N.CIS Los Angeles
Der entsetzliche Schmerz setzte sofort ein. Er schoss im Bruchteil einer Sekunde in sein Gehirn, breitete sich dann explosionsartig in seinem Körper aus und nahm ihm den Atem. Er bäumte sich auf und erstickte fast an dem Schrei, der seiner Kehle entwich.
Auf die erste Schmerzwelle folgte unbarmherzig die zweite. Wieder und wieder schrie er und wand sich unter der furchtbaren Qual, die man ihm zufügte. Gerade als er glaubte, sich in die Erlösung bringende Bewusstlosigkeit flüchten zu können, ließen sie von ihm ab und stellten ihm ihre Fragen, die zu beantworten er nicht bereit war.
Schweratmend, zitternd und schweißgebadet starrte er auf den furchterregenden Bohrer in den Händen seiner Peiniger. Er brauchte nur zu sagen, was sie hören wollten, dann wäre er erlöst. Vielleicht würden sie ihn trotzdem töten, ganz sicher würden sie das tun, ebenso wie sie Sam und Michelle töten würden, aber in diesem Schmerzstadium war ihm das bereits so gut wie egal. Die Qual würde aufhören...
Nein… nein… neeeiiinnn!!!!
Unter Aufbietung all seiner Kraft schüttelte er heftig den Kopf und spuckte seinem Peiniger einen Schwall Blut ins Gesicht. Ein lauter Fluch… und im nächsten Augenblick vernahm er erneut das grässliche summende Geräusch des Bohrers, bei dem sich sein Innerstes bereits in Erwartung neuer Schmerzen bis zum Anschlag verkrampfte. Bevor er jedoch noch einmal Luft holen konnte, um sich innerlich für den nächsten Angriff zu wappnen, grub sich der Bohrer bereits ein weiteres Mal unbarmherzig in seinen kaputten Kiefer. Er hatte das Gefühl, der Schmerz würde seinen Kopf sprengen und ihn bei lebendigem Leibe zerreißen. Völlig außer Kontrolle bäumte er sich erneut auf und schrie…
Schweißgebadet fuhr Marty Deeks von seinem Sofa hoch und starrte orientierungslos in die Dunkelheit. Das furchterregende Geräusch des Bohrers noch im Ohr hob er zögernd die Hand und tastete vorsichtig nach seinem Kiefer, der sich jedoch unverletzt und mittlerweile nahezu schmerzfrei anfühlte. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit, und mit einem erleichterten Seufzen erkannte er, wo er sich befand.
Er hatte geträumt, es war nur ein Traum gewesen – dieser Traum, der ihn quälte, sobald er einschlief, immer und immer wieder…
Mit dem Handrücken wischte er sich über die schweißnasse Stirn und betätigte mit der anderen den Lichtschalter der Tischlampe. Blinzelnd sah er zur Uhr. Er hatte nicht einmal eine halbe Stunde geschlafen und fühlte sich wie nach einem Marathon.
Schwerfällig stand er auf, schlurfte in die Küche und schaltete den Wasserkocher ein. Mit starrem Blick beobachtete er das vor sich hin köchelnde Wasser, bevor er sich endlich dazu überwand, den Kocher abzustellen und das Kaffeepulver in der Tasse mit Wasser aufzufüllen. Während er sich an den Tisch setzte und den Kaffee umrührte, drifteten seine Gedanken wie so oft in der letzten Zeit zurück in die Vergangenheit…
Acht Wochen waren seit dem letzten Undercover-Einsatz vergangen, jenem Einsatz, der ihm und zwei seiner Teamkollegen fast das Leben gekostet hatte. Acht Wochen, in denen er verzweifelt versuchte, das Trauma zu verarbeiten, das ihn seitdem mit absolut realistischen Albträumen quälte, ihm den Schlaf raubte und ihn vehement arbeitsunfähig machte. Irgendwann zwischendurch war Hetty unerwartet zu einem Krankenbesuch bei ihm aufgetaucht. Mit ein paar deutlichen Worten, seine Position im Team des N.CIS betreffend, war es ihr gelungen, ihn für ein paar kurze Augenblicke aus seiner derzeitigen Apathie herauszuholen.
Nicht etwa, dass er nicht auch von sich aus mit aller Kraft versucht hatte, in den normalen Alltag zurückzukehren. Er war nach den ersten Wochen, in denen sein zweimal gebrochener, grässlich misshandelter Kiefer von einem der besten Gesichtschirurgen wieder zusammengeflickt wurde und inzwischen fast vollständig verheilt war, wieder zum Dienst erschienen, hatte das obligatorische Wiedereingliederungsprogramm des N.CIS absolviert und alle körperlichen und psychischen Tests mit Bravour bestanden. Alles war bestens, zumindest ließ Deeks seine Kollegen und seine Vorgesetzen das glauben, doch wer so eng mit ihm zusammenarbeitete, wie Kensi, G und Sam, der merkte sehr schnell, dass er nicht mehr der „alte“ fröhlich-flapsige Deeks war, der immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte und sich vor allem mit seiner Partnerin stets und ständig erfrischend freche Wortgefechte lieferte, von denen man nie genau sagen konnte, ob sie nur kollegiale Neckerei oder sogar schon ein wenig Flirt waren.
Deeks redete sich ein, alles sei nach mehreren Wochen Abstinenz wieder wie früher, doch sein erster Einsatz strafte ihn selbst und alle anderen Lügen. Er hatte Angst.
Diese Angst hinderte ihn daran, situationsgerecht blitzschnell und instinktiv richtig zu handeln.
„Ich will dich nicht hierhaben“, hatte G Callen, sein Teamkollege und Freund die Sache knallhart auf den Punkt gebracht. „Du bist noch nicht soweit, und solange du das nicht einsiehst, bist du eine Gefahr für dich selbst, für deine Partnerin und für jeden einzelnen von uns.“
Callens Worte trafen ihn hart, doch im Grunde seines Herzens wusste er, dass sie gerechtfertigt waren. Zu viel stand für jeden von ihnen auf dem Spiel, bei ihrer Arbeit und ihren Einsätzen mussten sie sich blind aufeinander verlassen können. G. Callen, Sam Hanna und Kensi Blye – vor allem Kensi als seine Partnerin – bedeuteten ihm zu viel, als dass er sie durch sein Verhalten in Gefahr bringen wollte. Also hatte er seine Marke und seine Waffe erneut abgegeben und war dahin zurück verschwunden, wo er sich derzeit am sichersten fühlte – in seine Wohnung.
Allerdings fühlte er sich auf seinem Selbstfindungstrip wie ein Gefangener seiner selbst und hatte das Gefühl, auf Grund der Schlaflosigkeit, den Albträumen und seiner selbst auferlegten Einsamkeit langsam aber sicher den Verstand zu verlieren. Er zog sich aus seinem gewohnten Alltag zurück, ging nicht ans Telefon, ernährte sich fast ausschließlich von Chips und Fastfood aus dem Bistro gegenüber und durchlebte immer und immer wieder die schrecklichen Augenblicke der Folter, denen er ausgesetzt gewesen war. Nicht einmal Kensi, der er kurz vor jenem tragischen Einsatz endlich so wunderbar nah gekommen war, ließ er an sich heran. Ihre zahlreichen Anrufe und Versuche, ihn zu Hause zu erreichen, ignorierte er permanent, und schwelgte stattdessen in Selbstmitleid, litt unter Dauer-Schlaflosigkeit und hatte keine Ahnung, wie er sich aus diesem Teufelskreis aus Angst und Gleichgültigkeit aus eigener Kraft wieder befreien sollte.
Nicht einmal ein Gespräch mit seinem alten Freund und ehemaligen Team-Psychologen Nate Getz vermochte ihm wirklich zu helfen. Er war körperlich fit, aber im Kopf dienstuntauglich, und er befürchtete zu Recht, dass sich daran vielleicht für den Rest seines Daseins nichts mehr ändern würde, wenn er diese „Kopfsache“ nicht von sich aus schnellstens in den Griff bekam.
Marty wollte von Herzen gern wieder der alte Deeks sein, er wusste nur noch nicht, wie zum Teufel er das anstellen sollte…
N.CIS Washington D.C.
Klatsch!
Die präzise platzierte Kopfnuss ließ Tony DiNozzos schläfriges Haupt unfreiwillig um einige Zentimeter nach vorn schnellen, wobei seine Stirn der Tastatur vor ihm auf dem Schreibtisch kurzzeitig bedrohlich nahe kam.
McGee lugte hinter dem Monitor seines PC hervor und unterdrückte nur mit Mühe ein Stöhnen. Eigenartig, früher hatten er und Ziva über solche Attacken auf ihren Teamkollegen schadenfroh gelacht und gelästert. Aber das war leider schon eine ganze Weile her.
Das Objekt des tätlichen Angriffs zog mit sichtlich verkniffenem Gesichtsausdruck schützend die Schultern hoch.
„Wofür war das, Boss?“
„Für Schlafen mit offenen Augen am Arbeitsplatz, DiNozzo.“
„Aber ich hab` doch gar nicht…“
Ungerührt des Protestes griff „der Boss“ nach den Dokumenten auf seinem Schreibtisch und warf einen Blick darauf.
„Wer zum Teufel soll Schriftgröße Acht entziffern?“, brummte er missbilligend und zog umständlich seine Lesebrille aus der Jackentasche.
„Irgendwann bekomme ich eine kahle Stelle genau dort, wo du mich jedes Mal triffst“, maulte Tony DiNozzo und rieb sich den Hinterkopf.
„Dann bleib in Zukunft wach und mach deine Arbeit“, erwiderte sein Vorgesetzter völlig unbeeindruckt, während er die Dokumente studierte.
„Mister Gibbs, es ist höchst ungebührlich, seine Mitarbeiter durch Schläge mit der flachen Hand auf den Hinterkopf zu traktieren!“, beschwerte sich eine ältere Dame, die unbemerkt von den anderen vor einer halben Minute den Raum betreten hatte. Mit tadelnd hochgezogenen Augenbrauen musterte sie den Angesprochenen über den Goldrand ihrer Brille hinweg und schüttelte dabei missbilligend den Kopf.
„Das sind doch keine Schläge, Hetty“, erwiderte Gibbs ungerührt grinsend und blickte endlich von seiner Lektüre auf - beziehungsweise herunter, denn die ziemlich kleinwüchsige Dame mit der dunklen Pagenfrisur reichte ihm noch nicht einmal bis zur Schulter.
„Was ist es dann?“, lautete prompt ihre Gegenfrage.
„Gibbs-Nüsse!“, platzte Abby, die in diesem Moment mit einem Reagenzglas in der einen und ihrem unvermeidlichen CAF-POW-Becher in der anderen Hand aus Richtung des Labor-Liftes geeilt kam. Mit einem spitzbübischen Grinsen zwinkerte sie ihrem Vorgesetzten zu.
Erstaunt wandte sich die Dame um und musterte die in ein sehr exzentrisches, schwarzes Outfit gekleidete, junge Forensikerin mit den schwarzglänzenden, dünnen Zöpfen und dem gut sichtbaren Spinnennetz-Tattoo am Hals.
„Bitte, was, Miss Sciuto?“
„Kopfnüsse“, korrigierte Tony eilig den verbalen Scherz seiner Kollegin. „Sie meint Kopfnüsse.“
„Und die fördern das Denkvermögen“, ergänzte Abby und fügte mit einem treuherzigen Blick auf Tony hinzu: „Zumindest sollten sie das tun.“
„Seid ihr jetzt fertig?“ Gibbs warf die Dokumente zurück auf den Tisch, bedachte sein Team mit einem finsteren Blick und wandte sich dann mit wesentlich freundlicherer Miene an seinen Gast. „Herzlich willkommen in Washington, Hetty. Ich hoffe, Sie hatten einen guten Flug!“
Die Angesprochene schmunzelte gnädig.
„Danke, ich kann mich nicht beklagen. Ihr Fahrer hat uns pünktlich vom Flughafen abgeholt und, wie Sie sehen, wohlbehalten hier vor dem Gebäude des N.CIS abgesetzt.“
„Das freut mich zu hören.“ Gibbs lächelte charmant, was dem strengen, aber nicht unattraktiven Gesicht des Mittfünfzigjährigen einen fast jungenhaften Ausdruck verlieh. Leider, so fanden seine Mitarbeiter, lächelte er im Dienst viel zu selten. Deshalb war dieses „Phänomen“ auch sofort wieder verschwunden, als er sich an sein Team wandte.
„Ihr erinnert euch sicher noch alle an Misses Henrietta „Hetty“ Lange, die Leiterin des California Naval Criminal Investigative Service aus LA?“
„Natürlich, keine Frage“, beeilte sich Tony DiNozzo zu sagen, während er hinter seinem Schreibtisch hervor eilte und Hetty die Hand schüttelte. „Ich vergesse nie eine schöne Frau.“
Sie lächelte höchst amüsiert.
„Nun, Mister DiNozzo, es freut mich außerordentlich, dass Ihnen die – wie beliebte Miss Sciuto sie doch gleich zu nennen? – Gibbs-Nuss nicht geschadet hat.“ Sie legte den Kopf etwas schief und musterte ihn aufmerksam. „Allerdings muss ich gestehen, Sie wirken etwas abgespannt. Schlafen Sie zu wenig?“
McGee, der ebenfalls nähergetreten war, um die Grande Dame vom N.CIS-LA zu begrüßen, unterdrückte mit allergrößter Mühe ein Lachen.
„Glauben sie mir, Hetty, er nimmt an Schlaf, was er kriegen kann.“
„Na dann ist es ja gut. Und was ist mit Ihnen, Mister McGee? Immer noch so flink in den Weiten des Internets unterwegs?“
„Aber natürlich.“
„Es ist äußerst bemerkenswert, wenn junge Menschen so vertraut sind mit der modernen Computertechnik. Finden Sie nicht auch, Mister Gibbs?“
Der Boss murmelte etwas zum Glück Unverständliches, denn alle Anwesenden kannten nur allzu gut seine Antipathie, Computer betreffend. Er las nicht einmal seine E-Mails, ohne dass seine Leute ihn regelmäßig daran erinnern mussten.
Hetty wandte sich erneut an Timothy.
„Vielleicht sollte ich Sie bei nächster Gelegenheit wieder einmal zu uns nach Los Angeles einladen und Sie dort mit unserer Nachrichtenanalytikerin Nell Jones bekanntmachen. Meinen technischen Leiter Eric Beale kennen Sie ja bereits. Er und Miss Jones sind wahre Koryphäen auf dem Gebiet der Computertechnik.“
„Es wäre mir ein Vergnügen, Eric wiederzusehen und bei dieser Gelegenheit Ihre Mitarbeiterin kennenzulernen“, erwiderte Tim charmant.
„Vorsicht Hetty, unser Bambino ist immer auf der Suche nach neuen Romanfiguren“, stänkerte Tony mit einem verheißungsvollen Seitenblick auf seinen Kollegen. „Ehe Sie sich versehen, finden Sie Ihre besten Leute in seinem neuesten literarischen Wunderwerk wieder.“
Jetzt hatte Tim Hettys volle Aufmerksamkeit.
„Sie schreiben Bücher?“
„Nun ja, also…“, versuchte er sich sichtlich unbehaglich aus der Affäre zu ziehen. „Sagen wir mal so, ich versuche gelegentlich, ein paar eigene Ideen auf diese Art umzusetzen, sozusagen zur Entspannung...“
„Aber das ist bemerkenswert, Agent McGee“, unterbrach ihn Hetty höchst interessiert. „Vor allem, wenn man bedenkt, dass Sie in ihrem Beruf noch Zeit finden, einem so kunstvollen Hobby zu frönen.“
„Also ich befürchte, Agent DiNozzo hat mal wieder maßlos übertrieben“, wehrte Tim McGee bescheiden ab und konnte nicht verhindern, dass ihm vor Verlegenheit das Blut in die Wangen schoss. „Die ganze Sache ist kaum der Rede wert.“
„Haben Sie bisher schon etwas veröffentlicht?“, bohrte Hetty unbeirrt weiter.
Tim schielte verlegen in Gibbs` Richtung, doch sein Boss zog nur in Erwartung einer Antwort bedeutungsvoll die Augenbrauen hoch.
„Ja… na ja, eine Art Mystery-Roman, quasi als Test.“
„Schriftstellerisches Talent ist eine außergewöhnliche Begabung“, bemerkte Hetty mit ernster Miene. „Kann man den Roman schon käuflich erwerben?“
„Nein!“, riefen Tony und Abby gleichzeitig, zutiefst entsetzt bei dem Gedanken, die äußerst scharfsinnige Henrietta könnte sie in McGees Romanfiguren sofort wiederfinden.
Hetty musterte die beiden über den Rand ihrer Brille.
„Nein? Und wieso nicht, Agent DiNozzo?“, wandte sie sich schließlich höchst interessiert an Tony. Sie besaß die strikte Angewohnheit, sämtliche Teammitglieder niemals mit deren Vornamen, sondern immer sehr förmlich mit Mister, Miss oder Agent anzusprechen, ein auffälliger Gegensatz dazu, dass sie sich selbst ausschließlich mit „Hetty“ anreden ließ.
„Er… überarbeitet immer noch das Schlusswort“, beeilte Tony sich zu sagen und warf McGee einen warnenden Blick zu. „Damit tut er sich etwas schwer.“
„So so.“ Hetty nickte amüsiert. „Ich bin sicher, Agent McGee, Sie werden bald die richtigen Worte für Ihren Epilog finden.“
„Ich werde Ihnen einen Entwurf zuschicken, sobald ich fertig bin, Ma`m“, versprach Tim peinlich berührt und zeigte Tony hinter seinem Rücken wütend den Mittelfinger.
Abby bemerkte es und prustete laut los. Gibbs drehte sich nach ihr um und räusperte sich auffällig, während er auf das Reagenzglas in ihrer Hand wies.
„Hast du etwas für uns, Abbs?“
Die junge Forensikerin blickte kurz auf das Glas, als sähe sie dieses gerade zum ersten Mal.
„Klar habe ich etwas für euch, schließlich komme ich nicht ohne Grund aus meinem Labor hinauf ans Tageslicht, aber in Anbetracht der besonderen Umstände kann das warten.“ Sie deutete mit einer Kopfbewegung hinüber zum Treppenaufgang, wo sich das Büro von N.CIS-Director Vance befand. Die Anwesenden einschließlich Gibbs folgten ihrem Blick. Tatsächlich stand der Director abwartend oben vor seiner Tür und beobachtete mit ernster Miene das Geschehen. „Siehst du, Hetty und ihre Begleiterin werden bereits erwartet“, grinste Abby und zwinkerte ihrem Boss fröhlich zu. „Wäre schön, wenn du nach der Besprechung trotzdem nochmal kurz bei mir im Labor vorbeischaust. Aber jetzt solltest du dich wirklich erst einmal weiter um deine Gäste kümmern.“
Begleiterin? Gäste?
Erstaunt nahmen Gibbs, McGee und DiNozzo zur Kenntnis, dass Hetty anscheinend nicht allein angereist war, und wandten sich fragend um. Erst jetzt bemerkten sie die sehr schlanke junge Frau, die abwartend an der Tür zum Lift stehengeblieben war.
„Gut beobachtet, Miss Sciuto!“, lobte Hetty und winkte ihrer Begleiterin zu. „Treten Sie doch bitte näher, Miss Blye.“
Während die junge Frau der Aufforderung ihrer Vorgesetzten nachkam, wirkte das Lächeln auf ihrem auffallend hübschen Gesicht etwas aufgesetzt. Hatte sie eventuell mit einer gewissen inneren Aufregung zu kämpfen, oder war sie vielleicht nicht ganz freiwillig hier?
Die Art, wie sie neben Hetty stehenblieb und selbstbewusst in die Runde der Agenten blickte, ließ ersteres eher unwahrscheinlich erscheinen. Sie war schätzungsweise Ende zwanzig, trug Jeans und T-Shirt unter einer sportlich geschnittenen, schwarzen Lederjacke und hatte das lange, schwarzglänzende Haar zu einem französischen Zopf zusammengebunden. Alles in allem wirkte sie sehr durchtrainiert und trug, wie Tony mit einem fachmännisch geübten Blick feststellte, keinen Schmuck und auch keinen Ehering. Ihre dunklen Augen erinnerten ihn unwillkürlich an die von Ziva…
Diese Erkenntnis versetzte ihm sofort einen kleinen, aber sehr schmerzhaften Nadelstich mitten ins Herz.
Ziva – wo mochte sie jetzt wohl sein?
Inzwischen hatte sich auch Director Vance nach unten begeben und begrüßte Hetty mit einer herzlichen Umarmung. Beide kannten sich bereits von gemeinsamen, früheren Undercover-Einsätzen der Navy. Nach kurzem Austausch der üblichen Höflichkeiten wandte sich Hetty erneut an Gibbs und sein Team:
„Meine Herren, Miss Sciuto, wie Sie sehen, habe ich Ihnen eine „alte Bekannte“ mitgebracht. Special Agent Kensi Blye arbeitet bereits seit sechs Jahren in meinem Team in Los Angeles, und soweit ich mich erinnern kann, kennen Sie sich bereits aus einem früheren, gemeinsamen Einsatz.“
„Natürlich. Freut mich, euch wiederzusehen, Leute.“ Kensi reichte jedem einzelnen der Anwesenden lächelnd die Hand. Dabei blieb ihr Blick an Abbys schwarzer Halskette in Form eines dünnen Spinnennetzes hängen. „Wow Abbs, tolles Goth-Collier!“, bemerkte sie anerkennend und hatte mit diesen Worten sofort wieder das Herz der Forensikerin gewonnen.
„Dankeschön!“, strahlte Abby gerührt und umarmte Kensi spontan. „Falls du nachher noch Zeit hast, würde ich mich freuen, wenn du mich in meiner geheimnisvollen Labor-Welt besuchen kommst.“
„Klar, gerne“, erwiderte Kensi.
„Und wenn du außer dem Besuch in Abbys Horrorkabinett noch mehr von unserem Hauptquartier sehen möchtest, quasi zur geistigen Auffrischung, stehe ich natürlich jederzeit gern als Fremdenführer zur Verfügung“, bot Tony sogleich eilfertig seine Hilfe an, was ihm fast die zweite Kopfnuss an diesem Tag eingebracht hätte. Gibbs bemerkte gerade noch rechtzeitig Hettys warnenden Blick, woraufhin er sich mit seiner bereits schlagfertig erhobenen Hand stattdessen lediglich über das kurzgeschnittene, bereits leicht ergraute Haar seines eigenen Hinterkopfes strich.
Hetty grinste verhalten.
„Kein Grund zur Eile, meine Herrschaften. Miss Blye wird sicher noch mehr als genug Zeit haben, Ihre Einrichtung gründlich in Augenschein zu nehmen.“
„Heißt das, Sie bleiben dieses Mal etwas länger bei uns, Hetty?“, fragte Gibbs erstaunt, denn die N.CIS-LA-Chefin hielt sich bekanntlich nie länger als unbedingt nötig außerhalb ihres Zuständigkeitsbereiches auf.
„Auch, wenn ich Sie enttäuschen muss, Mister Gibbs, aber ich selbst werde bereits mit der Abendmaschine zurück nach Kalifornien fliegen“, erwiderte sie. „Miss Blye dagegen bleibt Ihnen noch eine ganze Weile erhalten.“
„Wie darf ich das verstehen?“, fragte Gibbs vorsichtig, mit einem Seitenblick auf Director Vance, der sich diskret räusperte.
„Nun, das ist relativ einfach zu erklären“, erwiderte Hetty in einem Tonfall, der eher einer Einladung zu einer ihrer Teepartys als einer dienstlich wichtigen Mitteilung gleichkam. „Director Vance informierte uns, dass Ihnen seit kurzem ein Mitglied in Ihrem Team fehlt. Special Agent Blye ist seit einem tragischen Undercover-Einsatz momentan in unserem Team ohne Partner. Also werde ich sie Ihnen auf unbestimmte Zeit ausleihen und versetze sie mit dem heutigen Tag nach Washington D.C." Sie ignorierte Jethro Gibbs ungläubigen Blick und schenkte ihm stattdessen ein honigsüßes Lächeln. „Behandeln Sie sie gut, Mister Gibbs, sie ist eine meiner besten Leute. Sie wird bis auf weiteres Special Agent David ersetzen.“