Anmerkung: P16+, nichts für Feingeister.
Trigger/Warning: Mobbing, Schule, Gewalt, Sprache
Das hier ist keine "nette" Story.
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Habenichts
Neue Mitschüler waren kacke. Grundsätzlich. Schon allein deshalb, weil sie sich nie den bestehenden Strukturen anpassen wollten. Dämliche Vollidioten. Besonders Typen wie dieser Trottel da. Vermutlich gar nicht so dumme Jungen, denen man aber schon auf hundert Meter ansehen konnte, wie kaputt ihr Elternhaus war.
Wobei ehrlicherweise die echten Arschgeigen in diesen Fällen in der Regel auf der anderen Seite standen. Vollpfosten wie Norman, die irgendwelche dämlichen Bemerkungen abließen, weil jemand die falschen Klamotten anhatte, der Rucksack schon ein paar Jahre zu viel auf dem Buckel hatte und die Schuhe kurz davor waren, auseinanderzufallen.
Manchen sah man die Armut schlicht an. Opfer, denen Typen wie Norman zur Abwechslung wenigstens mal in irgendetwas überlegen waren. In Sachen Aussehen, Talent oder Hirnschmalz konnte der ja ansonsten eh mit nichts punkten. Vor allem Letzteres war dem Neuen hier zum Verhängnis geworden.
Wie schwer konnte es eigentlich sein, einfach mal die Fresse zu halten, wenn man nichts Vernünftiges zu sagen hatte? Aber das schien ja ein generelles Problem in ihrer Klassenstufe zu sein. Wobei ... nicht nur da.
Die erste Woche im neuen Schuljahr und schon gab es Ärger. Wohlgemerkt nicht für ihn selbst. Aber die Lektion hatte er, im Gegensatz zu anderen, wohl früh genug gelernt. Behütetes Elternhaus, Kindergarten, Grundschule. Sie alle hatten an ihm gute Arbeit geleistet. Behaupteten zumindest die Lehrer. Und war doch am Ende nur wichtig, was die dachten. Denn den wirklichen Ärger bekam man schließlich nur von ihnen. Oder den eigenen Eltern.
Beides gleich beschissen. Verlogene Kacke. Vielleicht wäre Schauspieler keine so dumme Berufswahl. Anderen etwas vorzuspielen schien ja seit jeher in ihn eingraviert zu sein. Der perfekte kleine Junge, der gute Schüler, der nette Typ, auf den die Mädels standen – und ihn trotzdem nicht ranließen. Prüde Puten.
Ein Ächzen ertönte, gefolgt von einem dumpfen ‚bumm‘, als eine Faust auf Bauchhöhe mit dem Hoody von dem Neuen kollidierte. Würde die blauen Flecken wohl kaum verhindern.
Das Wimmern klang erbärmlich, aber der Idiot hatte es sich trotzdem irgendwie selbst eingebrockt. Dabei hatte er einen ganz guten Eindruck gemacht gehabt, als er an diesem Morgen im Klassenzimmer aufgetaucht war.
„Sollten ... wir nicht was unternehmen, Timo?“, fragte eines der Mädchen, die direkt neben ihm standen.
Aus dem Augenwinkel schielte er zu ihr rüber. Mia. Hübsch, heftiger Vorbau aber an der abweisenden Haltung hatten sich schon so einige aus der Klassenstufe die Zähne ausgebissen. Vielleicht würde es seine eigenen Chancen erhöhen, wenn er nett genug war und auf sie einging.
Aber die Prügelei war in vollem Gange. Sich da einzumischen würde heißen, entweder selbst was abzubekommen oder Gefahr zu laufen, von einem der Lehrer erwischt zu werden. Auf keines von beidem hatte er Lust. Aber das war es, was sie in ihm sehen wollten. Er sollte diesen verdammten Streit, der eigentlich keiner war irgendwie schlichten.
Lästig.
Achselzuckend schob Timo die Hände in die Hosentaschen. „Mach doch, wenn du willst“, gab er grummelnd zurück.
War schließlich nicht so, als wäre er hier Pausenaufsicht oder so’n Scheiß. Wenn Mia der Meinung waren, dass hier ein Lehrer einschreiten müsste, sollten sie gefälligst selbst petzen gehen.
„Wenn du was sagen würdest ...“, setzte Mia erneut an.
„Ich bin nicht Normans Babysitter“, zischte Timo wütend und wandte sich ab. „Die klären das doch gerade.“
Mia verzog das Gesicht, sagte aber nichts mehr. Fuck, so hatte er seine Chancen bei der vermutlich nicht gerade verbessert. Trotzdem hatte Timo keinen Bock als Kindermädchen herzuhalten. Ja, Norman gehörte zu ‚seinen‘ Jungs, aber das hieß schließlich nicht, dass er denen die Windeln wechseln würde. Und der Neue hatte sich die Prügel verdient. Wenn Timo sich hier jetzt einmischte, würde er Partei ergreifen. Für einen Unbekannten, bei dem er nicht mal wusste, ob der es wert war. Wobei Norman allmählich wirklich Mal aufhören konnte. Der übertrieb aber auch immer gleich alles.
Mitleidig starrte Timo auf den Neuen, der von Norman gerade seine Nase neu gerichtet bekam. Fuck! Das würde garantiert Ärger geben. Ließ sich quasi gar nicht vermeiden. Blöderweise konnte Timo den Neuen sogar verstehen. Scheiße, wie war sein Name gewesen?
„Reicht’s nicht langsam mal?“, rief Timo, als Norman erneut einen rechten Schwinger im Bauch des Neuen platzierte.
„Verfickte Ratte!“, zischte der – offenbar noch immer angepisst, dass der Neue sich von ihm nichts hatte sagen lassen.
Timo musste sich das Grinsen verkneifen. Irgendwie konnte er ja beide Seiten verstehen. Norman war schon immer ein Arsch gewesen. Dass der Neue auf den dämlichen Spruch wegen seiner verschlissenen Klamotten so angesprungen war, hatte er aber wohl nicht geahnt.
Wieder hob Norman die Faust und ließ sie nach unten schnellen. Anstatt dem Neuen ins Gesicht zu schlagen, wurde der Arm aber diesmal von einer anderen Hand gestoppt.
Auch Timo bemerkte erst jetzt, dass offenbar doch jemand bereit war, sich in den Streit einzumischen. Bevor Norman eine Chance hatte zu reagieren, wurde er nach hinten gezerrt und landete nun seinerseits mit seinem lahmen Arsch auf dem Asphalt.
„Pfoten weg!“, brüllte ihn der Zwerg an, der augenscheinlich der Meinung war, sich in die Streitereien der älteren Schüler einmischen zu müssen.
Es war schon fast amüsant, wie der Kleine da stand. Wie alt war der? Zwölf? Dreizehn? Mindestens ein, zwei Klassenstufen unter ihnen. Wäre besser, der würde Land gewinnen. Norman machte üblicherweise keinen Hehl daraus, dass er auch die Jüngeren verprügelte, wenn die ihm blöd kamen.
Überhaupt verprügelte Norman gern jeden Vollidioten, der dumm genug war ihn ‚Pickelfresse‘ zu nennen. Hatte der Neue ja gerade sehr eindrucksvoll bewiesen bekommen.
„Verpiss dich!“, zischte der Idiot Norman den Kleinen prompt an.
„Zieh doch selbst Leine“, giftete der Junge seinerseits zurück.
Schneid hatte der Zwerg, das musste man ihm lassen. Dabei war der Typ ein Schmalbrett sondersgleichen. Ganz zu schweigen davon, dass er gut einen Kopf kleiner sein dürfte als Norman.
Vom Boden, wo der Neue lag, war ein Wimmern zu hören. Das lenkte den Kleinen allerdings von Norman ab. Er drehte sich zu dem Jammerlappen am Boden um und fragte: „Alles okay, Gerald?“
Timo horchte auf. Richtig, das war sein Name. Also kannten die beiden sich. Kein unbekannter Samariter, der zu blöd war, um sich aus den Prügeleien der Großen herauszuhalten.
„Zieh Leine, Rob“, ächzte Gerald vom Boden aus, erntete dafür aber nur ein abfälliges Schnauben von dem Kleinen.
Norman lachte lautstark, während er ein, zwei Schritte nach hinten wankte. „Was ist das? Brauchst du Hilfe von einem Grundschüler?“
„Fick dich!“, zischte der Kleine gereizt zurück.
Allmählich interessiert, trat Timo einen Schritt nach vorn. Wie war der Name von dem Jungen gewesen? Rob? Dafür, dass er so ein halbes Hemd war, hatte er eine verflucht große Klappe. Wesentlich interessanter als dieser Gerald, der noch immer mit blutiger Lippe am Boden lag.
Bevor Timo oder irgendjemand sonst etwas sagen konnte, schnellte Norman jedoch nach vorn. Mit einem fetten Grinsen im Gesicht holte er aus. Bei der Kraft, die hinter dem Schlag stecken dürfte, würde der Kleine vermutlich irgendwann im Lauf des Abends im Krankenhaus wieder aufwachen.
Was in den nächsten fünf Sekunden passierte, konnte Timo im Nachhinein nicht erklären. Jedenfalls war es das, was er den zwei Lehrern, die kurz darauf bei ihnen auftauchten, sagte. Das gleiche, was sie alle erzählten.
Ausgenommen von Norman. Der konnte gerade nicht wirklich etwas sagen. Lag aber nicht, wie man vielleicht hätte meinen können, an dem Blut, das ihm gefühlt literweise aus der Nase tropfte. Für das hatte Normans Hirn vermutlich gerade keine freie Synapse. Die waren garantiert alle mit der Frage beschäftigt, ob seine Eier noch intakt waren oder der Tritt von dem Kleinen sie endgültig pulverisiert hatte.
Timo konnte das Grinsen nicht mehr unterdrücken, während er zusah, wie die kleine Kröte namens Rob dem Lehrer vorheulte, dass Norman versucht hätte, auch ihn anzugreifen, nachdem er schon seinen großen Bruder verprügelt hatte.
„Großer Bruder?“, murmelte Timo, während er weiterhin darauf wartete, dass sie gehen konnten.
„Fucking Sozialversager!“, giftete Norman, der scheinbar doch seine Stimme wiedergefunden hatte.
Natürlich fingen die Lehrer sofort an zu schimpfen, dass das keine Ausdrucksweise wäre. Sie wollten hier schließlich irgendwann mal Abitur machen.
Vollidioten! Als ob da bei Typen wie Norman tatsächlich Freiwilligkeit im Spiel gewesen wäre. Der saß doch aus dem gleichen Grund hier wie Timo – weil es von ihm erwartet wurde. Weil Mama und Papa wollten, dass sie einen höheren Schulabschluss bekamen, damit die obere Mittelschicht sich weiterhin von dem Milieu absetzen konnte, aus dem die beiden Brüder da drüben offenbar gekrochen waren.
Die Lehrer fackelten jetzt allerdings nicht mehr lange. Norman und die beiden neuen Brüder wurden förmlich abgeführt. Da würden demnächst ein paar unschöne Gespräche mit Eltern anstehen.
Timo kam nicht umhin, beinahe so etwas wie Mitleid zu empfinden. Auch wenn er sich im Augenblick nicht sicher war, für wen er davon mehr aufbringen sollte. Für Norman, dem die Eier vermutlich bis nächste Woche brennen würden und der froh sein konnte, wenn er mit den Dingern jemals noch Vater wurde. Oder womöglich doch mit dem Neuen. Diesem Gerald. Der Typ, der gleich an seinem ersten Tag nicht nur die Schmach einer verlorenen Prügelei ertragen musste, sondern auch noch die Tatsache, dass er von seinem Stöpsel von Bruder gerettet worden war.
Ein Lächeln huschte über Timos Lippen. Zumindest in einem Punkt war er sich absolut sicher. Dieser Rob verdiente kein Mitleid. Der könnte noch zu einer durchaus interessanten Herausforderung werden.
Aber zuerst einmal würde der kleine Habenichts lernen müssen, wo er hier in der Schule hingehörte. Und das war ganz sicher nicht auf Seite vom Schulhof, auf der die Großen lebten.
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Diese Story ist entstand aus einem Prompt der Sixty Minutes (07.12.2022)
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