Nachdem Yuna ihre Morgendusche nachgeholt hatte und bevor sie zum Strand aufbrachen, um nach dem am Vortag dort zurückgelassenen Epehju zu sehen, warf sie noch einen Blick auf die Wunde an Malfoys Arm. Die sah schon deutlich besser aus: Der Wundbereich war noch gerötet, aber die Schwellung bereits zurückgegangen und die Bissstellen kaum noch zu sehen. Als reine Vorsichtsmaßnahme trug sie trotzdem noch einmal etwas Diptam auf, das konnte schließlich nicht schaden. Dann machten sie sich auf den Weg.
Unterwegs war Malfoy auffallend schweigsam. Er vermied es ganz eindeutig, Yuna anzusehen, und kickte nur immer wieder sinnlos Steinchen aus dem Weg, zupfte hier und da Blätter von den Pflanzen oder schlug genervt nach den Mücken, die sich in ihrem Bluthunger auf sie stürzten. Es war ihm recht deutlich anzumerken, dass ihn etwas beschäftigte.
»Was ist los?«, fragte Yuna. »Irgendwas nicht in Ordnung? Brennt die Wunde? Dröhnt der Kopf?«, versuchte sie zu scherzen.
»Nein, alles okay …«
»Aber?«
Er antwortete nicht sofort, lief auf dem schmalen Trampelpfad nun vorneweg, und Yuna trottete ihm hinterher. Bis er schließlich so plötzlich stehen blieb, dass sie beinahe in ihn hineingelaufen wäre. Mit einem entschlossenen Gesichtsausdruck drehte er sich zu ihr um.
»Also gut, wenn du es wirklich wissen willst …«, brach es schon fast angriffslustig aus ihm heraus. »Als wir vorhin geredet haben … Ehrlich gesagt hat es mich gewundert, dass es dir dabei nur ums Projekt und unsere Zusammenarbeit ging und du die …«, er zögerte kurz und senkte die Stimme, »die andere Sache überhaupt nicht erwähnt hast.«
Die andere Sache …
Damit waren sie wohl bei seinem ›Schlammblut‹. Yuna hatte sich schon den ganzen Morgen gefragt, ob Malfoy wohl Manns genug war, das Gespräch von sich aus auf dieses Thema zu bringen. Es hätte sie nicht weiter gewundert, wenn er es einfach totgeschwiegen hätte. Aber nun überraschte er sie damit, dass er es tatsächlich ansprach. Nur das Kind direkt beim Namen zu nennen, das bekam er offenbar doch nicht hin. Na gut, dann musste sie eben selber Tacheles reden.
»Du meinst das ›Schlammblut‹, mit dem du mich beschimpft hast?«, warf sie es ihm dann auch ganz unverblümt vor die Füße und stellte fest, dass ihm diese sehr direkte Konfrontation mit seiner Kränkung nicht angenehm war; er wich ihrem Blick ganz eindeutig aus, und sie bemerkte die plötzliche Anspannung in seinem Gesicht. »Eigentlich hatte ich gehofft, dass du mir dazu vielleicht etwas zu sagen hast.«
»Und was willst du jetzt hören? Dass es mies war? Natürlich war es mies! Schließlich hast du mich nicht nur bei der Giftbratze aus der Klemme geholt, sondern auch ein Gegengift gebraut und mich wieder auf die Beine gebracht – und das, obwohl ich dich beleidigt hatte! Was glaubst du, wie ich mich jetzt fühle?«
Nichts für ungut, Malfoy, aber es interessiert mich nicht, wie DU dich fühlst. Du solltest dich lieber fragen, wie ICH mich dabei gefühlt habe.
Doch plötzlich ging ihr auf, was er da gerade gesagt hatte. »Moment mal, hab ich das richtig verstanden? Du findest dein ›Schlammblut‹ nur deshalb mies, weil ich nützlich für dich war und dir aus der Patsche geholfen habe? Und wenn der Zwischenfall mit dem Epehju nicht passiert wäre, dann fändest du deine Beschimpfung okay und nicht mies?«
»Unsinn! Was interpretierst du denn da in meine Worte hinein?«
»Ich interpretiere nichts hinein. Das hast du genau so gesagt.«
»Na gut, vielleicht habe ich mich einfach blöd ausgedrückt.«
»Dann drück dich doch einfach nochmal unblöd aus«, sagte sie trocken.
»Verdammt, was willst du denn von mir hören? Eine Entschuldigung?« Fast wütend riss er eine Luftwurzel ab, die zwischen ihnen von irgendwo oben herunterbaumelte. »Okay, dann entschuldige ich mich eben. Aber du hast mich auch nicht gerade mit Samthandschuhen angefasst und mir einiges an den Kopf geschmissen. Da bin ich einfach ausgerastet!«
Na, überzeugend klingt das aber nicht. Nicht wirklich.
»Das hört sich ja nach tiefster Gewissensqual an«, konnte Yuna sich dann auch nicht verkneifen. »Man merkt so richtig, wie untröstlich du bist und wie sehr du es bedauerst und bereust.«
Die Ironie in ihren Worten konnte natürlich auch für Malfoy nicht zu überhören sein.
»Was sonst?«, kam es prompt von ihm zurück. »Natürlich bereue ich es. Hätte ich mich sonst entschuldigt?«
»Oh nein, entschuldigen heißt nicht bereuen. Echte Reue setzt nämlich Einsicht und Erkenntnis voraus, Selbsterkenntnis vor allem. Und das ist das Problem. Dir ist das ›Schlammblut‹ ja nicht versehentlich rausgerutscht, im Gegenteil, du hast genau das ausgesprochen, was deiner Einstellung und Denkweise entspricht. Jetzt versuchst du, den Reumütigen raushängen zu lassen, und das nicht mal besonders gut. Deine ›Entschuldigung‹ ist nur eine Floskel, mal eben so dahingesagt. Deshalb nehme ich dir dein Bedauern auch nicht ab, es wirkt einfach nicht glaubwürdig und ehrlich. Du sagst nämlich nur, dass du es bereust, weil du glaubst, dass du mir was schuldig bist, aber darauf kann ich dankend verzichten. Also sag nicht, dass es dir leidtut, wenn du es gar nicht so meinst.«
»Dann ist also meine Entschuldigung sowieso für՚n Arsch, oder was?«
»Solange das nur leere Worte sind und du bei nächster Gelegenheit wieder irgendwen mit ›Schlammblut‹ beleidigst, ja.«
»So. Und was erwartest du jetzt von mir? Was ich gesagt habe, kann ich nicht zurücknehmen. Meine Entschuldigung akzeptierst du aber auch nicht. Also, was soll ich, deiner Meinung nach, tun?«
»Fragst du mich das wirklich? Nun, dann würde ich sagen, geh einfach mal in dich und denk ein bisschen nach. Dann wirst du vielleicht dahinterkommen, was an deinen Worten noch nicht passt. Das eigentliche Problem ist nämlich nicht deine Beschimpfung, es ist deine ganze Einstellung. ›Schlammblut‹ ist nur ein Wort. Das wirklich Erbärmliche ist deine Grundhaltung, die dahintersteht. Du steckst voller Vorurteile und siehst nur reinblütige Zauberer als gleichwertige Menschen, alle anderen sind für dich nur Bodensatz. Und, nichts für ungut, aber eine andere Bezeichnung als ›erbärmlich‹ fällt mir für so eine Haltung wirklich nicht ein.«
Das waren deutliche Worte. Harte Worte. Worte, die ihm wahrscheinlich noch nie jemand in solcher Offenheit gesagt hatte. Und es überraschte Yuna, dass er alles stillschweigend schluckte. Hatte ihm der vorgehaltene Spiegel etwa einen solchen Schock versetzt, dass es ihm die Sprache verschlug? Bei Malfoy eigentlich schwer vorstellbar. Oder war es einfach nur Gleichgültigkeit, die ihn schweigen ließ? Seine fest zusammengepressten Kiefer sprachen allerdings eine andere Sprache.
»Aber warum rede ich hier überhaupt«, wischte sie ihre Überlegungen beiseite. »Schließlich ist es nicht meine Aufgabe, dich zum Umdenken zu bekehren. Darauf habe ich keine Lust, denn das ist mir bei jemand wie dir viel zu anstrengend. Es wäre sowieso für die Katz, so verbohrt, wie du bist. Und ich mag meine Zeit nicht mit Sinnlosigkeiten und hoffnungslosen Fällen verplempern. Entweder kommst du von selber darauf, was da in deinem Kopf verkehrt läuft, oder eben nicht. Das Denken werde ich dir ganz bestimmt nicht abnehmen.«
Malfoy sagte noch immer nichts. Sein Gesicht war eine undurchschaubare Maske, und nur durch sein fortwährendes, rabiates Abreißen und Zerfleddern von Blättern war ihm anzumerken, dass in ihm überhaupt etwas vorging. Yuna hatte das ungute Gefühl, er könnte jeden Moment explodieren. Das war allerdings das Letzte, was sie wollte, schon gar nicht nach ihrem gerade erst geschlossenen Burgfrieden. So heftig hatte sie auch gar nicht werden wollen, aber die Worte waren einfach so aus ihr herausgesprudelt.
»Unsere Aufgabe ist es, diese Woche gemeinsam herumzubringen«, wechselte sie rasch das Thema und versuchte dabei versöhnlicher zu klingen, um ihren Vorhaltungen etwas die Schärfe zu nehmen und die Situation wieder zu entspannen. »Und dazu gehört, dass wir jetzt erstmal den Epehju dingfest machen. Also lass uns das einfach erledigen, okay?«
Er nickte zwar, aber sie hatte den Eindruck, dass er mit dem Verlauf des Gesprächs nicht wirklich zufrieden war – natürlich nicht. Sicher war ihm seine mehr schlecht als recht herausgequälte Entschuldigung nicht leichtgefallen; wahrscheinlich hatte er gehofft, sie würde prompt akzeptieren und das Thema wäre damit erledigt. Aber wie konnte sie das, wenn sie befürchten musste, vielleicht schon morgen wieder als ›Schlammblut‹ beschimpft zu werden?
Dennoch sah sie keinen Sinn darin, dieses Gespräch fortzusetzen. Einen Denkanstoß hatte sie ihm gegeben, den Rest musste er mit sich selbst abmachen. Tatsächlich glaubte sie allerdings nicht daran, dass dabei wirklich etwas herauskommen würde.
◦◦◦◦◦
Als sie den Strand erreichten, hing der Epehju immer noch genauso in der Luft, wie sie ihn gestern Morgen verlassen hatten. Yuna ging um die verschnürte Kreatur herum, wobei sie sorgfältig darauf achtete, den Beinen mit den scharfen Klingen, die aus dem Bündel herausragten, nicht zu nahe zu kommen.
»Liberacorpus!«, rief sie, und das Bündel landete mit einem dumpfen Aufprall im Sand. »Sag mal, wie konnte das Vieh dich überhaupt erwischen?«
»Es kam plötzlich aus dem Gebüsch«, Malfoy deutete auf den dichten, dschungelartigen Bewuchs, der sich an den locker mit Palmen bewachsenen Strand anschloss, »und ist sofort auf mich los.«
»Ja, aber wieso bist du überhaupt hier unterwegs gewesen?«, fragte sie, obwohl sie die Antwort bereits ahnte.
»Na, warum wohl? Ich hatte das Pergament mit der Aufgabe gefunden und dachte, ich sehe mich mal um.«
»Aha. Du hast gedacht, du ziehst das Ding mit den Kreaturen einfach mal im Alleingang durch.«
»Ja, so ähnlich. Ich wusste ja nicht, was mich erwartet. Du findest das wahrscheinlich ziemlich bescheuert, oder?«
»Naja, so bescheuert war das auch wieder nicht. Wer kann denn schon ahnen, dass solche Viecher hier herumschleichen?«
»Von wegen schleichen! Der konnte ganz schön rennen! Und er hat auch gar nicht lange gefackelt und mich gleich in den Sand geschmissen.«
Yuna musste unwillkürlich lachen. »Aber immerhin war deine Jagdmethode erfolgreich. Unsere erste Kreatur haben wir.«
Da der Epehju nach wie vor ruhig lag, wagte sie sich etwas näher heran und besah sich das hintere Ende etwas genauer. »Hey, Malfoy, komm mal hier rüber!«, rief sie. »Hier hinten an der Schwanzwurzel ist sowas wie eine Furche. Vielleicht können wir da ein Seil befestigen und das Vieh dann irgendwo anbinden.«
Er folgte ihrem Ruf, lief um das Epehju-Bündel herum und kam auf ihre Seite herüber. »Das gefällt mir nicht«, sagte er knapp, während er sehr eingehend die Schwanzwurzel des Epehjus inspizierte und mit der Spitze seines Zauberstabes darüberfuhr.
»Was gefällt dir nicht? Die Schwanzfurche?«
»Malfoy.« Er warf ihr einen kurzen Blick von der Seite zu. »Malfoy gefällt mir nicht. Ich heiße Draco, schon vergessen?«
»Nanu?«, konnte sie ihre Überraschung nicht verbergen. »Ist das etwa ein Angebot zur Erweiterung unserer Friedensverhandlungen? Ich dachte, Draco heißt du nur für deine Freunde.«
»Naja …«, er grinste und hob in typischer Malfoy-Manier eine Augenbraue, »bei Leuten, mit denen ich eine Woche auf einer einsamen Insel verbringen muss, mache ich auch mal eine Ausnahme.«
»Verstehe.« Yuna lächelte. »Na gut, Draco, dann lass uns mal zusehen, dass wir das Biest von hier wegbekommen. – Locomotor Epehju!«
◦◦◦◦◦