Vor vielen Jahren lebte einmal in Adventuria eine Echse mit vier Ohren. Es hieß, sie hatte in ihrer Jugend glatte Schuppen gehabt und ohne Flausch gewesen. Doch als sie älter wurde, wurde sie eins mit dem Flausch, so flauschig wie zwei Bären, dass man sie fortan Bärbärskink nannte. Der Bärbärskink war aber nicht nur berühmt für sein flauschiges Fell, sondern auch für seine Ohren. Sie hörten in den Osten, in den Süden, in den Westen und in den Norden zur gleichen Zeit. Die Ohren waren so gut entwickelt, dass sie die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft vernehmen konnten. Mit diesen Wunderohren warnte die Echse einst den Flauschbären und seine Jünger vor einem Anschlag der Winterdämonen. Zum Dank hatte sie ihr Schuppenfell erhalten. Der Bärbärskink blieb seinem Gehör treu und wurde ein bekannter Wahrsager. Von nah und fern kamen Tierwesen zu ihm und baten ihn um Rat, allein durch die Worte, welche der Bärbärskink gegenüber geäußert wurde, sagte die Echse einem die Zukunft voraus. Jede Wahrsagung wurde wahr und so strömten immer mehr Tierwesen zur wahrsagenden Echse.
Ein Bärchen, welches in einem Maulbeerwald wohnte, hörte davon, und beschloss, den weisen Bärbärskink einer Lüge zu überführen und dann vor allen Tierwesen lächerlich zu machen. "Ein Wahrsager, was wird so eine Echse schon wissen? Ihr Flausch geschenkt, ich damit geboren, sie wird mir unterlegen sein! Heute habe ich ein wenig Zeit und werde mir das Reptil mal ansehen."
Das Bärchen war zwar ein geborener Flausch, aber sein Herz hatte schon lange den Flausch verloren. Es beklagte sich jeden Tag aufs neue in seinem Maulbeerwald und wurde bald von den umliegenden Maulbärchen genannt. Sein Ansehen war nicht das größte, aber sein Wald hatte die größten und saftigsten Maulbeeren, während alle anderen Wäldern keine Früchte trugen. So bettelten die Tiere beim Maulbärchen um Beeren, die ihnen das Maulbärchen gab. Doch nicht ohne Gegenleistung zu verlangen - und konnten die armen Tierwesen ihre Gegenleistung nicht erbringen, da kannte das Maulbärchen keine Nachsicht. Es maulte so laut, dass ein jeder die Unpässlichkeit der Tierwesen hörte und sie vor Scham fast zu sterben drohten. Das Maulbärchen war habgierig und herzlos. Das ein anderer etwas besaß, was es selber nicht in doppelter Menge besaß, ließ den Neid in ihm wachsen. Wer sich aus der Not in seine Klauen begab, war mehr verloren, als zuvor.
Dieses schlechte Maulbärchen machte sich also auf, um den Wahrsagungen des Bärbärskinks zu lauschen. Es schnappte sich einen Maulbeerzweig, der besonders schön aussah und lief zum Bärbärskink. Dort angelangt setze es sich vor die Echse, lag ihr den Zweig vor die Nase und sprach: "Ich möchte wissen, wie lange dieser Zweig noch zu leben hat?"
Der Bärbärskink besah sich den Zweig und lauschte in den Osten, dann in den Süden, dann in den Westen und zuletzt in den Norden. Dann besah sich die Echse das Bärchen genauer. Solch ein diabolisches Antlitz hatte sie schon lange nicht mehr erblickt. Langsam sprach der Skink: "Ja, der Zweig da, sein Leben wird im kommenden Jahr am ersten Tag des zweiten Monats zu Ende sein."
"Was du nicht sagst.", maulende das Maulbärchen giftend, "Nun weissage mir dies, wie alt ich noch werden soll!"
Der Bärbärskink besah sich das Maulbärchen und lauschte in den Osten, dann in den Süden, dann in den Westen und zuletzt in den Norden. Dann besah sich die Echse wieder das Bärchen. Der Bärbärskink murmelte vor sich her und sagte dann mit klarer, fester Stimme: "Mit dir ist es im kommenden Jahr, am dritten Tag des dritten Monats Schluss."
"Na du musst es ja wissen!", maulte das Maulbärchen und dachte bei sich: "Na warte, wenn im nächsten Jahr, des ersten Tages des zweiten Monats mit meinem Maulbeerzweig alles in Ordnung ist, und was soll ihm denn fehlen, oh dann werde ich dich Echse zum Gespött machen! Die ganze Welt soll erfahren, dass du ein Scharlatan bist!" Das Maulbärchen verabschiedete sich mit maulenden Worten und begab sich in seinen Maulbeerenwald.
Nun galt es, den Zweig sorgfältig vor Schaden zu bewahren. Das Maulbärchen wickelte den Zweig in ein Tuch aus feinster Spinnenseide und packte das Päckchen in eine kleine Truhe, welche es in einem Baumloch versteckte. Jeden Mittag, wenn das Maulbärchen zu Mittag aß, schaute es ohne Umwege zuerst nach dem Zweig und freute sich, dass dieser sicher in der Truhe lag. Auch am Abend, bevor das Maulbärchen sich schlafen legte, prüfte es den Inhalt der Truhe erneut und freute sich, wenn es den Zweig in bester Gesundheit erblickte. So trieb es das Maulbärchen täglich, und endlich war der schicksalhafte Tag gekommen, der erste Tag des zweiten Monats. Das Maulebärchen verließ seinen Wald, um anderen Tieren die Ohren voll zu maulen, dass es noch immer keine Leistung für seine Maulbeeren erhalten hatte. Aber schon nach zwei Stunden kehrte es wieder in seinen Wald zurück und prüfte den Inhalt der Truhe nervös. Es musste wissen, wie es um den Zweig stand. Es schaute in die Truhe und der Zweig war da, und es ging wieder seinem täglichen Treiben nach. Diesmal kehrte das Maulbärchen schon nach 30 Minuten wieder heim, öffnete die Truhe, überzeugte sich, dass der Zweig auf seinem Platz in der Spinnenseide lag, atmete auf und ging wieder aus dem Wald.
Die Frau des Maulbärchens fiel das seltsame Treiben auf: "Heute ist mein Maulbärchenmann wirklich sonderbar, ganz anders als sonst. Was er wohl hat?"
In ihr stieg Unruhe auf, sie musste wissen, was ihr Maulbärchenmann da trieb. Deshalb beobachtete sie ihr Bärchen: Sie sah, wie das Maulbärchen ein kleines Bündel aus der Truhe nahm, es auseinanderschlug und den Inhalt sehr genau betrachtete. Dann wickelte es den Inhalt wieder zusammen, legte es in den Kasten zurück und rannte abermals aus dem Wald, um seinen Pflichten nachzukommen.
"Mein Maulbärchen hat was zu verbergen. Ich will wissen, was das ist!", maulte die Frau voller Unruhe. Sie öffnete die Truhe und holte das Päckchen heraus und packte es aus.: Es war ein wunderschöner Maulbeerzweig an dem eine noch schönere, eingetrocknete Maulbeerblüte hing!"
Empört maule die Frau des Maulbärchens: "Das ist ja die Höhe! Da hat dieser alte Narr doch eine andere neben mir und ist von ihr so toll geworden, dass er nun nicht mehr richtig nach den Gütern der anderen Tiere mault! Er muss immer nur diesen Zweig anglotzen. Wahrscheinlich ist es noch ein Fluch, mit dem er sich herausreden will! Doch das will ich ihm verderben!" Da ergriff sie den Zweig und brach ihn in zwei. Doch das genügte ihr nicht, sie machte ein Feuerchen und verbrannte den Zweig, die Seide und die ganze Truhe.
Das Maulbärchen musste immerzu an den Zweig denken, für seine maulende Geschäfte hatte es keine Ruhe und rannte wieder nach Hause in den Maulbeerwald, um nach dem Zweig in der Truhe in der Baumhöhle zu sehen. Doch als die Pranke in die Baumhöhle griff, griff sie ins Leere! "Er ist weg! Er ist weg!", klagte maulenden das Maulbärchen. Seine Frau eilte auf das maulende Geschrei zu ihrem Ehegatten und fragte: "Was hast du den, dass du so schreist?"
"Der Zweig ist verschwunden."
"Ach, dein Zweig ist verschwunden? Du hast einen Wald voll Zweigen. Schaust immer nur auf den einen mit der schönen Blüte, den hat dir sicher, wer gegeben, an den denkst du nur noch!"
"Ach Flausch, Frau, der Zweig ist nicht aus solchen Gründen unersetzlich für mich. Ich war letztes Jahr beim Bärbärskink und der hat mir gesagt, dass der Zweig am ersten Tag, des zweiten Monats sein Ende finden würde. Und nun ist er wirklich verschwunden!"
"So ein lumpiger Zweig, deswegen brauchst du doch keinen Aufruhr zu machen! Es wachsen jedes Frühjahr tausend neue", maulte die Frau nicht verstehend.
Das Maulbärchen weinte und maulte voller Klage: "Was du redest, ist Unverstand. Der Bärbärskink hat mich bei meinem Besuch letzten Jahres wissen lassen, dass ich am dritten Tag des dritten Monats mein Ende finden werde. Nun ist seine Vorhersage bezüglich meines Zweiges eingetroffen, genauso wie es die Echse gesagt hatte. Er ist kein Betrüger, was der Bärbärskink ist die Wahrheit. Nun wird es mit mir am dritten Tag des dritten Monats zu Ende gehen."
Das Maulebärchen schlug verzweifelt mit den Tatzen auf den Kopf. Seine Frau wurde bleich wie Himmelsmoos und konnte kein Maulen hervorbringen.
Nach einer Weile fasste sich das Maulbärchen ein wenig und maulte: "Ich werde sowieso bald sterben, wozu brauch’ ich all die Maulbeeren und Güter, die ich angehäuft habe? Die anderen Tiere hassen mich, weil ich sie immer voll maule, dass sie mir ihre Schulden zahlen sollen. Ab heute will ich keine Reichtümer mehr horten - Ich will mich in meinen letzten Tagen ändern!"
Und das Maulebärchen änderte sich wirklich. Es ging zu den anderen Tierwesen und sprach: "Wenn ihr mir keine Güter für meine Maulbeeren geben könnt, sorgt euch nicht. Mein Wald steht euch offen und ihr könnt euch nehmen, wenn ihr hungrig seid. Wollt ihr mir doch etwas dafür entbehren, so werde ich es zu würdigen wissen. Und wenn ihr nichts entbehren könnt, so soll es mir auch recht sein.
Die anderen Tierwesen schauten das Maulbärchen verwundert und voller Dankbarkeit an.
Doch das Maulbärchen es verlieh nicht nur in freien Stücken, es half den anderen Tierwesen auch ihre Wälder zu pflegen, sodass auch sie Reichtümer besitzen konnten und der Wald nicht nur aus Maulbeersträuchern bestand.
Das Maulbärchen hätte gern den fertigen Wald gesehen, doch der Tag seines Endes rückte näher. Es legte sich am Vorabend des dritten Tages, des dritten Monats auf seine Schlafstätte und bereute nur, dass es den Wald nicht mehr erleben würden, den alle geschaffen hatten. Und doch war es glücklich, dass es den anderen Tieren geholfen hatte. Es schloss die Augen in Erwartung, sie nicht mehr zu öffnen, wenn der Schicksalstag gekommen war.
Der gefürchtete Tag dämmerte auf, es wurde Mittag, dann Abend, doch nichts geschah. Das Maulbärchen fühlte sich so gesund wie nie zuvor. Es warte auch noch den ganzen vierten Tag, doch es bleib im Reich der Lebenden.
Am nächsten Morgen begab sich das Maulbärchen aufgebracht zum Bärbärskink. Dieser sah ihn wohl, erinnerte sich aber nicht mehr an das Bärchen. Er verfuhr mit dem Maulbärchen, wie mit einem Gast, den er noch nie gesehen hatte.
Das Maulbärchen maulte: "Hast du mich schon vergessen? Du hast mir die Lebensdauer meines Maulbeerzweiges ausgelegt und die Vorsage ist eingetroffen! Was du aber über mich selbst gesagt hast, ist nicht eingetroffen! Du hattest Glück mit dem Zweig und mir selbst Unsinn aufgetischt!"
Der Bärbärskink besah sich das Maulbärchen und lauschte in den Osten, dann in den Süden, dann in den Westen und zuletzt in den Norden. Dann besah sich die Echse das Bärchen erneut und lächelte: "Nur nicht so voreilig, mein liebes Bärchen. Als du das erste Mal bei mir warst, sahst du aus wie ein Winterdämon, heute strahlt dein Gesicht vor Freundlichkeit und Güte, als wäre der Flauschbär in dich gefahren. Es muss in der Zwischenzeit etwas passiert sein, etwas Bedeutendes. Sag, hast du womöglich anderen etwas Gutes getan?"
Das Maulbärchen schämte sich und wollte mit der Sprache nicht recht heraus, dann maulte es kleinlaut: "Den anderen Tieren etwas Gutes, vielleicht kann man es so nennen."
"Das ist es", nickte der Bärbärskink, "Damit bist du zu einem ganz anderen Bärchen geworden, und auch dein Schicksal hat sich gewandelt. Geh getrost nach Hause, du hast noch lange zu leben, du wirst 120 Jahre alt."
Und wie es der Bärbärskink vorausgesagt hatte, so geschah es. Das Maulbärchen wurde 120 Jahre alt, sah den Wald wachsen, wie es sich gewünscht hatte und war bis zum letzten Tag ein Bärchen, das den Flausch im Herzen trug und allen brachte.
ENDE