Ohne Federlesens wirbelte der Druide die Klinge umher und murmelte Worte in einer ihnen unverständlichen Sprache. Die Schneide durchtrennte in nur Augenblicken die mit Blut durchtränkte Bandage, währenddessen der Schrecken den beiden Mädchen lauthals entwich. Es musste ausgesehen haben, als wolle er die Hand vom Arm trennen.
»Habe ich es mir gedacht«, offerierte der Mann. »Du bist der, der sieht und die Kette in der Lage ist neu zu schmieden.«
Jonas Gliedmaße war gänzlich unverletzt. Weder Blut noch sonstig erleidbare Verletzungen trug er auf dieser. Woher das Blut demnach stammte, schien nicht ersichtlich gar logisch zu erklären. Dennoch, sie schimmerte in einem Bordeaux-Rot, so als wäre sie hoch entzündet.
Ohne dass ihm Worte einfielen, die sich ihm erschließen würden, hob er die Hand und drehte sie von rechts nach links und zurück. »Sie ist unverletzt«, stellte er nüchtern fest.
»Was hast du erwartet, Junge?«
Angesprochener sah auf. »Nicht das.«
Ein Schnauben entwich dem Alten und ein aufmerksamer Beobachter wären die rollenden Augen sicherlich aufgefallen. »Subalterne. Woher sollen sie es auch wissen«, beruhigte er sich mit Bedachten selber.
Gemeinsam machten sie wieder auf den Weg. Dieses Mal jedoch entgegengesetzt dessen, den sie zuvor gingen. Widererwartend wechselten sie nach kurzer Rast abermals die Richtung, sodass es dem Anschein hegte, der Mann würde sie in die Irre führen.
»Das tue ich ganz gewiss nicht. Seht gefälligst genauer hin. Wie wollt ihr lernen, wenn eure Augen verschlossen sind?«
»Sind«, begann Kathrin und wurde rüde unterbrochen.
»Sie wohl, Mädchen«, vollendete er den ihren Satz. »Wenn du es schon nicht siehst, dann schau mit deinen anderen Sinnen. Versuche es zu spüren.«
An Jona gewandt, zog er schlicht die Stirn kraus und schaute hinüber zu Mira. »Du hörst ... nichts?«
Ertappt sah sie auf und blickte dem Druiden unbewusst in die Augen. »Wie?« Verunsichert schüttelte sie den Kopf und sah erneut zu Jonas Hand.
»Kinder.« Es war das erste Mal, das er sie als das ansprach, was sie von Rechtswegen her waren. Keine gestandenen Erwachsenen, die sich zu erwehren wussten. Keine Krieger irgendeiner Kaste und auch keine erprobten Druiden. So zumindest nicht bewusst.
Nacheinander legte er einem jeden väterlich seine Rechte auf den Kopf und wuschelte kurz deren Haare.
»Ihr drei. Allesamt tragt ihr den Funken in euch, den es bedarf, um zu bestehen. Was uns fehlt, ist Zeit. Seht nur.« Er wies hinauf zum Firmament.
Sie taten wie geheißen und erkannten, dass sich der Himmel seltsam verfärbte. Nirgends war das übliche Blau noch das trübende Grau der Wolken zu erkennen. Es schien, wie bläulich Lila verblichen. Schwarze Schlieren schlängelten sich einem Aal gleich hindurch.
»Es beginnt. Der Geknechtete nährt sich aus seiner Kammer.«
»Seiner was?«
Der Druide sah hinüber zu Mira, die sich wieder gefangen zu haben schien. »Ein Raum, in welchem seine Schergen die Entführten scharen. Ein Ort, an welchem sie ...«
»Bitte sprich es nicht aus.« Sie hielt sich die Hände an die Schläfen. »Ich kann sie hören«, begann sie zu wimmern und spürte die Nähe ihrer Freunde, die sie Trost spendend in die Arme nahmen.
»Hören? Mira, was kannst du hören«, verlange Jona zu erfahren und wechselte den Blick von seiner Freundin hinüber zu dem alten Mann, was auch immer dieser sein möge.
»Sie. Ich höre ... ich höre sie rufen und schreien. Er quält und foltert sie. Sie wollen, dass ich komme.« Ihre Stimme wurde stetig kleinlauter und endete mit einem Hauchen, den jedoch alle vernahmen.
Sie wollen, das jemand kommt und sie rettet. Aus den Fängen eines vor Urzeiten Gekerkerten befreit.
Seltsamerweise war es Kathrin, die sich aus der Gruppenumarmung löste, sie vor dem Druiden aufbaute und ihm fest in die Augen blickte. Ihr Gegenüber blieb unbeeindruckt, nickte jedoch. »Der Weg führt nicht durch den Brunnen, wie ihr angenommen habt.«
Er führte weiterhin aus, dass ihr Gegner alles andere als schwach sei. Geschwächt aber nicht unfähig Dinge zu vollbringen, die das Gefüge allen Bekannten auszuhebeln vermag. Diese Wesensart kämpfte unlauter. Vieles, was die Jugendlichen erleben würden, entspringe ihrer Vorstellungskraft abartigster Weisen und sei oftmals nicht real. Anderes wiederum erschiene irreal, bliebe es hingegen doch echt.
Es waren vor unzähligen Generationen die Christen gewesen, die die Gänge und Kammern aus dem Boden brachen, in welchem sie gemeinsam das Böse bannten und kerkerten. Man könne dieses Wesen nicht töten. Viele seien daran bereits nicht nur verzweifelt oder zerbrochen. Alle verloren dabei ihr leben und das ihrer Liebsten.
Das Wissen darum, dass der Gebannte seinem Gefängnis dereinst verlassen könne, verstaube seither in Mitschriften eines ebenso alten Buches; abgelegt in irgendeinem Regal hinter dicken Mauern.
Die ersten Bande lösten sich bereits an jenem Tage, als die Unwissenden kamen. Mit Baggern zerstörten und überschütteten sie ungeachtet des Ausmaßes viele Mahnmale. So auch das eine oder andere Gebinde irdischer Fesseln.
Schlussendlich blieb nur noch ein Blutopfer eines Trägers, um die geschwächten Glieder vollends zu sprengen. Ausgerechnet dieser würde ebenso jener sein, der es vollbringen könne, DEABRU erneut zu knechten. Untrüglich ein mächtiger Druide, der spürt, sieht und hört.
Eintausendeinhundert und ein Jahr zogen dahin, in welchen Es ausreichend Zeit genoss, die Weltenänderungen zu beobachten. Die Trauerweiden waren es, die ihm den Blick auf die Welt der lebenden erlaubten. Ebenso waren es auch sie, die eine Verbindung beider Umgebungen ermöglichte. Über sie gelangten die, die der Hörer vernehmen kann, in seine Kammern. Sie versorgten ihn mit Nahrung und dem Wissen, wann die Zeit nahte. Diese war nunmehr gekommen und der alte Druide fasste einen Entschluss.
Es war nicht das rechte Zeitalter für eine erneute Konfrontation ... noch nicht. Dennoch oder eben aus jenem Grunde, musste es sein.