sein, dass der zu kichern anfing. Dabei bemerkte Elano, dass nicht nur seine Haare, sondern auch seine Augen leuchteten. Sie waren blau.
»Was für ein Ding?«
»Oh, du bist nicht von hier, oder?«
»Wie kommst du darauf?«
»Dein Akzent. Warte.« Der Rothaarige zog ein dünnes Gerät aus seiner Jackentasche. Elano fröstelte schon nur bei seinem Anblick, denn er trug weder einen Schal noch eine Mütze noch Handschuhe. »Hier. Ein Eiskratzer. Eigentlich hat jeder einen. Das mit der Scheibe wird dir noch öfter passieren und das hier geht schneller als dich ins Auto zu setzen und die Heizung anzumachen.« Er hielt Elano den Kratzer hin, der ihn nahm und ratlos ansah.
»Und damit ... kratze ich über die Scheibe?«
»Ja!« Der Rothaarige lachte auf. »Hast du denn noch nie eine eingefrorene Scheibe gehabt?«
»Nein«, murmelte Elano. »In meinem Heimatland gibt es keinen Schnee.«
»So? Wo kommst du her? Wenn ich fragen darf.«
Elano probierte sich umständlich am Eiskratzen und musste auflachen, als es tatsächlich funktionierte. Er war so konzentriert, dass er erst viel später bemerkte, dass der Andere ihm eine Frage gestellt hatte.
»São Paulo.«
»Na dann, wenn dir das Einfrieren der Scheibe schon komisch vorkommt, dann warte mal, bis dir die Türschlösser zufrieren.«
»Was, bitte?« Elano schnappte nach Luft und der Rothaarige lachte wieder. Er hatte Grübchen in den Wangen und nebenbei bemerkte Elano den kleinen Regenbogen-Button an seinem Jacken-Revers. Das ließ ihn erröten und er wandte sich ab.
»Ja. Deswegen solltest du immer Türschlossenteiser in der Tasche haben, nicht nur im Auto. Da nutzt es dir nichts, wenn du nicht hineinkommst. Aber zur Not tut es auch mal ein Feuerzeug.«
»Ich bin wirklich kein Wintermensch.«
»Man gewöhnt sich dran.« Der Rothaarige nahm den Eiskratzer von Elano zurück und wandte sich zum Gehen herum. Er machte zwei Schritte, bevor er sich erneut herumdrehte.
»Hey, wie heißt du?«
»Elano Luiz Rossi do Rosario.«
»Wow, das nenne ich mal einen Namen!« Das Lachen des Rothaarigen ließ auch Elano lächeln. »Dagegen heiß ich nur William Hollander.«
»Spricht nichts dagegen.«
Die beiden lächelten einen Moment, als die Wolkendecke aufbrach und eine blasse, aber helle Sonne den Schnee glitzern ließ, der sie umgab. Die roten Haare leuchteten nun wie eine Flamme.
»Na gut, ich schätze, man sieht sich bestimmt wieder.« William grinste und mit einem Zwinkern drehte er sich herum, um zu seinem eigenen Wagen zu schlendern.
Elano schmunzelte. Als er daran dachte, etwas zu haben, was die Kälte des kanadischen Winters vertrieb, hatte er keinen Flirt gemeint, doch das Auslandsjahr war gerade noch etwas spannender geworden.