Endlich ein Besuch bei Sharimaya
Bevor ich den Portpotion nutzte, hatte ich dann doch gezögert und Calcifer gebeten in sein Fläschchen zu gehen. Dort hatte er sich dann auch ruhig verzogen und war sofort eingeschlafen. Mit einem Lächeln hatte ich den Korken in die Flasche gedrückt und sie mir um den Hals gehängt, dann griff ich wieder nach dem rundlichen Fläschchen.
Kaum hatte ich den Portpotion auf den Boden unter mir gepfeffert und an Marvin Grauwolf gedacht, befand ich mich auch schon an einem anderen Ort als zuvor. Der Laubwald von eben war verschwunden und nun stand ich zwischen wenigen Bäumen am Rand von Xandras Wald. Allein hier war es schon sehr schön, die Bäume standen stolz dem Himmel entegegn gereckt und wirkten voller Kraft. Hier schien der Herbst nicht mit solch einer kalten Hand zu herrschen, wie an manch anderen Orten.
Ich löste meinen Blick von den Bäumen und suchte nach meinem vierbeinigen Freund. Ich hatte angefangen zu lernen, wie man mit den Portpotions etwas spielen konnte. Desto fester man an einen Ort oder eine Person zu denken schien, desto näher entstand dort ein Portal. Dachte man eher schwach dran oder sah die Person in Gedanken, wie sie weiter entfernt stand, dann hatte man auch ein Portal mit entsprechend Abstand.
Genau solch einen Abstand hatte ich für meine Ankunft hier gewollt, es würde eine perfekte Chance geben, die Fellnase mit einem kleinen Schrecken zu begrüßen. Und tatsächlich, da saß er, nur einige Meter entfernt vor dem ersten Baum des Waldes. Der Wald lag in seinem Rücken und er schien geduldig zu warten. Kurz überlegte ich, ob es wirklich fair war ihn zu erschrecken, da wartete er schon so nett auf mich und machte mit mir immer Späße in der Taverne, da war es schon gemein von mir...
Ich beschloss vorerst mich anzuschleichen. Ich verzichtete auf eine gebückte Haltung, schritt aufrecht und mit Bedachtheit einen kleinen Bogen. Mein Blick lag auf den Grauwolf und ich bewegte mich wie ein lautloser Geist. Ich ging ein Stück in den Wald, damit ich schon einige Meter hatte, die ich nur geradeaus gehen musste, um hinter ihm zu stehen.
Als ich den Punkt erreicht hatte, ab dem ich nur noch geradeaus und direkt auf Marvin zu gehen musste, wurde ich mit jedem Meter weniger, ein Stück leiser. Als es galt nur noch vier Meter zu gehen, atmete ich immer flacher und beim letzten Meter, den ich schritt, hielt ich kurz die Luft an. Ganz vorsichtig blieb ich stehen und senkte meinen Fuß mit Bedacht. Dann nahm ich mir die Zeit ganz vorsichtig Luft zu holen, mein Blick lag auf den Rücken des Grauwolfs, welcher von meiner Anwesenheit noch nichts bemerkt zu haben schien.
Dann atmete ich aus.
»Hey, Marv! Danke für's Warten!«, sprach ich in normaler Lautstärke und durchbrach somit plötzlich die vorherige Stille. Angesprochener zuckte sichtlich zusammen, wirbelte herum und stand mit einem Satz auf seinen vier Pfoten. Für einen Moment sah ich ein Funkeln in seinen Augen, da war er doch glatt in Angriffshaltung gegangen. Aber seine Züge änderten sich fast sofort.
»Loki! Musst du mich immer erschrecken?«, fragte mich der Wolf und seine Haltung wurde entspannter. »Na ja, es ist jetzt nicht so, als wäre ich hinter dich gesprungen und hätte laut 'BUH' gerufen...« Ich grinste ihn an und drehte mich zum Wald. »Wie geht es dir denn?« Marvin gesellte sich neben mich. »Mir geht es gut, danke. Wie war die Reise bisher?«
Nach einer Weile entdeckten wir den Wachturm auf einer kleinen Lichtung. Er sah alt und bröcklig aus. Etwas besorgt runzelte ich die Stirn, das sah nicht so gut aus. Auch Marvin schien etwas unsicher. Wie hatte Sharimaya denn vor diesen Wachturm sicher zu verteidigen? Als wir auf der Lichtung waren, gingen wir ein Stück um ihn rum, sodass wir zur Rückseite gelangten.
Adamas und Tolkin warteten schon auf uns. Es war ein etwas unübliches Treffen, ich hatte mit beiden keinen sonderlichen Kontakt. Immer wieder hatte ich was von Tolkin gelesen und auch bei Adamas reingeschnuppert, aber geredet hatte ich bisher nur etwas mit Tolkin. Beide waren mir aber symphatisch und wir grüßten einander freundlich. Wir wollten auch gerade beraten, wie wir sie am besten überraschen konnten, als hörbar die Tür auf der anderen Seite aufgerissen wurde – und eine Wut entbrannte Shari herausstörmte.
Wir alle zuckten kurz zusammen. Was war denn nun passiert? Anscheinend war etwas geschehen, denn Sharimaya schimpfte lauthals mit ihrem Wachturm. Es hätte mich nicht gewundert, hätte halb Belletristica sie hören können. Allerdings war das auch unsere Chance! Auf leisen Pfoten huschte der Grauwolf um den Wachturm und kam nach wenigen Sekunden wieder zu uns.
»Shari scheint den Turm wirklich eine Lektion zu erteilen. Durch die Tür vorne kommen wir so nicht. Aber auf der einen Seite ist ein Fenster, es ist offen und nicht so weit oben, da könnten wir alle durch«, berichtete Marvin mit gedämpfter Stimme.
Wir nickten stumm, keiner wollte wirklich reden, aus Sorge, Shari würde uns dch noch bemerken und die Überraschung dann nicht mehr funktionieren. Gemeinsam schlichen wir zum Fenster, Marvin voraus, dann Adamas und Tolkin und ich zuletzt.
Beim Fenster öffnete Adamas es ein Stück weiter und Marvin verschwand als erster mit einem eleganten Satz in den Wachturm. Das Fenster war wirklich nicht so hoch und als Nächstes verschwanden Adamas und Tolkin hinein. Ich zögerte aber. Sharimaya schien wirklich in Rage, so hatte ich die liebe Waldhexe noch nie erlebt. Mit verschrenkten Armen lehnte ich mich gegen die Mauern des Wachturmes und lauschte. Ich blieb so lange stehen, bis Sharimaya fertig zu sein schien.
Dann stützte ich mich mit der linken Hand auf den Fensterrahmen ab und war mit einem Sprung drinnen, möglichst leise landete ich auf meinen Füßen. Zu viert verharrten wir kurz im Dunklen, bis Sharimaya die Tür öffnete und eintrat. Marvin wagte sich nah an sie heran und schaute sie mit seinen leuchtenden Augen an, dabei erschrak sie. Zur Beruhigung stupste Marv sie an und sprach: »Das hast du gut gemacht, Shari! Dieser gemeine Wachturm muss unbedingt noch lernen, wie man sich benimmt!«
Dann trat auch ich mit einem Lächeln hervor. »Du warst ja ganz schön laut, Shari! Halb Belletristica hast du aufgescheucht«, lachte ich. Auch die anderen traten nun ein Stück hervor aus der Dunkelheit und ich sah, wie sich ein fröhliches Lächeln auf Sharis Lippen breit machte. Es war toll sie so glücklich zu sehen, besonders nach der Schimpftirade eben.
Etwas peinlich schien es ihr schon, aber das überspielte sie, indem sie Adamas und Tolkien herzlichst begrüßte. Da bat sie mich Calcifer zu rufen, damit er uns ein warmes Feuer machen konnte. Durch die Löcher in dem Gemäuer des Wachturms pfiff ein unangenehm kalter Wind und sofort stellte ich meinen Rucksack ab. Ich griff nach dem Fläschchen um meinem Hals und weckte Calcifer vorsichtig. Vor Müdigkeit etwas taumelnd und unregelmäßig flatternd, entfachte Calcy ein wohlig warmes Feuer für uns, um welches wir uns setzten und anfingen angeregt miteinander zu reden. Die Gefahr durch die Winterdämonen war natürlich Gesprächsthema Nummer eins.
Wir redeten, bis es draußen schon längst dunkel geworden war. Bevor wir auseinander und unsere eigenen Wege gingen, bat uns Sharimaya noch kurz um Gehör. Sie hatte wohl einen Plan, wie sie ihrem Griesgram von einem Wachturm helfen konnte. Ich fröstelte kurz, als ich hinaus in die Nacht trat. Adamas und Tolkien verabschiedeten sich und verschwanden in die Nacht, wohin wusste ich nicht, ich hatte keine Informationen zu ihren Orten auf Belletristica.
Mit meinen Händen in den Taschen meiner leider etwas dünnen Robe, schaute ich ihnen nach, bis sie nicht mehr zu sehen und zu hören waren. Der Abend war wirklich angenehm gewesen und ich hatte die Nähe der anderen sehr genossen. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und schaute zum nächtlichen Himmelszelt. Es herrschte eine sternenklare Nacht und in der Dunkelheit schien mir alles durch die Kälte des nahenden Winters zu funkeln. Ich hörte, wie Pfoten dumpf über den Waldboden zu mir schritten.
»Hey Fellase.« Marvin stellte sich nah an mein Bein, vermutlich auf der Suche nach etwas Körperwärme, denn selbst mit seinem dicken Wolfsfell schien es Nachts, ohne jegliche Bewegung, unangenehm kalt zu werden.
»Hey Loki«, antwortete Vierbeiner, legte ebenfalls den Kopf in den Nacken und schaute den Sternen entgegen. Für einige Minuten standen wir beide stumm nebeneinander. Wir betrachteten den Nachthimmel und ich ging meinen eigenen Gedanken nach.
Schließlich senkte ich meinen Blick mit einem Seufzer und streckte mich etwas. Nun wurde es mir entschieden zu kalt. Marvin hatte sich nicht ablenken lassen, er blickte weiterhin zum Himmel und es würde mich nicht wundern, würde Lyssa ihn gerade auf Trab halten. Ich beäugte meinen Bro von der Seite und zuckte kaum merklich zusammen, als nur seine Augen sich zu mir drehten.
Marvin lachte leise und ich knuffte ihm in die Seite, dann umarmte ich ihn zum Abschied und wir gingen beide unserer Wege. Marvin schlenderte in die Richtung, wo entfernt seine Grafschaft lag und ich selbst schlug den Weg ein, der tiefer in den Märchenwald führte.
Ich war neugierig. Dies war ein Märchenwald und ich wusste nur von manchen Wesen, welche Xandra in ihrem Werk ,,Belle-Land" in einem Kapitel erwähnte, aber es war was ganz anderes, solche Wesen zu suchen und selber zu Gesicht zu bekommen. Während der Mond hell am Himmelszelt leuchtete, schritt ich aufmerksam und leise atmend zwischen den Bäumen durch. Hier fiel mir besonders auf, wie ein bisschen Frost an Blättern hier und da klebte. Auf einer kleinen Lichtung angekommen, blieb ich stehen. Hier ließ der Mond den Frost wahrlich aufleuchten und glitzern. Es fühlte sich magisch an, aber sachte, dezent und "schüchtern", als würde die Natur nur zögerlich mir ihre Schönheit darbieten wollen.
Aber das kam mir nur recht. Der Wald wurde dadurch geheimnisvoll und umso interessanter, doch ich wollte nicht eine ganze Nacht durch die Geheimnisse jagen und finden. Nicht umsonst, hatte ich einige Tage für die Reise eingeplant und dank der Portpotions weitaus mehr Möglichkeiten erhalten.
Für einen weiteren Moment genoss ich die Atmosphäre, dann griff ich nach einem Portpotion, ließ meinen Blick zu Himmel gleiten und dachte so stark, wie nur möglich an Andersons Feste, auf welcher ich nie zuvor gewesen war. Mit geschlossenen Augen ließ ich den Potion zu Boden fallen und hoffte in ständig, beim richtigen Ort auszukommen.
Bevor ich meine Augen ganz geöffnet hatte, wurde ich vom Geräusch tosender Wellen an einem Kliff verwirrt.
»SHIIIiiiii...t!« Unter meinen Füßen tobte das Meer und Wellen aus schwarzer Tinte bäumten sich auf. Für einen Augenblick fühlte ich mich auf die Bellestern zurückversetzt und atmete schwer. Ich musste mir erst bewusst machen, dass ich mit gutem Abstand zum Abhang auf fester Erde stand. Langsam drehte ich meinen Kopf und erblickte, ganz zu meiner Erleichterung, einen Weg, der nach oben zu führen schien.
Vorsichtig drückte ich mich an der Wand zum Weg und erklomm diesen, während ich mit einer Hand halt suchend, mich an der Erde voran tastete. Kaum war ich oben angekommen, rannte ich einige Meter, bis Gras unter meinen Füßen war und sackte mit einem scharf eingezogenem Atemzug auf die Knie. Ich war zu müde und zu entspannt gewesen, für diesen kleinen Höllenschreck. Aber, ich war auch schuld dran. Bei Andersons Feste dachte ich sofort an Klippen beim Meer.
Ich hob den Kopf. In der Ferne leicht rechts von mir konnte ich schemenhaft Gemäuer erkennen. »Oh Flausch sei Dank.«
Wieso hatte ich nicht direkt an Emma oder Phil gedacht, so wie ich es bei Marvin getan hatte? Ich gähnte laut und beantwortete damit selber meine Frage. Mit einem kurzen, müden Murren stapfte ich los. Ich wollte endlich ins Warme und in ein gemütliches Bett, zu dem war es längst überfällig Emma und Phil in der Feste zu besuchen!
Der kurze Marsch zur Feste kühlte mein gereiztes Gemüt ab. Vor einem großen Tor angekommen, das Einlass in die umliegende Mauer gewährte, drückte ich mit meinem ganzen Gewicht dagegen. Tatsächlich öffnete sich das Tor einen Spalt, welcher breit genug war, dass ich flink hindurchhuschen und auf der anderen Seite das Tor wieder zu schieben konnte. Mit schnellen Schritten ging ich zum Hauptgebäude der Feste und klopfte an die erste Tür, die ich entdeckte.
Ich musste mehrmals gegen die Tür hämmern, bis ich Schritte hörte und man mir endlich aufmachte. Mit einem Lächeln begrüßte ich das gelockte Mädchen vor mir. »Hey, Emma, guten Abend. Ich hoffe, ich störe nicht?«