Anna wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und suchte am Rechner der Schulbibliothek nach Büchern der Kunstgeschichte. Es war eine Woche seitdem ersten Schultag vergangen und noch immer war sie allein. Sie war überall nur die Neue und gelegentlich fragte sie sich schon, ob die Mitschüler überhaupt ihren Namen wirklich kannten. Allerhand Geschichten kannten sie über Anna, dass meiste erfunden, erlogen und erstunken. Der Rest ein Haufen Gerüchte nur mit einer Prise Wahrheit. Es war egal, ob sie in der Nähe saß oder nicht. Man strafte sie weitestgehend mit Nichtachtung und ignorierte, dass sie sich in Hörweite aufhielt, was das Heimweh nur noch schlimmer machte. Heimweh? Verdammt! Nun dachte sie schon wieder über Zuhause nach und selbst dort war sie nicht willkommen. Verbannt hatte man sie und doch war sie unschuldig gewesen. Sie schüttelte den Kopf. Nein, dass Buch war jetzt erstmal wichtiger, sie musste das nachlesen. Endlich fand sie den Eintrag und ging durch die Reihen bis sie vor einem großen Bücherregal mit der Kunstgeschichte stand. Natürlich war der dicke Wälzer ganz oben und der Bibliothekar war nicht da. Also bugsierte Anna einen Stuhl zum Regal kletterte drauf und versuchte an das Buch zu kommen. Doch es fehlten noch immer zwei Zentimeter, verdammtes Zwergen-Dasein! Der Ärger über die eigene Größe spornte sie etwas an und sie balancierte mit den großen Zehen in ihren Sneakers auf dem glatten Stuhl. Sie schaffte es tatsächlich, den Wälzer zu erreichen. Doch in dem Moment, als das fette Buch das Bücherregal verließ und nur noch in ihren Händen war, verlor Anna das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Au! Das hatte verdammt weh getan! In diesem Moment schritt ein Schatten an ihr vorbei und griff ebenfalls nach einem Buch aus dem höheren Regal, offenbar einhändig und ohne Mühe. Anna traute sich nicht die Person anzuschauen, weil sie so ein Tölpel war. Wahrscheinlich lachte die Person sie gerade aus und diesen Anblick wollte sich Anna zu ihrem schmerzenden Allerwertesten echt nicht antun. Doch diesen Gedanken musste sie schnell verwerfen, als eine sanfte Mädchenstimme mit keckem Tonfall zu ihr scherzend heruntersprach: „Wir wachsen mit unseren Herausforderungen, wirst schon sehen. Ich hoffe, dir ist bei deiner Zirkusnummer nichts passiert? Ich hätte dir den Wälzer auch gegeben, aber als ich deinen Trick sah, warst du schon mitten in der Nummer. Scheint dir wohl nichts passiert zu sein, aber willst du nicht mal langsam wieder aufstehen oder klebst du ja jetzt fest?“
Anna konnte sich ein Grinsen nicht verwehren, da redete sie ein wildfremdes Mädchen an und es flossen ihr die Worte aus dem Mund, wie aus einem Wasserfall. Nun schaute sie auch zu der Person und blickte in smaragdgrüne, funkelnde Augen, die ihre Augen sofort in einen Bann schlugen. Das dunkelhaarige Mädchen reichte ihr die Hand: „By the way ich bin Julianne, aber nenn mich ja Julie, sonst gibt’s Ärger.“, zwinkerte sie Anna aufhelfend zu. „Danke.“, nickte Anna grinsend ihr zu, „Ich bin Anna.“ „Die Neue, das habe ich mir schon gedacht.“ Bei „Die Neue“ zuckte Anna merklich zusammen. Wie lange würde es dauern, bis man sie nicht mehr so nennen würde? „Sorry, wollte dich jetzt nicht auf deinen Status reduzieren.“, sagte die junge Frau verlegen. Sie war wirklich eine Schönheit, stellte Anna fest. Lange schlanke Beine, eine perfekte Taille und ein Gesicht, als sei es von Da Vinci selbst gemalt worden. „Ich bin, wie du siehst ne ziemliche Giraffe.“, äußerte Julie lachend auf ihre Größe und Sommersprossen im Gesicht verweisend, "aber bleiben wir bei Julie." Anna konnte nicht anders, als prustend zu lachen. Nahm dieses Mädchen überhaupt was ernst? Sie war hübsch und was viel wichtiger war, eine Frohnatur, die Anna ohne Missbilligung zu sehen schien. Julie war Anna sofort sympathisch und das schien auf Gegenseitigkeit zu beruhen. „Als erstes Mal brauchst du einen Spitznamen Anna, Anna das klingt ja so förmlich.“, dabei zog Julie eine Fratze, die ihr komisches Talent noch weiter zur Schau stellte. „Ich nenne dich Ann!“ „Muss das sein?“, fragte Anna lachend. „Soll ich dich etwa Räuber Hosenplotz nennen?“, erwiderte Julie zwinkernd? „Ne dann lieber Ann.“, entgegnete Anna, die sich ihres von Tränen verschmierten Gesichts bewusst war. Julie schien aber so viel Taktgefühl zu haben, sie nicht darauf anzusprechen. In diesem Moment erblickte Julie die Uhr und erschrak: "Ach du heiliges Spagettimonster ich muss in den Unterricht, sonst lässt mich Meißner noch nachsitzen!", so eilte die schöne Giraffe aus der Bibliothek. „Man sieht sich Ann!“, rief sie aus der Bibliothek förmlich stürzend.
„Man sieht sich…“, murmelte Anna mit einem Lächeln auf den Lippen, wenigstens eine Person hier konnte sie wohl etwas leiden. Ein kleines bisschen Wärme war in ihre Augen getreten. Julie war wie eine Sonne, die Wärme, welche ihr anhing, tat Anna unendlich gut. Und sie hoffte sie bald wiederzusehen.