Eigentlich dachte ich, meine Oma wäre zu alt für sowas. Sie hatte nie Ambitionen in diese Richtung gezeigt. Wenn ich an Oma dachte, dachte ich an 60er Jahre Hippiekomune. Das höchste der Gefühle bei dem Thema Körperkunst hatte da was mit einem Eimer Farbe zutun. Den konnte man leicht abwaschen. Etwas dauerhaftes, dass man nicht mehr abbekam? Etwas wie dieser fullsleeve an meinem linken Bein, der eigentlich dazu diente, meine Narben zu kaschieren? Sowas brachte ich mit meiner Oma nicht in Verbindung.
Ihr denkt jetzt bestimmt an so eine Sandalettenoma, die im Batikshirt mit Rosa Sonnenbrille und Blumen im Haar alte Beeye-Platten hört. Das war meine Oma auch nicht. Sie bevorzugte zurzeit schwarze Jeans und weiße Blusen und sah so aus, wie es ihr Beruf vorschrieb. Sie ist eine verdammt gute Anwältin für internationales Recht und vertritt Soziale Firmen bei solchen Problemen. Noch ein Grund, warum ich mir dauerhafte Kunst an ihrem Körper nicht vorstellen konnte. Und trotzdem war die da.
"Oma? Was hast du da am Arm", wollte ich wissen, als ich am späten Nachmittag zu meinem Frühstück und ihrem was auch immer in die Küche trat. Es war Sommer und und wir waren beide entsprechend luftig bekleidet. Ich nur im Bikini und sie in einem Longshirt, das Teile ihres normalerweise bedeckten Armes freiließ.
"Ach das, das soll der Eifellturm sein. In unterschiedlichen Bauphasen."
"Das ist von Petrus, oder?"
Petrus Garlani war einer meiner Freunde aus Spanien und begnadeter Tättowierer. Alle meine Tattoo waren von ihm. Das wenige, was ich von ihrem sah, zeigte die gleiche wundervolle Detailtreue. Er war ein echter Meister. Trotzdem, sowohl das Motiv als auch die Tatsache, das meine Oma überhaupt ein Tattoo trug, war für mich komplett befremdlich.
"Warum?"
"Geteiltes Leid."
"Du hast den Eifellturm auf deinem Arm, weil du ihn geteilt hast?", fragte ich ungläubig.
"Bei Jelena passte er nicht vollständig drauf. Sie wollte ihn aber unbedingt."
Jelena, die Jugendliche Freundin und Geliebte meiner Oma, studierte Bauingenieurswesen und zu ihr passte der Eifellturm viel eher als zu meiner Oma.
"Na, Langschläferin? Auch schon wach geworden? Muss echt ne heisse Nacht gewesen sein", grinste besagte im Bikini von der Terassentür aus. Auf deren Arm sah ich das gleiche Tattoo wie ich es auf meiner Oma sah. Sie trat an mir vorbei, stellte sich neben sie und klaute sich ein Stück Wassermelone vom Schneidbrett. Von hinten sah man, dass die beiden Motive perfekt aufeinander abgestimmt waren. Eine perfekte Meisterleistung.
"Warum trägt meine Oma deine Passion?", wollte ich trotzdem ungehalten wissen.
"Hat sie das gesagt?", fragte Jelena.
"Ich habe bisher nur vom geteilten Leid erzählt", erklärte meine Oma, immer noch mit dem Rücken zu mir.
"Aber du hast ihr nicht erzählt, welches Leid du meinst, oder?", fragte Jelena.
"Du kamst dazwischen."
Oma räumte das Messer in die Spüle und drehte sich um. Von vorne sah ich dann ein Unterschied in den Tattoos. Bei Jelena sah ich eine Frau mit einem Helm und Zeichenrollen unter dem Arm. Bei meiner Oma zwei Frauen mit einem Baby zwischen sich.
Ich wusste, was diese Szene bedeutete. Es war etwas aus meiner Vergangenheit. Geteiltes Leid. Meine Mutter war fast so Jung wie meine Oma gewesen, als sie mit mir schwanger war. Meinen Opa kannte ich nicht, weil Oma schon nicht genau wusste, wer es gewesen sein konnte. Die halbe Komunne kam dafür in Frage. Bei Mama wusste es Oma jedoch genau, hatte sie doch meinen Vater darauf festgenagelt. Und so war sie nach Paris gefahren und hatte meine Mama und mich in den Schoß der Familie Tributaris geholt. Die ersten Jahre hatte sie sich um mich gekümmert, damit Mama weiter zur Schule konnte und studierte. Das war die Geschichte dieses Tattoos.
Mein Oma ist einfach die beste tätowierte Oma der Welt.