Viel Spaß mit dem 23. Türchen des Adventskalenders 2022 von Riley Mcforest!
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24. Dezember 1914
Dieser Winter war kälter als all seine Vorgänger.
Diese Erkenntnis traf Erika bereits zum etwa hundertsten Mal und doch konnte sie sich nicht recht erklären, woran es eigentlich lag. Der Wind strich der Frau mittleren Alters mit Eishänden über die Wangen und ließ diese brennen, während sie ihre Einkäufe nach Hause trug. Wäre es nur die Temperatur, die niedriger war als jemals zuvor, wäre dieser Winter nichts Besonderes. Nein, Erika hatte das Gefühl, dass ebenfalls die Menschen kälter geworden waren. Seit sich das ganze Land im Krieg befand, schien es bergab zu gehen mit der Gesellschaft. Nicht nur, dass einem Sohn, Vater und Ehemann gestohlen wurden, einem wurde auch plötzlich der Staat in die Hand gelegt, damit man diesem am Laufen hielt, wenn sonst schon keiner da war, um den Job zu machen. Deutschland stand Kopf und trotzdem gab es so viele Menschen, die dem Kaiser zujubelten, ihm freiwillig das Leben ihrer Familie überließen und den Krieg so lange weitergehen lassen wollten, bis England und Frankreich als Großmächte verdrängt worden wären. Das Volk hatte sich von der wahnwitzigen Euphorie mitreißen lassen. Und jeder, der wie Erika, und der Rest der Familie Magard, all dem Treiben eher kritisch gegenüberstand, hatte sich selbst aus der warmen Gemeinschaft verbannt und war nun der Unbarmherzigkeit des Gegenwindes ausgesetzt.
So auch bei der alten Metzgerin, bei der die Frau den bereits vor Wochen bestellten Weihnachtsbraten abgeholt hatte. Isolde, die sonst eher schweigsam ihrer Arbeit nachging und statt Belanglosigkeiten lieber hin und wieder ein mütterliches Lächeln hatte sprechen lassen, hatte heute kein anderes Thema als den Krieg gekannt. Wie stolz die Metzgersfrau doch gewesen war, dass sich sowohl ihr Sohn als auch ihr ältester Enkel freiwillig gemeldet hatten, um für ihr Vaterland zu kämpfen. Es war sogar so weit gegangen, dass sie ihrem Mann Heinrich vorgeworfen hatte, sich vor seiner Pflicht zu drücken, wo er doch bereits schlecht zu Fuß und gezeichnet vom Alter war. Doch als Frau hatte man wohl leicht reden, wenn man nur andere dazu anstiften musste, sich für einen höheren Zweck zu opfern, während man selbst so gut wie außer Gefahr war.
Dieser verblendeten Patriotin beim Reden zuzuhören, machte Erika bewusst, dass es gut gewesen war, allein die Weihnachtseinkäufe zu machen. Eigentlich hatte sie vorgehabt, eines ihrer verbliebenen Kinder zu bitten, sie zu begleiten, doch je weniger diese von diesem gefährlichen Kaisergehorsam mitbekamen, desto beruhigter konnte die Bäuerin sein. Egal wie schwer der Braten und wie beschwerlich dadurch der Weg zurück zum Hof war, dieses Wortgift, das sich durch das ganze Dorf fraß, wollte Erika nicht in der Nähe ihrer Kinder wissen. Denn Alte wie sie selbst, die schon einiges vom Leben gesehen und sich damit eine eigene Meinung gebildet hatten, die waren schwer umzustimmen, wenn sie einmal für oder gegen etwas waren. Doch die Jungen, die ihren Weg erst noch finden und Ordnung in all das Chaos bringen mussten, könnten noch angesteckt werden von der Kriegseuphorie, wenn sie von dieser nur oft genug zu hören bekämen. Und noch ein Familienmitglied, das sich selbst aufgrund falscher Überzeugungen zugrunde richtete, konnten sich die Magards nicht leisten.
Trotz vereister Straßen und der Kälte, die der Frau mittleren Alters Schritt für Schritt in die Knochen kroch, kam es ihr wie damals vor, als sie mit Freundinnen den Weg von der Dorfschule nach Hause gegangen war. Auch wenn die allsehenden Augen eines Kindes mittlerweile mit den trüben eines Erwachsenen ersetzt wurden, machte es den Weg deutlich leichter, sich in die Vergangenheit zurückzuversetzen. Als Kind hatte Erika nichts von der Welt da draußen gewusst und war zufrieden damit gewesen. Was gab es auch schon mehr zu wissen als das, was die Lehrer und die eigenen Eltern einem beibrachten? So viel einfacher war damals alles gewesen. Ohne Krieg, ohne Sorgen, wie man seine Familie durch den Winter brachte und ohne das Leid, das die Familie wie einen Fluch heimzusuchen schien. Sich in die Vergangenheit zu flüchten, machte sogar die Welt einen Moment lang wärmer. Der Schnee schien zu schmelzen und es fühlte sich an, als würde Erika auf Wolken laufen, die sie mit jedem Windhauch näher ihrem Heim brachten.
So dauerte es auch nur wenige Augenblicke, bis die Dunkelblonde wieder vor ihrer Haustür stand. Zumindest sagte das das Zeitgefühl, das auf dem Weg abhandengekommen zu sein schien. Doch das spielte keine Rolle. Der Mantel der Nostalgie fiel mit dem vertrauten Knarzen der Tür zu Boden und Erika empfing herzliche Wärme, die sofort jeden Gedanken an die Kälte verdrängte. Der Rest der Welt konnte nun wieder ausgesperrt werden und ein Gefühl der Geborgenheit stellte sich ein. Endlich hatte der Wahnsinn ein Ende.
»Willkommen daheim, Mutter.«
Noch bevor Erika etwas auf diesen fast schon zwitschernden Gruß erwidern konnte, hatte Gerda, das jüngste der drei Magard-Kinder, schon den Braten an sich und ihrer Mutter damit eine gewaltige Last abgenommen. Erika war überrascht, dass die Vierzehnjährige bereits mit ihren Pflichten für den Tag fertig zu sein schien und nur auf die Heimkehr der Einkaufenden gewartet hatte. Doch eigentlich gab es dabei nichts, was sonderlich verwunderlich wäre. Immerhin war Gerda schon immer tüchtig gewesen und klug genug, Aufgaben schnell und gut zu erledigen, damit sie mehr Zeit hatte, einfach nur Kind zu sein.
»Wo sind die anderen?«, fragte Erika, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte.
Gerda ließ ein fast stummes Ächzen verlauten, während sie versuchte, das Gewicht des Bratens gleichmäßig in ihren Armen zu verteilen. »Kurt ist noch auf den Feldern, aber ich weiß nicht genau, was er da macht. Vielleicht ist er auch schon zurück und repariert das Loch im Hühnerstall, worum du ihn schon vor einer Weile gebeten hast. Und Franziska ist mit Klara oben.«
Alles war alles wie immer. Das beruhigte Erika zutiefst. Seitdem der Sommer Chaos über das Land hatte hereinbrechen lassen, war so ein kleines Stück Normalität ein Geschenk, das man gar nicht genug wertschätzen konnte. So konnten sich die beiden auch seelenruhig den Festvorbereitungen zuwenden. Heute war ein Tag, der allein der Familie gewidmet war. Alles andere konnte warten.
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Es war alles vorbereitet und dennoch fehlte etwas. So sehr sich die Stube auch in Festtagsschmuck gewandet hatte, wie sehr sich auch der Tisch unter der Last des von den Magard-Frauen vorbereiteten Mahles bog, über die zwei Plätze, die dieses Jahr leer bleiben würden, konnte nichts hinwegtäuschen. Dass die Familie nicht vollzählig war, war auch schon vor Heiligabend spürbar gewesen, doch gerade heute legte sich dieser Umstand wie ein Schleier über die Festtagsstimmung und dämpfte diese so sehr, bis kaum mehr etwas von ihr übrigblieb. Trotz allem versuchten die Verbliebenen krampfhaft, die gegenwärtige Situation auszublenden. Nur gelang das niemandem so recht. Wie auch, wenn man es nicht einmal gewagt hatte, die nicht gebrauchten Stühle wegzustellen, um die Realitätsflucht zu erleichtern? Vermutlich hätte es aber auch nicht das Geringste geändert. Die Schwere ließ sich nicht durch das Verrücken von Möbelstücken vertreiben.
Selbst Franziska, die für gewöhnlich den ersten Tag des Weihnachtsfestes gemeinsam mit dem kleinen Töchterchen im Hause der eigenen Eltern verbracht hätte, hatte sich heute nicht aus dem Haus der Schwiegermutter hinausgetraut. Dort draußen war schließlich der Krieg, der schon so viel zu viel Raum einnahm. Da wollte man sich nicht noch ins Kreuzfeuer ehemaliger Soldaten begeben, die nur vom Tod und Leid der Feinde schwärmen würden. Wie immer zu Weihnachten bei den Hechts, die stolz auf ihre Tradition der Kriegstreiberei waren. Gerade Klara, die erst drei Jahre alt war und die Welt noch durch einen Schleier kindlicher Unbescholtenheit wahrnahm, würde am Ende nur angesteckt werden von der Euphorie, die allen anderen bereits den Verstand geraubt hatte.
Vielleicht hatte die junge Frau sich aber auch nur dem schlechten Gewissen ergeben. Wie würde es denn aussehen, wenn man die Schwiegerfamilie, die sich seit Beginn des Krieges in Trauer vor der Welt versteckte, an einem Tag wie Heiligabend allein ließe? Vielleicht bereute ein Teil im Inneren der jungen Frau, sich gegen die eigene Familie und für dieses Trauerspiel entschieden zu haben. Dennoch saß sie mit am Tisch und ließ die Festlichkeiten über sich ergehen, die man kaum als solche bezeichnen konnte.
Das bedrückende Schweigen, das sich seit dem Auftragen des Festtagsmahles breitgemacht hatte, ließ sich nicht recht vertreiben. Jedes noch so banale Gespräch starb nach nur wenigen Minuten. Es war einfach nicht mehr dasselbe wie vor drei Jahren, als die Welt noch in Ordnung und Weihnachten ein Fest des Frohsinns und der Herzensgüte gewesen war.
»Ich vermisse Papa.«
Mit diesem einen Satz sprach die kleine Klara das aus, was alle im Raum zu verdrängen versuchten. Dieses Kind, das eigentlich herumtollen und Energie für vier haben sollte, um Leben in dieses heute so tote Haus zu bringen, war wie versteinert und saugte die Grabesstimmung der Älteren in sich auf. Nur die Stille hatte dem Mädchen scheinbar nicht mehr gepasst – sonst hätte es wohl nicht versucht, das Thema auf das zu lenken, was im Moment wirklich zählte.
Niemand antwortete dieser stummen Anklage. Was hätte man auch sagen sollen, um der Jüngsten in der Runde Trost zu spenden? Stattdessen hingen alle Anwesenden ihren eigenen Gedanken nach, die sich um die drehten, die heute nicht anwesend sein konnten.
Da war zum einen Otto, der eigentlich die Rolle des Familienoberhauptes hätte einnehmen sollen und mit Erika zusammen diesen Familienzweig begründet hatte, aber bei einem Unfall bei der Ernte vor zwei Jahren viel zu früh ums Leben kam. Und als hätte dieser Verlust nicht gereicht, hatte sich nur ein Jahr später der älteste Sohn Johann freiwillig gemeldet, in den Krieg zu ziehen. Weil er seinen verblichenen Vater hatte stolz machen wollen und sich der Aufgabe als neues Zentrum der Familie nicht gewachsen gefühlt hatte. Einen Mann im Jenseits und einen in der Ungewissheit war zu viel, um nicht in Verbitterung und Trauer zu versinken. Da leuchtete es sicher jedem Außenstehenden ein, dass der Gram alles andere überdeckte und es keinen Trost zu spenden gab, wenn alle doch mit sich selbst beschäftigt waren.
»Er wird sicher bald wiederkommen.«
Damit wischte Franziska das Thema vom Tisch und ließ das Schweigen zurückkehren, dass plötzlich nicht mehr nur bedrückend war, sondern alle Anwesenden förmlich erdrückte. So viele Worte blieben unausgesprochen und das Essen schmeckte wie der Staub, der leise auf die seelenlosen Statuen niederrieselte, die einst noch Menschen gewesen waren. Und wieder hingen alle ihren Gedanken nach, die zu laut waren, um sie auszusprechen. Dabei hätten ein paar geteilte Erinnerungen und Geschichten über die verblichenen Familienmitglieder sicher die Stimmung aufgelockert.
Erst ein Klopfen an der Tür ließ alle Anwesenden zusammenzucken und zurück in die Gegenwart kehren. Was zuerst nur Einbildung zu sein schien, machte auf den zweiten Blick mehr als nur stutzig. Es wurde kein Besuch mehr erwartet und so isoliert wie die Magards seit einigen Jahren lebten, würde es auch kein Fremder wagen, das Gehöft zu betreten. Vor allem nicht an einem Tag wie diesem, an dem nichts dringlicher sein konnte, als bei seinen Liebsten zu sein. Wer also stand dort und klopfte, als hätte er vergessen, dass Heiligabend war?
Schließlich entschied sich Erika dazu, den ungebetenen Gast nicht zu ignorieren, sondern zumindest nachzuschauen, um wen es sich da handelte. Die Hausherrin rechnete mit einem Bettler, der sich bis hierher verirrt hatte, um die weichen Herzen der Feiernden für ein paar milde Gaben zu nutzen und den sie abweisen würde, da es im Moment nichts gab, was sie ihm hätte überlassen wollen.
Jedoch stand da kein Fremder, sondern jemand, den man insgeheim für tot gehalten hatte. Erika wollte ihren Augen nicht trauen und brauchte einen Augenblick, um zu verstehen, dass das keiner ihrer vielen Träume, sondern die Realität war – Johann hatte seinen Weg von Schlachtfeld nach Hause gefunden. So unwirklich dieses Wiedersehen auch wirkte, als Erika ihren Sohn in die Arme schloss, wusste sie, dass er es war. Das war keine Verwechslung aus Verzweiflung oder ein Trugbild, das gleich wieder verschwinden würde, sobald man zur Besinnung kam. Das Familienoberhaupt war zurückgekehrt und genau rechtzeitig, um dieses Weihnachtsfest nicht zur Tragödie verkommen zu lassen.
»Was machst du denn hier draußen? Es ist zu kalt, um wie ein Fremder zu klopfen und zu warten, bis dich jemand einlässt.«
Kaum hatte die Frau diese Worte ausgesprochen, begann auch schon das Schluchzen. Überwältigt von all der Erleichterung, den ältesten Sohn nicht an der Front, sondern hier in den eigenen Armen zu wissen, ließ die Tränen fließen, die Erika viel zu lang zurückgehalten hatte.
»Ich habe doch versprochen, dass ich Weihnachten wieder zuhause bin«, antwortete Johann leise. Seine Stimme wieder zu hören, gab seiner Mutter den Rest. Sie erstarrte regelrecht und hielt diesen Moment so lange fest, bis der Heimkehrer sich aus der Umarmung löste und gemeinsam mit Erika das Haus betrat.
Zusammen mit Johann kehrte Leben ein. Als die restlichen Familienmitglieder ihn sahen, sprangen sie regelrecht auf und wenig später war der junge Mann von seinen Liebsten umringt, die ihn mit Unglaubensbekundungen und Freudenrufen geradezu überschwemmten. Erst als wieder halbwegs Ruhe eingekehrt war, kam Johann zu Wort. Sein altbekanntes Spitzbubengrinsen blitzte für einen Moment auf und er drückte Klara, die ihm als erstes in die Arme gesprungen war und sich seitdem an ihren Vater klammerte, etwas mehr an sich.
»Es ist Weihnachten, natürlich komme ich da nach Hause. An der Front herrscht Frieden. Selbst unsere Feinde wollen das heiligste aller Feste nicht stören. Ich kann nur nicht lange bleiben und hatte nicht die Zeit, Geschenke zu kaufen. Verzeiht mir.«
»Dass du hier bei uns bist, ist uns Geschenk genug«, antwortete Franziska beinahe empört, was Johanns bedrückte Miene wieder erweichen ließ.
»Dann lasst uns essen«, wand sich der junge Mann aus der Rolle als Hauptperson des Geschehens und die Familie ging dazu über, die Festlichkeiten fortzusetzen.
Natürlich nicht, ohne Johann auszufragen über den Krieg, was er dort auf dem Schlachtfeld erlebt hatte und wie seine Heimreise verlaufen war. Jede Frage beantwortete der junge Mann so gut er konnte und gerade wenn er auf seine Kameraden an der Front zu sprechen kam, vergaß er vor lauter Eifer oft zu essen, so sehr wurde Johann von seinen Erinnerungen vereinnahmt. Niemand außer ihm konnte in Gänze erfassen, wovon er da sprach, doch das spielte keine Rolle. Die Familie war endlich wieder vollständig. So lauschten alle Anwesenden gespannt den Erzählungen über Schrecken und Kameradschaft, die sich eigentlich nicht in Worte fassen ließen.
Sie wussten alle, dass Johann nicht alles erzählte. Zwar kam er hin und wieder darauf zu sprechen, wie es war, unter Beschuss zu stehen und wie groß die Angst war, die ihn Tag und Nacht an der Front begleitet hatte, doch die Schilderungen waren seicht und blasse Abbildungen von dem, was wirklich da draußen vor sich gehen musste. Doch auch daran störten sich die Zuhörer nicht. Über Krieg sprach man nicht. Vor allem nicht als Soldat, der wusste, wie es war, wenn Kameraden von einer Sekunde auf die andere aus dem Leben gerissen wurden und wie schuldig man sich fühlte, überleben zu dürfen, obwohl das nicht in der eigenen Hand lag.
So ging der Abend ins Land. Das Essen wurde zusehends weniger und irgendwann stellte sich eine Müdigkeit ein, die das Ende des ersten Festtages ankündigte. Erst da kehrte für einen Moment wieder Stille ein, jedoch von beinahe bedächtiger Art, wie es an einem Tag wie diesem die Norm sein sollte.
Erika wollte schon das Wort erheben und ihre Kinder anweisen, zu Bett zu gehen, als Johann noch einmal das Wort ergriff. »Ich weiß, dass ich bisher am meisten geredet habe, doch bitte lasst mich noch ein paar Worte an jeden von euch richten, die mir auf der Seele brennen. Ich weiß nicht, wann wir uns das nächste Mal sehen, also will ich diese Gelegenheit nutzen, alles zu sagen, was nicht ungesagt bleiben sollte.«
Sofort richtete sich wieder alle Aufmerksamkeit im Raum auf den Heimkehrer am Kopf der Runde.
Etwas peinlich berührt räusperte sich Johann und begann mit seiner feierlichen Rede, die er sich vermutlich bereits auf der Heimreise zurechtgelegt hatte.
»Ich kann euch gar nicht sagen, wie sehr ich euch alle vermisst habe«, gestand er mit einem Lächeln, das beinahe zittrig wirkte. »Es verging kein Tag, an dem ich nicht an euch dachte und fürchtete, es nicht mehr rechtzeitig nach Hause zu schaffen, bevor der Krieg uns alle einholt. Doch jetzt hier zu sein und zu sehen, dass alle wohlauf sind, gibt mir Frieden. Vor allem, weil ich nun weiß, wofür ich gekämpft und überlebt habe. Ich bin froh, ein Teil dieser Familie zu sein. So sehr ich auch kein großer Bruder oder Sohn war und immer vor meinen Verpflichtungen weggelaufen bin, bis ich einen Fehler beging, der sich als das Beste, was ich jemals hätte tun können, herausstellte. Ich hoffe, dass ihr mir vergeben könnt. Meine Erkenntnis kommt spät und ich weiß nicht, ob ich Dinge wieder richtigstellen kann. Deswegen bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als dankbar dafür zu sein, dass ich heute hier sein konnte. Ich bin stolz darauf zu sehen, wie gut ihr die Zeit ohne mich überstanden habt. Das sagt mir, dass alles gut sein wird, bis wir uns das nächste Mal sehen. Morgen werde ich schon früh aufbrechen müssen, deswegen glaube ich, dass jetzt der Zeitpunkt ist, mich zu verabschieden. Bleibt stark und trauert nicht zu lange, wenn ich weg bin. Das Leben geht weiter und ich werde immer bei euch sein, auch wenn ihr mich vielleicht gerade nicht direkt an eurer Seite habt.«
Darauf folgt ein einstimmiges Amen, das die Festtagsstimmung endgültig auflöste und alle mit einem vielleicht etwas mulmigen, aber auch seligen Gefühl zu Bett gingen. Friede hatte sich über das Haus gelegt und ließ die Nacht sorglos vorüberziehen.
Im Morgengrauen war die Familie wieder unvollständig – Johann hatte sein Versprechen eingelöst und sich davongemacht, als alle anderen noch schliefen. Jedoch hatte die Feierlichkeit der gestrigen Stunden dafür gesorgt, dass keine erneute Trauer mehr aufkam. Stattdessen waren die verbleibenden Familienmitglieder von der unsäglichen Melancholie der letzten Monate befreit worden und begannen wieder, sich der Realität zu stellen, die vor der eigenen Haustür wartete. Dabei hielten sie sich alle an den Worten fest, die Johann ihnen als Abschiedsgruß hinterlassen hatte. Sie waren tröstlich und machten Hoffnung, dass das nicht das letzte Mal gewesen sein würde, dass sie alle beieinandersaßen und sich am Wohl des anderen erfreuten.
Dies ging ein paar Tage lang so, bis ein Brief Erika erreichte. In diesem standen Zeilen, die noch Jahre später nicht ganz zu ihr durchdringen wollten. Die wenigen, viel zu förmlichen und kalten Zeilen berichteten von Johanns Ableben an der Front. Kurz nach Weihnachten soll man seine Leiche nach tagelanger Suche geborgen haben, nachdem die Schneedecke sich wieder etwas gelichtet hatte und Blick auf die freigab, die der letzten Schlacht vor dem kurzweiligen Frieden zum Opfer gefallen waren.
Niemand glaubte, was in dem Brief geschrieben stand. Auch wenn es sich nur so lange leugnen ließ, bis Johanns Überreste der Familie übergeben wurden, damit sie ihn würdevoll bestatten konnten. Damit wurde auch das Versprechen, nicht zu trauern über Johanns Weggang, gebrochen. Mit einem Mal wogen die letzten gemeinsamen Stunden so viel schwerer als zuvor, da die Familie nun Gewissheit hatte, dass es kein Wiedersehen geben würde. Auch wenn sich weiterhin niemand erklären konnte, wie es sein konnte, dass man den Verblichenen auffand, wo er nur kurz zuvor noch daheim gewesen war.
Es dauerte lange, bis sich das Bild zusammensetzte. Denn erst später erfuhren die Magards, dass kein Soldat in der Weihnachtszeit heimgekehrt war. Bis auf einen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, sich noch ein letztes Mal zu versichern, dass seine Familie wohlauf war, ehe er diese Welt für immer verließ.