Die schicksalshafte Nacht war gekommen, für die Decadence ihr größtes Werk prophezeit hatte. "Triff mich bei Sonnenuntergang auf der Spitze des höchsten Turmes", hatte sie am Morgen noch zu Modesty gesagt, siegessicher und voller Vorfreude.
Modesty hatte die Einladung mit Vergnügen angenommen, wunderte sie sich doch schon lange, welchen Plan ihr Decadence ihr heute entüllen mochte.
Als Modesty die Turmspitze erreichte, stand die Sonne bereits im Begriff unterzugehen, und tauchte das Land in ein rotglühendes Flammenmeer. Leicht angespannt, aber selbstsicher fragte Modesty: "Nun, Deca, was hast du also ausgeheckt?"
Decadence stand neben ihr, betrachtete den Sonnenuntergang und schwieg.
Modesty redete weiter: "Bei mir war jedenfalls alles ruhig. Ich war äußerst wachsam, wie du vielleicht bemerkt hast. Alle großen Zeremonien und wichtigen Ereignisse die du heute hättest sabotieren können, sind ohne Zwischenfälle verlaufen."
Decadence schwieg noch immer.
"Ich habe auch den König und die Kronprinzen im Auge gehabt", fuhr Modesty fort. "Allesamt zu ehrenwerten Männern geworden. Auch die Königstochter benimmt sich wie es sich für eine Frau ihres Standes geziemt."
Decadence lächelte finster, und warf der untergehenden Sonne noch einen letzten Blick nach, die das Land langsam der Dunkelheit überließ. "Ich bitte dich. Über irgendwelche sterblichen Volksfeste und die wankelnden Gemüter der Thronfolger sind wir doch schon lange hinweg."
"Frömmigkeit in allen Tempeln, keine heimliche Unzucht zwischen den Hecken der Gärten, und kein obszönes neues Theaterstück ist in Arbeit...", zählte Modesty auf. "Was ist denn nun das Wunderschöne, das zu verderben gedenkst?"
Decadence trat ganz nahe an sie heran, sah ihr eindringlich in die Augen, und legte ihre Hand zärtlich auf Modestys Wange. "Du!"
In diesem überraschenden Augenblick wandte Decadence all ihre Macht, die sie sich eigens für diesen Moment angesammelt hatte, und all ihr verruchtes Talent als Muse der Maßlosigkeit an. Jene dunkle, verführerische Aura, mit der sie ansonsten die Menschen dazu inspirierte sich ihren niedersten Trieben hinzugben, richtete sie nun mit geballter Kraft auf Modesty.
Das Licht der Sonne war inzwischen dem unheilverheißenden Schein eines blutroten Vollmondes gewichen, und Modesty stand wie angewurzelt vor ihr, nicht in der Lage den Blick abzuwenden.
"Gib dich mir hin!", flüsterte Decadence, und trat noch einen Schritt näher, so nah dass sie Modestys Herzschlag spüren konnte.
Es folgte eine kurze Stille, in der sie nicht wusste ob ihr Plan denn nun scheitern oder Erfolg haben würde. Doch dann geschah das Undenkbare - die Muse der Tugendhaftigkeit erlag ihrer eigenen Versuchung, und Jahrhunderte der stillen Sehnsucht entluden sich in nur einem Augenblick.