In den Stunden dunkelster Verzweiflung war in Deca und Modesty das schwache Leuchten einer ehrgeizigen Vision herangereift.
Gleichgewicht, das war es doch, wonach die Göttinen immer wieder verlangt hatten. Wäre es nicht denkbar, dass wilde, ungehemmte Lust und tugenhaftes, ehrbahres Verhalten nebeneinander erblühen konnten, ohne einander zu ersticken? Wäre es denn nicht denkbar, dass zwischen den Musen des Lichts und den Musen der Dunkelheit Frieden herrschen konnte?
Die beiden standen nun vor der Wahl... Sollten sie versuchen das alte Gleichgewicht wiederherzustellen, indem Muse gegen Muse, Mensch gegen Mensch, Tugend gegen Sünde kämpfte? Oder würden sie, beflügelt von ihren Gefühlen zueinander, es wagen einen neuen Weg zu beschreiten?
Es schien unnötig, diese Frage überhaupt zu stellen, denn alles lag im Wandel. Unaufhaltsam. Die Ereignisse waren bereits in Gang gesetzt, und es war völlig undenkbar jetzt noch zu dem zurückzukehren, was einst gewesen war. Jene schicksalshafte Nacht, sie hatte zu tiefe Spuren hinterlassen, und die völlig neuartige Verbindung, die sich aus ihr ergeben hatte, hatte aus Decadence und Modesty etwas vollkommen Neues entstehen lassen. Waren sie doch so viel mehr, als sie einstmals waren.
Es dauerte nicht lange, bis diese Verwandlung sich auf die Menschen unter ihrer Obhut auswirkte, und ein völlig neues Bewusstsein erfasste Land und Leute. Jene fast vergessenen Jahre, denen man zuvor den Begriff "goldenes Zeitalter" hatte zukommen lassen, verblassten nun zur Gänze, im Angesicht des neuen kulturellen, wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Aufschwungs.
Decadence und Modesty - beide konnten nicht mehr die sein, die sie einst waren, nicht ohne zu Lügen und sich zu verstellen. Anstatt gegeneinander, arbeiteten sie nun Hand in Hand, Seite an Seite, und formten so ihre Stadt auf völlig neue Weise.
Wie auch Decadence und Modesty immer mehr eins miteinander wurden, verblassten auch die Grenzen zwischen Sittlichkeit und Sünde, zwischen Scham und Ehrgefühl. Die Menschen ließen ihre niedersten Triebe hinter sich zurück, legten die dunkelsten ihrer Laster ab, doch gleichzeitig befreiten sie sich auch von all ihren ungerechten Vorurteilen, von vielen engstirnigen Regeln und Verordnungen, und von ihrer ureigenen Angst vor Allem, was sie nicht verstanden.
Alle die hier lebten, konnten plötzlich ganz sie selbst sein. Wer niemandem mit seinem Handeln schadete, für den gab es auch keine Tabus mehr. Wer fromm sein wollte, blieb fromm, wer Gelüste hatte lebte diese diskret und ohne Angst vor Verfolgung aus, frei und ungezwungen, doch stets bestrebt, nicht eine Seele zu belästigen.
Wein floss in Strömen, doch beschränkte sich die Trinkerei in den Räumlichkeiten der Schenken. Jede Sexualität durfte offen ausgelebt werden, jedoch hielt man sich in der Öffentlichkeit zurück, und wusste sich zu benehmen. Es gab nichts mehr, was man in einem Theatherstück nicht hätte zeigen, sagen oder darstellen dürfen, doch wusste das Publikum stets zuvor genau, worauf es sich einließ.
Sünde und Sittenhaftigkeit, sie existierten nebeneinander in Harmonie, und wurden dadurch zu Lebenslust und Vernunft, zu Offenheit und Rücksicht, zu "Leben" und "Leben lassen".
Ein nie gekanntes, Gefühl der Glückseeligkeit, der Empathie und des gegenseitigen Verständnisses hatte sich wie ein warmer Mantel das ganze Volk gelegt. Und mit großem Stolz blickten Deca und Modesty jeden Tag auf das Paradies, welches sie gemeinsam in nur so kurzer Zeit erschaffen hatten.
Doch jedes Jahr, wie man es auch verbringen mag, geht letztendlich zur Neige. Umso schneller noch, wenn man schon ewig lebt, und jedes Jahr nur ein Tropfen im tobenden Meer der Zeit zu sein scheint.
So näherte sich in unaufhaltsamen Schritten jener Tag, an dem sie vor Purity und Corruption Rechenschaft würden ablegen müssen. Wie würden die Abgesandten reagieren? Hatten Deca und Modesty im Sinne ihrer Göttinen gehandelt, oder würde der Tag der nächsten Beurteilung ihr letzter sein?