Kapitel 6
„Mummy?“ Als Ana die Stimme ihrer Tochter hörte, sprang sie von ihrem Sessel auf und setzte sich auf die Bettkante. Es war bereits morgens. Sie hatte die ganze Nacht über nicht schlafen können. Das lag nicht nur an Nalas Zustand. Nun sah ihre Tochter sie müde an. „Guten Morgen, Spätzchen“, sagte sie sanft. Ana strich ihrer Tochter einige Strähnen aus ihrem kleinen Gesicht. „Wo sind wir?“ Nala sah sich um und entdeckte den Monitor. „Was ist das für ein Fernseher?“ Ana lachte leise. „Das ist kein Fernseher, Süße. Und wir sind im Krankenhaus.“ Nala sah ihre Mutter an. „Warum?“ „Dich hat eine Wespe gestochen.“ Genau in diesem Moment ging die Tür auf und eine Krankenschwester kam rein. Sie war noch sehr jung. „Guten Morgen. Du bist ja wach“, sagte sie zu Nala. Dann wandte sie sich an Ana. „Wann ist sie aufgewacht?“ „Gerade eben erst.“ „Mummy?“ „Ja Liebling?“ Sie sah ihre Tochter an. Diese musterte sie. „Du siehst schrecklich aus.“ Die Schwester schlug die Hand vor ihr Mund, um ihr Lachen zu unterdrücken. Ana versuchte es erst gar nicht. „Danke Spätzchen für dieses Kompliment. Was willst du damit sagen?“ „Vielleicht solltest du dir etwas anderes anziehen.“ Das Lächeln verschwand aus ihrem Gesicht. „Dann müsste ich aber nachhause und ich will dich nicht alleine lassen.“ „Ich bin schon groß.“ Nala war gerade einmal vier! Ana sah die Schwester an. „Gehen Sie ruhig. Ich werde auf sie achtgeben, bis Sie wieder kommen.“ „Danke. Ich beeile mich.“ Ana gab Nala einen Kuss auf die Stirn und als sie die Tür öffnen wollte, ging sie auf. Teo stand vor ihr. „Gut, dass du da bist. Nala ist aufgewacht und ich muss schnell nachhause.“ „Alles klar. Hier, ich bin mit deinem Wagen gekommen.“ „Du hast dich freiwillig in mein Micra gesetzt?“, fragte sie überrascht. „Ja, ausnahmsweise. Jetzt geh schon.“ Ana nickte und lief hastig los.
Sie setzte sich in ihr Micra und fuhr los. Sie parkte vor dem Diner und ging sofort in ihre Wohnung. Sie duschte schnell, zog sich eine schwarze, enge Hose an. Darüber eine weiße Tank-Top Bluse und als Accessoire eine goldene, lange Kette. Sie föhnte ihre Haare und ließ sie offen. Ihre Schokobraunen Locken fielen ihr über die Schultern. Sie schminkte sich noch, um ihre Augenringe zu kaschieren und setzte ihre Sonnenbrille auf ihren Kopf. Ihre Wertsachen legte sie in ihre schwarze Handtasche, zog sich ihre schwarzen, klassischen Pumps, die vorne spitz zuliefen. Anschließend ging sie in Nalas Zimmer und holte frische Klamotten für sie. Nachdem sie auch dies erledigt hatte wollte sie noch schnell im Diner vorbeischauen. Also verließ sie ihre Wohnung und ging runter. „Ana!“ Ronny kam auf sie zu. „Wie geht es Nala?“, fragte sie besorgt. Sie hielt in der einen Hand ein Geschirrtuch. Ihre Haare waren zu einem Zopf gebunden. Es war nichts los im Diner. Kein Wunder auch, es war noch sehr früh. „Sie ist aufgewacht und hat mich nachhause geschickt, damit ich nicht mehr schrecklich aussehe.“ Nun lachte ihre Freundin. „Hört sich an, als wäre sie wieder gesund.“ „Ja ist sie“, bestätigte Ana erleichtert. „Ana!“ „Was macht denn Nick so früh hier?“, fragte sie Ronny. „Er wollte dir unbedingt etwas sagen.“ Nick stellte sich neben Ronny. „Ich lass euch mal reden.“ Ronny wedelte mit dem Geschirrtuch und ging wieder hinter die Theke. „Was gibt’s Nick?“ „Hey, ich weiß, dass bei dir viel los ist. Aber ich hatte da so eine Idee.“ „Du hast fünf Minuten. Komm wir gehen ins Büro.“ Nick folgte ihr. „Schieß los“, sagte Ana, nachdem sie sich hingesetzt hatten. „Okay, also im Moment läuft es ja gut im Diner.“ „Ja tut es.“ „Also, ich dachte mir, dass man das noch ankurbeln an.“ „Und wie? Wir liefern doch bereits.“ „Ja schon aber das Skyline hat keine Homepage.“ „Eine Homepage?“, wiederholte Ana. „Ja. Also eine Seite, wo man nach den Preisen, Öffnungszeiten und etc. schauen kann.“ Ana beugte sich nun interessiert vor. „Das hört sich alles gut an, aber reicht das Budget dafür?“ „Fünfzig Dollar und eine Woche Urlaub.“ „Was?“ „Ich kann dir eine erstellen. Du musst nur eine Liste machen, was ich alles reinstellen soll.“ „Du kannst so etwas?“, fragte Ana erstaunt. „Ja.“ „Also schön. Aber ich habe im Moment keine Zeit für sowas. Ich gebe dir die Erlaubnis, die Homepage so zu gestalten, wie du es für richtig hältst. Wenn du fertig bist, würde ich es aber gern sehen, bevor du es online stellst.“ Nick machte große Augen. „Du gibst mir so viel Verantwortung und vertraust mir?“ „Ja klar, war doch deine Idee. Also tob dich aus. Wichtig ist, keine falschen Infos. Die hundert Dollar bekommst du, sobald die Homepage online ist. Wann du die eine Woche Urlaub nehmen willst, entscheidest du.“ Sie stand auf und lief zur Tür. „Aber ich wollte doch nur fünfzig.“ „Ich weiß. Die restlichen fünfzig sind für deine Idee.“ Ana winkte und ging aus dem Büro. „Ciao Ronny.“ „Tschüss und gib Nala ein Kuss von mir“, rief sie ihrer Freundin nach. „Mach ich.“ Sie öffnete die Tür und ging zu ihrem Wagen. Sie legte ihre Handtasche und die Tüte mit Nalas Klamotten auf den Beifahrersitz, lief einmal um den Wagen, setzte sich hinters Steuer und fuhr los. Bis zum Krankenhaus dauerten es zehn Minuten, da kein Verkehr war. Sie fand auch direkt am Eingang vom Krankenhaus eine Parklücke. Sie schaltete den Motor aus, stieg aus, nahm ihre Handtasche und Tüte vom Beifahrersitz, schloss ihr Wagen ab und lief in das Gebäude. Sie grüßte die ältere Frau an der Rezeption. Bei den Aufzügen begegnete sie einer alten Dame im Rollstuhl und hinter ihr eine Krankenschwester. Diese stiegen aber früher aus. Als Ana im richtigen Stockwerk ankam lief sie direkt zu Nalas Zimmer. Vor der Tür sah sie Teo stehen. „Was ist los?“, fragte Ana alarmiert. „Keine Angst. Dr. Lewis ist gerade drinnen und da ich kein Familienangehöriger bin, sollte ich raus.“ „Oh, okay. Ich geh dann mal rein.“ Sie öffnete leise die Tür und hörte Nalas Stimme. Ana blieb hinter der Ecke stehen, sodass beide sie nicht sehen konnten. „Der Fernseher sieht komisch aus“, hörte sie Nala sagen. Dean lachte auf. „Das liegt daran, dass es kein Fernseher ist“, erklärte er. „Was denn dann?“ „Hm, also, siehst du die Striche?“ Nala nickte. „Also, dass ist dein Herzschlag.“ „Oh wow! Woher weiß es das?“, fragte Nala begeistert. Dean tippte ihr auf die Brust. „Die hier messen dein Herzschlag. Aber die brauchst du jetzt nicht mehr, deshalb machen wir sie ab.“ „In Ordnung.“ Dean schaltete den Monitor aus. „Warum bin ich eigentlich so krank geworden? Eine Biene hat auch mal Sammy gestochen und er musste nicht ins Krankenhaus.“ Ana sah kurz um die Ecke. Dean saß auf der Bettkante und verdeckte die Sicht auf Nala. „Weil, dein Körper die Biene überhaupt nicht mochte.“ Nala überlegte kurz. „Muss ich wieder ins Krankenhaus, wenn mich nochmal eine Biene beißt?“ Dean lächelte. „Also, falls dich noch einmal eine Wespe stechen sollte, musst du wieder hier herkommen. Deswegen ärgerst du am Besten die Wespen nicht.“ „Ich habe die Biene nicht geärgert! Sie hat mich geärgert!“ Nala schob die Unterlippe vor. „Da bin ich mir sicher.“ „Dean?“ Wann war denn Nala zu Dean übergegangen? Sie sprach Fremde nie mit dem Vornamen an. „Ja?“ „Heißt das, ich sehe dich nur, wenn ich krank bin?“ „Ich schätze schon.“ „Das ist blöd. Ich mag dich.“ Etwas zerbrach in Ana. Ihre Tochter mochte ihren Vater auf anhieb und das, obwohl sie nicht einmal wusste, dass er ihr Vater war. „Ich mag dich auch. Du bist meine Lieblingspatientin.“ Tränen stiegen Ana in die Augen. „Ich habe doch die ganze Zeit geschlafen.“ „Ja, aber du bist die tapferste von allen. Du hast dir sogar eine Spritze geben lassen, obwohl deine Mummy nicht da war.“ Okay, das überraschte Ana sehr. Noch nie hatte Nala sich freiwillig impfen lassen. „Du findest, dass ich tapfer bin?“ „Oh ja. Sehr sogar“, sagte Dean mit ernster Stimme. Daraufhin kicherte Nala. „Meine Mummy ist auch sehr tapfer, weißt du?“ „Das kann ich mir vorstellen. Du kommst also ganz nach ihr.“ „Ich denke schon. Ich kenne meinen Daddy nicht, deswegen weiß ich nicht, wie er ist.“ Oh, oh. Gefährliches Thema. Ana blinzelte ein paar Mal und tat ein paar Schritte auf der Stelle und trat dann um die Ecke. „Mummy!“, rief Nala, als sie ihre Mutter sah. „Guck mal, ich habe eine Spritze bekommen und habe nicht geweint!“, sagte sie ganz stolz und zeigte auf das Pflaster an ihrem Oberarm. „Wow. Jetzt bin ich aber baff.“ Sie drückte Nala einen Kuss auf die Stirn. Ana sah Dean an. Dieser starrte sie an. Er war aufgestanden. Wie gestern trug er einen weißen Kittel. Darunter dunkle Jeans und ein hellblaues T-Shirt. „Wie geht es ihr?“, fragte sie und legte ihre Handtasche und die Tüte auf den Tisch. Dean räusperte sich. „Ihr geht es sehr gut. Sie darf heute nachhause. Aber sie sollte sich noch ein Tag ausruhen, bevor sie in den Kindergarten geht.“ Dean nahm sein Klemmbrett und trug etwas ein. „In Ordnung.“ „In einer Woche soll sie wieder zur Nachuntersuchung kommen. Aber dann in meine Praxis.“ Er reichte ihr ein Zettel mit Datum, Uhrzeit und der Adresse. Außerdem noch ein Rezept für eine Creme. „Danke.“ „Gute Besserung.“ Dean lächelte Nala zu und ging dann aus dem Zimmer. Ana schloss die Augen und holte tief Luft. „So Süße, jetzt ziehen wir dich erst einmal um.“ Sie nahm die Klamotten aus der Tüte und half Nala beim Umziehen. „Mummy, Dr. Dean ist sehr lieb.“ „Er heißt aber Dr. Lewis“, sagte Ana, während sie ihrer Tochter das Kleid überzog. „Ich weiß, aber er hat gesagt, ich darf ihn Dean nennen.“ „Wenn dir das lieber ist, ist es in Ordnung.“ Sie zog den Reißverschluss hoch und band hinten eine Schleife. Sie kämmte noch Nalas braune Locken und band sie zu einem hohen Zopf. Anschließend half sie ihr vom Bett runter. Ana legte den Terminzettel und das Rezept in ihre Handtasche. „So, dann gehen wir jetzt nachhause.“ Ana nahm Nalas Hand in ihre und verließ mit ihr zusammen das Zimmer. Auf halbem Weg kam Teo ihnen entgegen. „Ich hab alles erledigt. Wir können gehen.“ „Danke Teo.“ Ana lächelte ihm dankbar zu. Nala schob ihre kleine Hand in Teos. Unten an der Rezeption sah sie Dean. Er sprach mit einer Krankenschwester. Als er sie bemerkte, hielt er mit dem Sprechen inne und sah sich die Szene an, die sich ihm bot. Von außen sahen sie aus wie eine Familie, nur war die Vaterrolle an den Falschen vergeben. Wäre damals alles anders gekommen, würde jetzt Dean neben Nala laufen. Ana wandte schnell den Blick ab. Sie verließen das Krankenhaus und gingen zu ihrem Wagen. Ana half ihrer Tochter in den Kindersitz und setzte sich selbst auf den Beifahrersitz. Im Moment hatte sie keinen Kopf, um selber zu fahren. An ihrer Stelle setzte sich Teo hinters Steuer und startete den Motor. Er sah immer wieder Ana an und sie wusste, dass er Antworten verlangen würde. Das bereitete ihr Sorgen. Sie hatte keine Lust, an ihre Vergangenheit zu denken. An die Erinnerungen. An die gemeinsame Zeit. An den schlimmsten Tag ihres Lebens. Aber jetzt würde es kein Entkommen mehr geben. Zumindest musste sie Teo alles erzählen. Das war sie ihm schuldig, nach allem, was er für sie und Nala getan hatte. Die ganze Fahrt über schwieg sie und legte die Worte zurecht.