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Nach dem Prompt „Delacour-Schwarzlangur [Tierische Geschichten mit weißen Hosen]“ der Gruppe „Crikey!“
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Cao zog die weißen Hosen über, deren weiter Stoff nur an der Wade von einem Gummi gehalten wurde. Dann rannte er, so schnell ihn die Sandalen trugen, über die Affenbrücken seiner Heimat - auf Stelzen erhobene Bretter, die Wege über die unter Wasser gesetzten Reisfelder bildeten. Auf den Stegen, oft nur durch ein Seil vom Abgrund getrennt, wich er Trägerinnen mit Körben voller Pflanzenfaser aus, bis er den Markt erreichte, ebenfalls auf wackeligen Stelzen über den Wassern, mit Leitern und Seilzügen an allen Seiten, wo die Arbeiter triefend nass heraussteigen konnten. Nasse Sandalenabdrücke verblassten in der Sonne.
Cao ließ den Blick über die Menge schweifen. Es sollte nicht so schwer sein, jemanden zu finden, der einen Langur auf der Schulter trug. Doch Nguyễn trug auch die runden, kegelförmigen Hüte, die kleidartigen Überwürfe und die Holzsandalen, die alle hier trugen.
Suchend wühlte sich Cao durch das Gewühl näher zur Küste. Ob Nguyễn bereits vorgegangen war? Schiefe Brücken schlängelten sich über die Reistreppen bis zur Bucht zwischen den grünen Karsten, ein Netzwerk aus Holz und Tau.
Eine Hand landete auf Caos Schulter. "Was trödelst du hier so herum? Komm!"
"Nguyễn!", rief er vor Schreck. Tatsächlich war es sein Bruder. Kumi, sein Langur, kauerte im Schutz des breiten Hutes und war ihm deshalb nicht ausgefallen. Das Äffchen knabberte an einem Stück Mango und quiekte protestiertend, als sein Herr loslief.
Cao rannte Nguyễn nach. Das Gedränge vor ihnen wurde jetzt dichter, doch die beiden Jungen drängten sich zwischen Bauern, Trägern und Viehzüchtern hindurch.
"Da! Da oben!", rief Nguyễn aufgeregt. Cao folgte seinem Finger mit dem Blick, sah aber nur ein Dach aus Reisig, das sich über die Hütten erhob.
Mit klopfendem Herzen lief er dem Älteren nach dorthin. Es war einer der Getränkestände. Der Besitzer schimpfte, als die Jungen ihm auf das Dach kletterten, konnte aber wegen des zunehmenden Gedränges nichts unternehmen.
Alle wollten die Ankunft der Segler miterleben. Cao staunte über die Schiffe mit ihren halbrunden, gefalteten Segeln, ihren zierlichen Rümpfen, mit denen sie so weit gefahren waren, über das gefährliche Meer bis zu exotischen Orten, deren Namen süßer klangen als jeder Mangosaft. Während Nguyễn sich im Schneidersitz eine ebensolche Frucht mit Kumi teilte, stand Cao aufrecht und reckte den Hals. Er spürte den Wind an seiner Hose ziehen und stellte sich vor, ebenso würde sich ein Seefahrer fühlen. Eine der langen Stangen umfasst, die die Brücken trugen, träumte er sich in den Bug eines Schiffes, die Hand um ein Tau geschlungen, nichts als die Wellen und den salzigen Seewind vor sich.
"Da! Das ist ihr Schiff, oder nicht?", rief er dann aufgeregt, als er die geschnitzte Schildkröte an einem Bug erkannte. Aufgeregt winkte er und brüllte: "Võ! Võ! Hier sind wir!"
"Sie kann dich nicht hören", brummte Nguyễn, der sich immer noch über seine Mango beugte.
Cao warf seinem Bruder einen finsteren Blick zu. "Dann müssen wir näher dran."
"Wenn du dich nicht noch umgezogen hättest, wären wir ja auch früher hier gewesen." Seelenruhig biss Nguyễn in die Mango. "Ich dachte, du freust dich so darauf, dass sie zurückkommt?"
"T-tue ich ja auch." Er wusste nicht, ob er jetzt endlich zugeben sollte, wie sehr er sich gefreut hatte. Was Võ ihm alles erzählen würde von fremden Orten und Geheimnissen und ... wie sie lächeln würde! Aber da war auch immer Angst. Die Sorge, dass sie nicht auf dem Schiff sein würde, wenn es zurückkam.
"Hab Geduld", riet Nguyễn ihm. "Sie wird uns schon finden."
So war es dann auch. Võ kam die Treppen herauf und entdeckte die Brüder auf dem Dach sofort. Sie sah anders aus: Älter, muskulöser, die Haut gegerbt von Sonne und Salz, die Lippen gesprungen, aber mit strahlenden Augen. Sie hörte gar nicht auf, zu reden, und Cao konnte sie nur anstarren, dieses Mädchen, das so ganz anders war als die junge Võ, die vor fast einem Jahr losgezogen war.
Wie damals war da dieser Stich der Eifersucht, dass er die Abenteuer nicht mit ihr erleben konnte. Abenteuer, die fremdartige Früchte und kostbare Stoffe aus fremden Orten brachten, die nun von Hand zu Hand weitergereicht durch den Hafen schwebten.
Dieses Jahr war er alt genug, um sich ebenfalls zu melden. Und egal, was Võ über harte Arbeit und schlechtes Essen und Mühsal erzählte, sein Entschluss, mitzukommen, hatte sich das Jahr über nur gefestigt. Er hatte gelernt, um die Händlerprüfung zu bestehen, Mathematik und Geografie und all das.
Cao sog den salzigen Wind tief ein. Die Schreie der Möwen schienen ihn zu rufen - in eine neue, goldene Zukunft.