Ein Abstecher bei der Taverne
Der Weg zu Sharimaya war recht weit. Zwar hatte ich keine Berge im Weg, aber hatte aufgrund der weiten Strecke und dem immer mehr aufheulenden Herbstwind, an die vier bis fünf Tage Wanderung vor mir. Der erste Tag meiner Reise war ruhig und angenehm. Der Wind fegte schon fast sanft, wenn auch mit eisiger Hand, über das Land. Immer wieder musterte ich Calcifer, aber er schien mit dem Wetter noch klarzukommen. Dennoch war ich bei jeder stärkeren Winböe etwas angespannt. Fagerleuer sterben oft bei großem Regen und konnten sicher bei starkem Wind verletzt, wenn nicht sogar verweht, werden.
Ein weiterer Punkt, welchen ich gar nicht bedacht hatte, machte mir etwas zu schaffen. Die Tage waren nun viel kürzer, ab 17 Uhr wurde es schnell dunkel und deutlich kühler. Es war gerade, als die Sonne hinterm Horizont verschwunden war und der Himmel sich mehr und mehr tiefblau verfärbte, dass ich zögerte. Ich war mir unsicher, was genau ich tun sollte. Klar, ich war dieses Mal besser ausgestattet, ich könnte die Nacht draußen unterm Sternenhimmel verbringen, aber war ich damit wirklich gut beraten?
Ich rieb meine Hände aneinander, um sie etwas zu wärmen und beobachtete, wie mein Atem Wölkchen bildete. Ich würde die Nacht schon nicht erfrieren und hier waren keine gefährlichen Wesen... Abgesehen von Winterdämonen.
Bei dem Gedanken verfinsterte sich meine Miene leicht, ich blieb mit einem Ruck stehen und verwundert drehte sich Calcifer zu mir um. Mir war es immer noch ein Rätsel, wie es die Winterdämonen in solch großen Zahlen soweit ins Landesinnere geschafft hatten. Vor meinem inneren Auge sah ich wieder das Schlachtfeld mit den vielen Winterdämonen, gegen die sich Felix alleine verteidigt hatte, bis ich dann später eintraf und den General erledigte.
Wie ich einfach auf ihn zu gestürmt war, listig und schnell – und wie blutig ich nachher gewesen war. Ich betrachtete gedankenverloren wieder meine Hände und sah erneut das dunkle Blut des Dämons an ihnen kleben. Mir schauderte es und ich schüttelte mich, ich wollte die sich anschleichenden Gedanken verjagen. Leider leichter gesagt als getan. Ich wurde unruhig, meine Muskeln verkrampften sich leicht und ich versuchte den Bildern und Gedanken zu entkommen, indem ich meine Augen zu kniff, aber das half auch nicht, im Gegenteil.
Vorsichtig schwebte Calcifer zu mir heran und leuchtete in seinem schönsten Orange. Er lenkte mich ab und ich öffnete meine Augen wieder. Sein Licht und Wärme beruhigten mich ungemein und ich ließ langsam meine Schultern sinken, welche ich zuvor angespannt hatte.
»Danke, Calcy«, bedankte ich mich und lächelte leicht. Das Fagerleuerchen ließ als Antwort seine Flammen verspielt aufflimmern. Am liebsten hätte ich ihm durch die Flammen gestrichen, aber das hätte nur höllisch wehgetan... Stattdessen blickte ich zum Himmel. Mittlerweile war es ganz finster und ich konnte hinter ein paar Wolken ab und an einen Stern aufblitzen sehen. Es sollte wirklich mal eine Entscheidung her, entweder ich wanderte jetzt weiter oder ich schnappte mir einen Portpotion und machte mir in der Taverne einen schönen Abend. Ich dachte nur kurz drüber nach, griff dann an den Portbelt und zog ein Portpotion hervor.
Kurz beäugte ich das rundliche Fläschchen, dann pfefferte ich es auf den Boden unter meinen Füßen. Kaum zersprang das Glas, schloss ich meine Augen und dachte an die Taverne, genauer gesagt an das Sofa vorm Kamin.
Für den Moment empfand ich es als sehr seltsam, aber auch sehr interessant, wie sich Luft, Temperatur und Geräuschkulisse um mich herum veränderten. Von frisch, kalt und rauschend änderte es sich zu warm und ruhig. Als ich meine Augen wieder öffnete, befand ich mich in der Taverne, ich stand zwischen Sofa und Kaffeetisch und hinter mir war der Kamin. Ich blickte mich um und musste feststellen, dass sich anscheinend niemand anderes in der Taverne befand. Viele schienen früher zu gehen, seit es auch früher dunkel wurde und alle wirkten etwas erschöpfter; ob das nun am Wetter oder dem Kampf gegen die Winterdämonen lag, wusste ich nicht genau zu entscheiden.
Mit einem lauten Gähnen streckte ich mich und ging vorerst in die Küche, wo ich mir eine Tasse Tee zubereitete. Calcifer folgte mir leise knisternd überall hin und schien jede meiner Bewegungen zu beobachten. Im ersten Moment verwirrte er mich damit, aber dann ignorierte ich es, da war es ganz hilfreich, dass Calcy keine Augen in dem Sinne hatte.
Mit meiner Tasse Tee ging ich dann wieder in den Hauptraum und während ich den Tee auf den Tisch und meinen Rucksack auf einen Stuhl stellte, flog Calcifer zum Kamin und entfachte ein Feuer. Bald breitete sich wohlige Wärme im ganzen Raum aus und ich machte es mir bequem. Ich setzte mich auf einen Stuhl, sodass ich den Tisch rechts von mir hatte, das Sofa und der Kamin zu meiner Linken lagen, die Tür zur Taverne hinter mir und eines der Fenster vor mir, dann zog ich mir noch einen dritten Stuhl heran, wo ich meinen linken Fuß drauf platzierte.
Mit einem glückseligen Seufzer entspannte ich und ließ mich tiefer in den Stuhl sacken. Calcy kam angeschwebt und machte es sich in einer leeren Schale auf dem Tisch bequem, während ich an meinem Tee nippte. So sehr ich die Gesellschaft in der Taverne auch liebte, genauso schätze ich die einsame Ruhe. Ok, ganz einsam war ich auch nicht, schließlich war Calcifer bei mir.
Immer wieder ließ ich meinen Blick schweifen. Die Taverne war mir so vertraut, aber hatte immer wieder neue Geheimnisse, die man entdecken konnte. Ich liebte es die Geheimnisse zu lüften oder Rätsel zu lösen, es war mir neu, sie zu verstehen. Früher hatte ich nach jedem nervigen Rätsel aufgegeben und es frustriert in einer Ecke vergammeln lassen. Es tat jedes Mal weh, wenn meine Geschwister sich auch an dem Rätsel versucht hatten, es nach nur kürzester Zeit lösten und ich selbst war dann das dumme, dritte Kind. Das Schönste hier war, es war noch nicht mal das atemberaubende Gefühl ein Rätsel gelöst zu haben, dass ich am liebsten hatte, nein, ich hatte den Nervenkitzel lieb gewonnen. Schaffe ich es? Aus welchem Winkel sollte ich denken, kann ich es vielleicht schneller schaffen als beim letzten Mal?
Rätsel waren hier keine ernste Sache mehr, wo ich das Gefühl hatte, ich müsse mich beweisen, Rätsel waren ein schöner herausfordener Vertreib geworden, mit dem ich mich jederzeit beschäftigen konnte.
Ein lautes Rütteln an der Tür der Taverne ließ mich zusammen zucken und sofort fuhr ich vom Stuhl hoch, dabei kickte ich ihn aus Versehen um. Noch bevor die Lehne des Stuhls den Boden berührte, hatte ich mein Skalpell gezogen und eine kampfbereite Haltung eingenommen, mein Blick lag konzentriert auf der Tür und meine Muskeln waren angespannt.
Ich hörte das Geräusch des gefallenen Stuhls gar nicht, ich war zu konzentriert und spannte meine Muskeln nur noch mehr an, als die Tür sich, wie von Geisterhand, einen Spalt öffnete. Für einen Moment herrschte angespannte Stille, doch dann wurde die Tür mit einem Schlag sperrangelweit aufgerissen, ein starker Wind wehte mir entgegen und löschte alle Lichter, sowie den Kamin im Zimmer. Ich stand in einer plötzlichen Dunkelheit und ließ mich nur kurz ablenken. Ich riss meinen Blick vom Kamin sofort wieder weg, auch wenn ich nur für Bruchteile von Sekunden hingesehen hatte, und versuchte zu erkennen, was vor mir geschah. Ich konnte nur noch erahnen und deutlich hören, wie die Tür mit einem Knall zu fiel, es wurde noch dunkler im Zimmer und gespenstisch still.
Flach atmend, versuchte ich alles an möglichen Geräuschen wahrzunehmen. Was ich zuerst vernahm, war ein leises und teuflisches lachen. Ohne auch nur einen weiteren Moment zu zögern, ließ ich mit einer schnellen Handbewegung mein Skalpell in die Richtung schnellen, aus der das Kichern kam, ein dumpfes Geräusch verriet mir, dass das Skalpell nun im Holz einer Wand steckte. Ich knurrte genervt.
»Zur Hölle, was willst du, olle Nervensäge!?« fauchte ich in die Richtung aus welcher das Lachen gekommen war und wand mich, ohne eine Antwort abzuwarten, zum Tisch. Ging es Calcifer gut?! Nur ganz sachte leuchtete Calcifer, er hatte sich so klein wie möglich in der Schale gemacht, seine Flammen rauschten leise und waren bläulich. Erleichtert atmete ich auf und hoffte, die Schale würde nicht gleich schmelzen. Vorsichtig schnipste ich gegen die Schale, um auf mich aufmerksam zu machen.
»Hey Kleiner, komm hoch. Es ist alles gut.« Kurz schien Calcy unsicher, erst als er sich größer machte und sein Schein mein Gesicht erhellte, erhob er sich aus seiner Schale und machte sie überraschend groß. Wild zischelnd flog er im Kreis um mich herum. Ich musste schmunzeln, er wollte mich verteidigen.
»Lass gut sein, Calcy. Der Typ kann eh nichts und ich möchte nicht, dass du dir wehtust. Könntest du bitte wieder alle Lichter und den Kamin entfachen?«, fragte ich mit beschwichtigender Stimme. Während das Fagerleuerchen sofort losschwebte, um den Raum wieder zu erhellen, ertönte ein verächtliches Schnauben aus den Schatten.
»Hast du was zu sagen, Nemo?«, fragte ich im herausfordernden Tonfall und mit fester Stimme. Aus den Schatten tauchte ein groß gewachsener Mann mit Zylinder, Monokel und Umhang auf.
»Ich kann also nichts?« fragte mich der Erzähler mit bissiger Stimme. »Wenn ich dir dazu nicht die Macht gebe, dann ist es so« antwortete ich und blickte ihm geradewegs in die Augen. Er lachte nur kurz auf. »Schön, wie naiv du denkst.«
»Schön, wie du denkst, dass ich dich nicht unter Kontrolle habe.«
»Dafür warst du eben noch, aber sehr angespannt und wütend«, grinste er mir entgegen und schickte sich an, es sich auf einem Stuhl auf der Seite gegenüber von mir bequem zu machen. Ich ließ ihn einfach, es brachte nichts sich jetzt mit einem Schatten zu streiten.
Im Raum war es nun so hell und gemütlich, wie zuvor, ausgenommen der mich reizenden Präsenz des Erzählers. Calcifer machte es sich in der Schale bequem, welche nun auf dem Tisch zwischen ihm und mir stand. Ich überlegte kurz und setzte mich dann. Ich würde nur noch den Tee austrinken und dann mich schlafen legen. Wieder mit dem linken Fuß auf dem Stuhl, aber mit aufrichtiger Haltung, meinen linken Arm auf den angewinkelten Knie ruhend, griff ich nach der Tasse und nippte ruhig am Tee. Der Erzähler schien mich einfach nur zu beobachten und hielt den Mund.
Ich fand es schon seltsam, wie er die ganze Zeit schwieg, ich konnte noch nicht mal ein spöttisches Grinsen auf seinen Lippen aus machen. Recht schnell hatte ich die Tasse leer getrunken, Appetit hatte ich keinen und mit dem Erzähler fast neben mir, konnte ich meine Gedanken nicht schweifen lassen und alten Erinnerungen der Taverne folgen. Seine Präsenz sorgte, wie allzu oft, für Chaos in meinem Kopf, sodass ich nur jedem x-beliebigen Gedanken folgen konnte, nur um ihn dann fast sofort wieder zu verlieren. Ich seufzte und stellte die leere Tasse auf den Tisch, ich spürte, wie Augenringe mein Gesicht zierten und vermutlich sah ich mit einem Mal ziemlich fertig aus.
Ich erhob mich und ging zum Sofa. Ein lautes Rauschen und ein Pfiff ließen mich verwirrt über die Schulter blicken. Calcifer hatte sich empört rauschend in der Schale aufgerichtet. Der Erzähler deutet, mit vor der Brust verschränkten Armen da sitzend, mit einem knappen Nicken zu Calcy. »Du hast da wen vergessen«, meinte er nur trocken. Mit hochgezogener Augenbraue und einem müden Gähnen trat ich zurück zum Tisch.
»Tut mir leid, Calcy, hatte ich ganz vergessen, war keine Absicht...«, murmelte ich und griff mit der Rechten, ohne nachzudenken, nach der Metallschale. Mit einem kurzen Aufheulen schreckte ich vor Schmerz zurück. Meine Hand brannte und für einen Moment war ich vom Schmerz wie betäubt. Kaum hatte ich mich vom ersten Schock erholt, schoss ich in die Küche, wo ich meine Hand unter Wasser hielt.
In der Küche war es dunkel und ich sah nur dank des einfallenden Scheins vom Hauptraum, wo die Spüle stand. Ich hielt meine verbrannte Hand unter sachte fließendes Wasser, meine Ellenbogen waren abgestützt auf dem Rand der Spüle und ich hing mehr gebeugt, als das ich stand. Es brannte wirklich schrecklich, wie konnte ich Dummkopf auch nur vergessen, dass Calcifer mit seiner Wärme die Schale erhitzt hatte.
Ich seufzte, als ich spürte, wie gut das Wasser endlich tat und legte erschöpft meinen Kopf auf den linken Arm ab, während ich mit der linken Hand die Rechte hielt und mit dem Daumen über das rechte Handgelenk strich. Wenn Menschen beispielsweise Daumen und Zeigefinger aneinander reibten, dann versuchten sie sich selbst zu beruhigen. Ähnlich versuchte ich es gerade und hatte auch das Gefühl, dass es zumindest ein bisschen half.
»Na, nicht aufgepasst?« hörte ich den Erzähler fragen. Ich bewegte meinen Kopf nur leicht, ohne aufzublicken und konnte aus'm Augenwinkel erkennen, wie er im Türrahmen stand. Ich seufzte nur laut und bewegte meinen Kopf wieder weg, ich hatte keine Lust von ihm schikaniert zu werden. Komischerweise ließ er auch davon ab mich zu ärgern und schien nur still im Türrahmen zu lehnen.
Nach ein paar Minuten machte ich das Wasser aus und richtete mich auf. Ich schritt zur Tür und schob mich am Erzähler vorbei. Im Zimmer ging ich zur Calcy, welcher besorgt im tiefen Rot flackerte.
»Alles gut, Kleiner...«, murmelte ich und betrachtete in seinem Schein meine Hand. Dank dem Mitaine, welchen ich immer unter dem Lederarmschutz beider Arme trug, war meine Handfläche verschohnt worden, aber meine Finger waren stark gerötet und es schien sich erste Bläschen zu bilden – das war vermutlich noch eine Verbrennung zweiten Grades. Nun hatte ich wirklich genug für den Tag.
Müde nahm ich meinen Rucksack vom Stuhl beim Tisch und schlürfte zum Sofa. Dort setzte ich mich und holte zunächst Calcys Fläschchen vorsichtig und nur mit der linken Hand heraus. Als ich es auf den Kaffeetisch stellte, war das kleine Fagerleuerchen auch schon da und machte es sich in der Flasche bequem. Als nächstes machte ich den Portbelt und die kleine Ledertasche an meinem Oberschenkel ab und legte beides auf den Kaffeetisch.
Danach stand ich auf und entledigte mich meiner Assassinen-Robe. Es dauerte etwas, weil es mir mit einer Hand nicht zu leicht fiel. Ich streifte noch meine Schuhe ab, dann legte ich mich auf das Sofa und benutzte meine Robe als Decke. Es war nicht so bequem wie ein Bett, aber ich gewöhnte mich sofort wieder dran und schlief nach nur wenigen Minuten ein.
Ich bemerkte nur nebenbei und ganz schwach, wie der Erzähler alle Lichter, außer den Kamin, löschte und sich hinter das Sofa setzte und dort anlehnte. Mein Blick lag auf Calcifers orangefarbenes Leuchten, als ich endlich in einen etwas unruhigen, aber wohltuenden Schlaf fiel.