1867, Laura
Liebste Marie,
während ich durch eine Straße, die nach irgendeinem König benannt ist, auf das Tagungsgebäude zugehe, denke ich an dich. Ich weiche einer Pferdedroschke aus, einem Jungen, der lautstark Zeitungen anpreist, Weltausstellung in Paris! Kaufen Sie Reclams Universalbibliothek!, Dienstmädchen in gestärkten Schürzen, die Besorgungen für ihre Herrschaften erledigen. Es riecht nach Pferdeäpfeln und dem Rauch, der vom Industriegelände herüberzieht, aus den Kaminen der Wohnhäuser gefüttert wird und wie eine dunkle, brodelnde Decke über der Stadt hängt. Ich selbst habe mich passend ausstaffiert, einen Zylinder auf den unter einer Perücke verborgenen Haaren, meine Brüste unter den Schichten von Hemd, Weste und Sakko verborgen, einen Spitzbart ans Kinn geklebt. Frauen sind im Jahre 1867 nicht zur Jahrestagung der Juristen zugelassen. Frauen dürfen keine Juristen oder überhaupt irgendetwas sein. Doch ich werde auf der Tagung etwas sagen, was auch für einen Mann skandalös wäre.
Vor dem mächtigen Gebäude im Stil des Historismus, dessen Säulen Reliefs schmücken, die griechische Sagen darstellen, ziehe ich den Apparat aus der Weste und überprüfe ihn. Er sieht aus wie eine goldene Taschenuhr, die in diesem Zeitalter nicht weiter auffällt, nur dass Zeiger und Zifferblatt eine andere Funktion haben. Solange er funktioniert, kann ich wieder zu dir zurückkehren; das schwere Messing, das beruhigend in meiner Hand liegt, ist wie ein Anker, der mich mit dir verbindet. Ich stecke ihn wieder in die Weste und versichere mich des Gewichts an meinem Bauch. Dann nicke ich gebieterisch dem Portier zu, der die schweren Eichenholztüren für mich aufzieht.
Das ganze Gebäude atmet Macht. Pompöse Eingangshalle, roter Teppich, noch mehr Säulen und antike Statuen und dazwischen die wartenden Juristen. In dieser Zeit, die mit der Dampfmaschine und der Eisenbahn so viel Neues erlebt, besinnt man sich auf die Antike zurück, doch was ist mit der Liebe zwischen Männern, von denen die antiken Dichter berichten? Was ist mit Sappho, die auf Lesbos die Liebe zwischen Frauen besang? Aber nein, wir haben unsere Bibel, wir haben Levitikus 18, Vers 22, wir haben den Römerbrief. Die Kälte des Saals, die den Winter bereits vorwegnimmt, und der selbst die neuartigen Warmwasserheizungen an den Wänden nichts entgegenzusetzen haben, lässt mich frösteln. Habe ich überhaupt ein Recht, das zu tun, was zu tun ich im Begriff bin? Nicht nur, dass ich der Agentur eine Zeitmaschine entwendet habe, ich werde sie auch noch in regelwidriger Weise benutzen, um den Verlauf der Geschichte zu ändern. Zumindest ist das meine Absicht.
Als frischgebackene Historikerin war ich froh gewesen, Arbeit zu finden und für die Agentur historische Fakten zu recherchieren, wenn ich auch nicht wusste, zu welchem Zweck. Zufälligerweise fand ich ihr Geheimnis heraus, und seitdem hat mich der Gedanke nicht mehr losgelassen: Warum nicht eine Zeitmaschine nutzen, um etwas wirklich Positives zu bewirken, die Welt zum Besseren zu ändern? Heute werde ich unser Schicksal in die Hand nehmen.
Die Diener ziehen die Saaltüren auf, und die ehrwürdigen Adepten der Jurisprudenz, mit Zylindern und kunstvoll geschnitzten Gehstöcken, die die Vorhalle mit dem Qualm ihrer Pfeifen und ihren sonoren Stimmen gefüllt haben, strömen in den Saal. Ich setze mich an eine Außenkante der rund ansteigenden Sitzreihen. Es wird über die juristische Behandlung von Exhibitionisten, Zuhältern, Pornographie und Unzucht mit Kindern diskutiert. Schließlich ertönt der falsche Name, unter dem ich zuvor meine Rede angemeldet hatte. Mit heftig klopfendem Herzen stolpere ich die Treppen hinunter zum Podium und räuspere mich. „Meine Herren!“ Meine Stimme klingt viel zu hoch, also wiederhole ich es noch einmal tiefer. „Mein Vortrag befasst sich mit gleichgeschlechtlichen sexuellen Handlungen. Diese sind laut dem §143 Strafgesetzbuch für die Preußischen Staaten mit Zuchthaus zu bestrafen. Zurzeit wird diskutiert, diesen Paragraphen in das Strafgesetz für den Norddeutschen Bund zu übernehmen und damit für alle Zukunft zu zementieren. Doch warum gilt ein einvernehmliches Verhalten erwachsener Menschen, die damit kein Rechtsgut verletzen, als Straftat? Mehr noch, diese Menschen handeln nicht aus böser Absicht, sondern folgen einer natürlichen Veranlagung, an der sie ebenso wenig etwas ändern können wie ein Melancholiker an seiner Schwermut. Ich wage zu behaupten, dass es sich um eine Nervenkrankheit handelt. Und seit wann gilt Krankheit als Verbrechen? Seit wann werden Kranke mit Gefängnis bestraft? Diese Krankheit, die ich conträre Sexualempfindung nennen will, verlangt unser Mitleid statt unserer Strafe.“
Über diese Argumentation habe ich lange nachgedacht. Krankheit klingt natürlich nach etwas Schlechtem, aber ich weiß nicht, wie ich sonst bezeichnen soll, was wir empfinden, und es ist besser als Verbrechen oder Sünde. Aber hatte ich mir Sorgen gemacht, Krankheit sei zu negativ, für dieses Publikum ist es immer noch zu viel. Das Publikum rastet aus. Die ehrwürdigen Herren mit ihren Gehstöcken, Koteletten und Monokeln, die sogenannten Stützen der Gesellschaft, sind sich nicht zu schade, Schmähungen zu brüllen, meine Festnahme zu fordern, und sogar vereinzelte von Straßenjungen blankpolierte Lederstiefel in meine Richtung zu werfen. Geduckt renne ich aus dem Saal, bevor mich jemand aufhalten kann. Was hatte ich erwartet, dass sie applaudieren? Woher kommt diese Wut, dieser Hass, und warum trifft er mich so? Jedoch hoffe ich, ihnen einen Stoß versetzt zu haben, sodass mein Beispiel Nachahmung finden wird, dass Einzelne nachdenken werden. Ich hoffe, eine Zukunft, eine neue Gegenwart für uns zu schaffen, in der wir nicht mehr verfolgt werden. In einer solchen Gegenwart wirst du keine Angst mehr haben müssen. In der veränderten Welt sehen wir uns wieder, frei von Furcht.