Noch bevor Decadence oder Modesty reagieren konnten, geriet der ganze Thronsaal in Aufruhr, auch in der Welt der Menschen, für die die Machenschaften der Musen unsichtbar waren. Violence-Musen begannen, auf den Befehl ihrer Königin hin, auf die Sterblichen im Saal einzuwirken, hunderfach verstärkt von der mächtigen Präsenz ihrere Köinigin.
Während Deca und Modesty umstellt waren, mussten sie hilflos mit ansehen, wie es in der Menschenwelt urplötzlich zu Gewalttaten ungekannten Ausmaßes kam. Menschen gingen wie wild aufeinander los. Jemand ermordete den König mit einem Messer. Die Palastwachen schritten ein und bald war der Thronsaal getränkt im Blut der Sterblichen.
Doch nicht nur im Thronsaal spielte sich Schreckliches ab. Die Statthaltermusen aus anderen Regionen hatten auf Befehl ihrer Herrscherin Heere von Sterblichen hergeführt, welche, angetrieben vom Neid auf den plötzlichen Wohlstand, oder aus Furcht vor Veränderung über die Stadt herfielen. In nur wenigen Stunden sollte Babylon lichterloh in Flammen stehen und alles was Modesty und Decadence aufgebaut hatten in Asche versinken. Selbst in den Legenden der Menschen würde später davon die Rede sein, dass die Stadt von göttlichem Zorn getroffen wurde.
Modesty flehte ihre Göttin an, aufzuhören, doch es hatte keinen Zweck. Als die diese zur Ansicht kam, die beiden hätten nun genug von der Zerstörung ihres Werkes mit angesehen, hob sie die Hand, zeigte direkt auf Modesty und eine eine seelenzerberstende Lanze aus gleißend hellem Licht schoss direkt auf sie zu.
Im allerletzten Moment sprang Decadence schützend vor ihre Liebste, warf sich vor das aufblitzende Geschoss und wurde davon durchbohrt. Modesty schrie entsetzt, als Deca zu boden stürzte und dort verzweifelt und erfolglos versuchte, sich wieder aufzuraffen. Ihr Musenkörper war unberührt geblieben, doch prangte nun ein klaffendes Loch in Decas Seele, direkt beim Herzen. Noch immer bröckelten kleine Teile heraus und verdampften zischend am Boden.
"Richtig beeindruckend", sagte die Musengöttin, als sie Modesty dabei zusah, wie sie sich weinend über Deca beugte und versuchte ihr irgendwie zu helfen. "Von den meisten Seelen wären wohl nicht mehr als Millionen von winzigen Splittern übrig geblieben. Aber gut. dann verende eben langsam, Abtrünnige. Ich habe Zeit."
"Deca! Bitte sag etwas!", rief Modesty verzweifelt.
Schließlich schaffte Decadence es, sich aufzurichten, oder zumindest sich auf die Knie zu setzen. Sie flüsterte Modesty ins Ohr "Bitte flieh!", küsste sie ein letztes Mal und ließ, für alle unerwartet, ihre Tentakel aus Rauch und Schatten aus dem Boden schnellen. Sie schaffte es, für Modesty eine Lücke in die Reihe der Soldaten zu stoßen, sie für kurze Zeit festzuhalten. "LAUF WEG!", rief sie mit letzter Kraft.
Doch Modesty lief nicht weg. Sie hielt Deca so fest sie konnte und ließ sich auch nicht wegstoßen. Die Göttin ging etwas mehr auf Distanz und gab ihren Soldaten den Befehl, Decadence augenblicklich zu erschlagen. Als eine der Violence-Musen sich aus Decas Greifarmen freigekämpft hatte, folgte sie dem Befehl sofort und ließ ihr Schwert auf die beiden niederfahren. Modesty warf sich schützend über Deca. Der Hieb traf Modesty tödlich und ihr Körper sackte auf der Stelle leblos zusammen.
Decadence kroch so schnell sie konnte zu ihrer Modesty, doch es gab nichts mehr, was sie tun konnte. Als Modestys Seele sich aus ihrem toten Körper erhob, warf sie Decadence zum Abschied noch einen letzten Blickt zu, wehmütig und liebevoll. Deca starrte ungläubig auf ihre tote Geliebte, flehte dann darum, dass zumindest ihre Seele verschont würde.
"Bitte zerstört sie nicht", bettelte sie. Sie ist doch keine Gefahr mehr. Schickt sie zurück zur Quelle, erschafft sie neu! Ich flehe euch an, macht mit mir, was ihr wollt. Aber bitte verschont Modestys Seele. Bitte, ich tue was auch immer ihr verlangt, gebe euch alles was ich kann..."
"Und wie willst mit mir verhandeln?", antwortete die Göttin kalt. "Was willst du mir denn anbieten? Alles was du hast und alles was du bist, gehört mir bereits."
Mit diesen Worten streckte sie die Hand aus und zersprengte Modestys Seele in tausende kleine Fragmente, die auf dem Boden aufschlugen und zischend verdampften.
Decadence schrie aus Leibeskräften. Alle Qualen die sie in den Jahrzehnten des Fegefeuers erleiden musste, verblichen nun gegen den Schmerz, den sie in diesem Moment empfand. Verzweifelt und weinend versuchte sie, die noch übrigen Seelensplitter aufzusammeln. Die meisten kleineren Splitter schmolzen noch in ihren Händen.
Sie schaffte es letztendlich, eine einzige der größeren Scherben zu fassen zu kriegen. Auch wenn das festhalten in ihren Händen schmerzte, sie drückte die große Seelenscherbe aus reiner Verzweiflung an ihr Gesicht, hielt sie fest als wäre es Modesty selbst. Selbst als es sich unter den Tränen schon so anfühlte, als würde die Hitze und Kälte von Modestys Seelenfragment ihr Auge herausbrennen, drückte sie es weiter an sich, wippte verzweifelt vor und zurück und flüsterte immer wieder: "Es tut mir leid. Ich hätte auf dich hören sollen. Wir hätten fliehen sollen."
"Hast du dich nun gebührlich verabschiedet, kleine Muse?", sprach die Göttin, die sich wieder weiter hervorgewagt hatte. "Es wird Zeit, dass du das gleiche Ende findest."
Diese Worte rissen Decadence aus ihrer Resignation. Sie wusste nicht woher, aber der Funke einer Eingebung schoss plötzlich durch ihre Gedanken. Sie nahm den großen Seelensplitter, der von Modesty noch übrig geblieben war, und führte ihn langsam an ihre Brust, wo noch das Loch in ihrer eigenen Seele klaffte. Für einen lezten Augenblick hielt sie Inne und spürte, wie ihre Wunde ganz absonderlich zu brennen und kribbeln begann. Ihr linkes Auge fühlte sich noch immer an, als wäre es gleichzeitig tiefgekühlt und am verglühen. Eine sonderbare Ruhe überkam sie in diesem Moment.
Als die Musenkönigin begriff, was sie vorhatte, holte sie aus um ein weiteres Geschoss nach ihr zu schleudern, doch mit ihrer neu gefundenen Fassung ließ Decedence einen Greifarm aus dem Boden schnellen und fixierte ihre Hand.
Die Göttin schrie sie an: "Nein! Untersteh dich. Ich warne dich, Abtrünnige, wehe du wagst es, auch noch dieses letzte Tabu zu brechen!"
Decadence erwiderte ihren Blick und antwortete kalt: "Und womit willst du mir noch drohen, Tyrann? Alles was ich hatte, hast du mir doch schon genommen."
Mit diesen Worten presste Decadence das letzte verbliebene Stück von Modestys Seele in das Loch in ihrer eigenen. Ein Schmerz, wie von zehntausend glühenden Nadelspitzen durchbohrten ihr Inneres, doch sie war allen Schmerzen gegenüber längst taub geworden.