In den nächsten Tagen war ich viel unterwegs. Ich erkundete die Gegend rund um das Cottage und fuhr auch mehrmals in den nahegelegenen Ort Glencoe, der eigentlich mein ursprüngliches Reiseziel gewesen war. Ich war froh, dass ich den Ort bei meiner Anreise nicht gleich gefunden hatte, sondern in Donalds Cottage gestrandet war, denn mittlerweile fühlte ich mich dort wirklich wohl. Mein Herz lag zwar immer noch schwer wie Blei in meiner Brust, sobald ich an dich dachte, aber ich versuchte mich abzulenken, indem ich mich im Haus ein wenig nützlich machte, ab und zu für mich und meinen Gastgeber kochte, ihm bei kleinen Arbeiten zur Hand ging und es als willkommene Abwechslung empfand, dass er mich bei einigen meiner Ausflüge begleitete. Wir führten lange, interessante Gespräche. Er berichtete mir von dem Leben hier draußen mit seiner Familie, von seinem Sohn und wie er einst seine Frau kennengelernt hatte.
Und ich spürte, wie auch ich mich langsam zu öffnen begann. Zwar vermochte ich immer noch nichts von dir preiszugeben, aber ich begann ihm ebenfalls von meiner Vergangenheit zu erzählen. Von meinen Eltern, Geschwistern und dem kleinen Ort südlich von Glasgow, wo ich aufgewachsen war.
Er erwies sich als guter Zuhörer und ich fühlte mich wohl in seiner Gegenwart. Bei ihm hatte das sichere Gefühl, dass er mich wirklich verstehen konnte.
Das Einzige, worüber ich noch immer nicht sprechen konnte, war diese Erscheinung hinter dem Fenster, dein Schatten, den ich nach meiner Ankunft gesehen hatte. Dazu, diese vielleicht letzte unsichtbare Verbindung zwischen dir und mir mit jemandem zu teilen war ich einfach nicht bereit.
Nur abends, wenn die Sonne hinter dem See versank und ich mich allein in dem kleinen Gästezimmer auf die Nacht vorbereitete, kam die Traurigkeit, legte sich bleischwer auf meine Seele und nahm mich gefangen.
Allerdings schlief ich inzwischen besser als in den ersten Nächten. Ich träumte nicht und fühlte mich morgens frisch und erholt.
Dann kam der Tag, vor dem ich mich insgeheim die ganze Zeit gefürchtet hatte.
Unser gemeinsamer Kennenlerntag. Jener Tag, der eigentlich auch irgendwann unser Hochzeitstag hätte werden sollen.
Es war ein bitterkalter Wintertag, der die Highlands bereits am Morgen in dichte, hässlich graue Nebelschleier hüllte. Ein Tag, an dem man lieber nicht freiwillig nach draußen ging. Trotzdem hielt es mich nach dem Frühstück nicht mehr im Cottage.
Ich wollte allein sein mit mir und meinem Schmerz und ging hinunter zum See. Nachdem ich eine Weile am Ufer entlanggewandert war, kehrte ich zurück, setzte mich auf die Bank, die Donald „seine Bank der Ewigkeit“ nannte, und meine Augen brannten von ungeweinten Tränen.
Ich wusste nicht, wie lange ich dort gesessen hatte, spürte nicht die Kälte, die langsam durch meine Sachen kroch, doch plötzlich fühlte ich, dass ich nicht allein war.
Der Alte ließ sich schweigend neben mir nieder und legte wie selbstverständlich seinen Arm um meine Schultern. Aus dem Augenwinkel heraus bemerkte ich, wie er wissend nickte, doch er schwieg.
So saßen wir eine Weile und blickten still und gedankenverloren auf den See hinaus.
„Nimm die Herausforderung an“, sagte er irgendwann leise. „Die Trauer ist das dunkelste Kapitel unseres Daseins. Du musst sie bewältigen, sonst endet dein Weg hier. Und dazu bist du noch lange nicht bereit. Also schlag das Kapitel auf und stell dich der Trauer, bevor sie dich beherrscht und mit sich in die Tiefe zieht.“
In diesem Augenblick war ich bereit, ihm mein letztes Geheimnis preiszugeben. Ich erzählte ihm davon, dass ich dein Gesicht hinter dem Fenster gesehen hatte. Genau wie er damals glaubte, seinen Sohn gesehen zu haben.
„Er hat mir zugewinkt und es war, als wollte er mir etwas sagen. Bin ich verrückt?“
„Nein“, lächelte er. „Das bist du nicht. Manchmal lässt unsere Fantasie uns Dinge sehen, die das Herz mit ganzer Kraft herbeiwünscht. Auch wenn der Verstand eigentlich weiß, dass es nicht sein kann.“
„Für einen Moment hoffte ich wirklich, ihn hier wiederzufinden. Irgendwie. Doch so sehr ich mich auch bemühe, ich habe seine Gegenwart nicht wieder gespürt.“
„Lass dir Zeit, meine Liebe. Aber sag mir bitte ehrlich: Was glaubst du, würde er dir sagen wollen? Sollst du ihm folgen oder bittet er dich, loszulassen?“
Ich schüttelte resigniert den Kopf.
„Keine Ahnung. Ich kann ihn nicht hören. Ich weiß es nicht.“
„Du bist noch nicht soweit. Aber du wirst es wissen, wenn es an der Zeit ist.“
Ich hob den Kopf und sah in seine Augen. Augen voller Traurigkeit, aber auch voller Weisheit und Güte. Er nickte mir zu.
„Lass es raus, lass alle Gefühle raus. Tu es. Es ist ein guter Anfang.“
Ich ließ seine Worte in mir nachklingen und spürte plötzlich eine unerklärliche Ruhe in mir. Es war, als würde jemand die Welt anhalten, und alles um uns herum verstummen lassen. Wie selbstverständlich legte ich meinen Kopf an seine Schulter und schloss die Augen.
Und dann weinte ich. Doch diese Tränen waren anders. Sie kamen tief, ganz tief aus meinem Herzen.
Aber da war eine Hand, die mich hielt.
Ich war nicht allein…
Von diesem Tag an ging es mir besser. Ich spürte, dass mein Lebenswille Stück für Stück zurückkehrte. Ich machte immer noch lange Spaziergänge, doch ich verspürte einen Hauch von Vorfreude auf die Gesellschaft des alten Mannes und auf die Gespräche mit ihm, wenn ich ins Cottage zurückkehrte und das Kaminfeuer flackerte. Ich fuhr auch weiterhin in den Ort zum Einkaufen und kochte für uns beide.
Und irgendwann erzählte ich ihm von dir, von uns, und wie wir uns damals kennengelernt hatten. Und zu meinem eigenen Erstaunen tat ich das ohne Wehmut, ohne Tränen und ohne Groll, denn die Erinnerung tat mir spürbar gut.
An einem dieser Tage saß ich wieder unten am See und holte mein Handy aus der Tasche. Nachdem ich hierhergekommen war, hatte ich es zwar aufgeladen, aber noch nicht wieder eingeschaltet. Ich betrachtete es von allen Seiten und schließlich gab ich meinen Pin ein und drückte die Einschalttaste. Sofort blinkten unzählige Nachrichten auf.
Ich atmete tief durch, als müsse ich erst die Kraft dazu sammeln, um sie zu lesen.
Es waren Zeilen von meinen Eltern, meinen beiden Geschwistern, von Freunden und von Kollegen, die alle wissen wollten, wir es mir denn ginge und ob ich bald nach Hause zurückkommen würde. Mein schlechtes Gewissen regte sich. Ich hatte mich absichtlich nicht gemeldet und ihnen damit Sorgen bereitet. Es war egoistisch von mir gewesen, sie in Ungewissheit zu lassen. Ich hatte meine Ruhe haben wollen und dabei nur an mich gedacht.
Ein Blick aufs Display zeigte mir, dass ich hier auf der „Bank der Erinnerung“ recht guten Handy-Empfang hatte. Also begann ich mechanisch die Nachrichten mit wenigen Zeilen zu beantworten.
Eine fremde Nummer, die öfter in meiner Anruferliste auftauchte, erregte meine Aufmerksamkeit und ich öffnete die dazugehörigen Nachrichten. Es war Dr. MacNeil, der sich mehrmals nach meinem Befinden erkundigte. Er schrieb, er wäre sogar ein paar Mal bei mir zu Hause gewesen, um nach mir zu sehen und mache sich Sorgen um mich. Wie aufmerksam!
Lächelnd schrieb ich: „Danke für Ihre Mühe, es geht mir besser.“
Ich nahm mir vor, mich bei ihm zu melden, sobald ich wieder zu Hause wäre. Schließlich wollte ich nicht unhöflich sein.
Langsam aber sicher spürte ich, dass es an der Zeit war, wieder nach Hause zurückzukehren.
Der Abschied von meinem Gastvater, wie ich den Alten in letzter Zeit öfter heimlich nannte, fiel mir nicht leicht, und ich merkte deutlich, dass es ihm ebenso ging. Mir war klar, ich hatte ihm viel zu verdanken, und insgeheim wusste ich, dass meine Anwesenheit auch ihm gutgetan hatte.
Ich würde ihn besuchen, irgendwann, sobald ich meinen Platz im Leben gefunden hatte. Das versprach ich ihm und auch mir selbst.
In der letzten Nacht vor meiner Abreise träumte ich von dir. Ganz deutlich sah ich noch einmal dein Gesicht hinter dem Fenster. Du winktest mir zu und bewegtest die Lippen. Ich hörte dich meinen Namen rufen und trat näher heran.
Du lächeltest mir zärtlich zu, auf diese ganz besondere Art, die mein Herz immer sofort erwärmt hatte.
Und dann hörte ich dich plötzlich sagen:
„Glaub mir, ich bin noch bei dir. Ich werde immer bei dir sein. Aber du musst jetzt loslassen…“
©JeanyEvans 2023