Kapitel 9
Ich stellte gerade meine Weihnachtsplaylist auf meinem Handy zusammen, sodass ich mich wenigstens ein klitzekleinesbisschen auf Weihnachten freuen konnte, denn meine Eltern würden nicht da sein. Mein Vater hatte sich immer noch nicht von seiner Grippe erholt, deshalb würde ich den morgigen Heiligabend alleine verbringen. Ich ließ meine Playlist über die Lautsprecherboxen laufen, und fing an den noch kahll wirkenden Baum im Wohnzimmer zu schmücken.
Ich summte bei I don't want a lot for Christmas / There is just one thing I need mit, während ich die Lichterkette spiralförmig von oben nach unten um den Tannenbaum legte. Danach folgten die bunt schimmernden Kugeln, die ich an den äußeren Ästen befestigte. Ich machte eine kurze Pause, um eine Zimtkerze aus meinem Zimmer zu holen, die ich dann anzündete und auf den Beistelltisch stellte.
Es dauerte ein wenig, bis der Zimtgeruch sich ausgebreitet hatte, doch schon bald duftete es herrlich im Wohnzimmer. Der frische Schneefall brachte mich dann endgültig dazu, mich in Weihnachtsstimmung zu versetzen.
Den Kugeln folgte das Lametta, welches ich sorgfältig um den Baum herum verteilte. Dann hängte ich nur noch ein paar einzelne Engelsfigürchen auf, und schon war mein Werk vollbracht. Ich trat ein paar Schritte zurück um den geschmückten Baum zu betrachten. Hm. Gar nicht schlecht, dafür, dass es das erste Jahr war, indem ich ihn alleine geschmückt hatte. Nur den Stern konnte ich nicht auf die Spitze des Baumes setzen, denn das hatte mein Dad immer erledigt, da ich zu klein war.
Die Musik wurde kurz unterbrochen, und ich bekam eine Nachricht auf meinem Handy. Ich hechtete zu meinem auf dem Sofa liegende Handy, wie jedes Mal, wenn die Möglichkeit bestand, dass Evan mir geschrieben hatte. Was glücklicherweise wirklich oft war. Seitdem wir uns geküsst hatten, war ich jeden Tag, jede Stunde, jede Minute und Sekunde fröhlich. Selbst die Tatsache, dass ich die Weihnachtsfeiertage ohne meine Familie verbringen würde, konnte meine Stimmung nicht wirklich trüben.
Ich musste mich stark davon abhalten, laut zu quietschen, als ich mit einem Blick auf das Display feststellte, dass tatsächlich Evan mir geschrieben hatte.
Schöner Weihnachtsbaum.
Oh mein Gott. Ich schaute durch jedes Fenster, und als ich ihn entdeckt hatte, gestikulierte ich ihm, dass er zur Haustüre gehen sollte. Ich schickte ein stummes Gebet in den Himmel, dass er nicht gesehen hatte, wie ich zu meinem Handy gesprintet war. Als ich die Tür aufriss, klebte ihm sein übliches schiefes Grinsen im Gesicht. Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und schlang meine Arme um seinen Hals, damit ich ihm näher sein konnte. Er strich mit seinen Lippen leicht über meine, was sich anfühlte, als würden hunderte von großen Tauben in meinem Magen wild herumfliegen.
Ich nahm seinen Geruch nach frischem Wintermorgen wahr; lief Gefahr mich wieder einmal in ihm zu verlieren. Da ich nicht warm angezogen war, zog ich ihn, während wir uns küssten, rückwärts ins Haus. Was kein leichtes Unterfangen war; ich stieß mit meiner Wade gegen einen Tisch im Flur, von dem prompt eine Lampe auf den Boden fiel und dort in Kleinteile zersprang. Obwohl ich mich eigentlich um die Lampe hätte kümmern müssen, wollte und konnte ich nicht von Evan ablassen.
Irgendwie schafften wir es, ohne noch einen weiteren Schaden anzurichten, zu der Couch zu gelangen. Es war das erste Mal, dass wir uns getroffen hatten seit unserer Nachtwanderung und ich war die letzten zwei Wochen beinahe vergangen vor Sehnsucht nach ihm. Evan ließ von meinem Mund ab und verteilte süße Küsse auf meinem Hals, von denen ich gar nicht mehr genug bekam. Ich vergaß vollkommen, wie man vernünftig atmete. Irgendwann war ich gezwungen, mich von ihm zu lösen, da ich keine Luft mehr bekam.
Ich spürte, wie sich auf meinen Wangen rote Flecken bildeten vor Aufregung. Evan stütze sich neben mir mit dem Kopf auf die Hand gelehnt ab, und betrachtete mich still mit einem kleinen Lächeln, das seine Mundwinkel verzierte. Ich wandte mein Gesicht zu ihm, und ich hatte das dringende Bedürfnis, ein Foto von seinem Gesicht zu machen, es 100 Mal auszudrucken, und mein ganzes Zimmer damit zu plakatieren, damit ich den ganzen Tag seinen geschwungenen Mund und seine rehbraunen Augen betrachten kann.
Wie kann es überhaupt legal sein, so gut auszusehen? Evan brach plötzlich in schallendes Gelächter aus, das seinen Oberkörper durchschüttelte. Oh mein Gott. >>H-habe ich das gerade...<< stammelte ich.
>>...laut gesagt? Ja hast du<<, prustete er, und blickte mich vielsagend an. Ich vergrub mein Gesicht in den Händen. Boden, bitte tu dich auf und verschlinge mich ins Nichts, dachte ich.
>>Was denkst du gerade?<<, fragte er mich, worauf ich prompt noch einen dunkleren Rotton annahm, wenn das überhaupt noch möglich war. Süffisant grinsend zog er eine Augenbraue hoch, woraufhin ich fast geschmolzen wäre. Ich fädelte ein wenig an meinem Shirt rum, bevor ich ihm antwortete.
>>An nichts besonderes.<< Er schnaubte, und schüttelte den Kopf. Er glaubte mir nicht. >>Du hast gerade eine Regel gebrochen<<, meinte er schlicht und schien nicht darauf aus zu sein, mir eine weitere Erklärung zu liefern. Ich runzelte die Stirn und zuckte die Schultern. >>Was soll das für eine Regel gewesen sein?<<
>>Nun ja, es ist zwar nicht offiziell, aber in der Regel sagen wir uns immer ehrlich was wir denken.<<
>>Na dann, was denkst du gerade?<<, frage ich und schenkte ihm ein spitzbübisches Lächeln. Jetzt hatte ich ihn am Haken.
>>Daran, ob es legal ist, so...<<, weiter kam er nicht, denn ich schlug ihn gegen die Schulter.
>>Haha, sehr witzig.<<
>>Sehe ich tatsächlich so gut aus, dass du dich ernsthaft fragst...<< Dafür erntete Evan erneut einen Schlag gegen die Schulter.
>>Hör einfach auf du Idiot<<, stöhnte ich, musste aber doch lachen, als ich seinen empörten Blick sah. >>Tu nicht so, als ob du das nicht wüsstest<<
>>Dass ich was nicht wüsste?<< Ich verdrehte die Augen und atmete einmal laut aus.
>>Du weißt schon...<< Ich wollte ihm nicht die Genugtuung geben; die Situation war schon zum In-den-Boden-versinken genug. Evan grinste mich wieder an, und malte mit seinem Zeigefinger Kreise auf eine nackte Stelle, wo mein Cashmere-Pullover verrutscht war. Die Berührung war nur ganz leicht, dennoch bekam ich augenblicklich an meinem ganzen Körper eine Gänsehaut.
>>Ich habe echt keine Ahnung wovon du sprichst<<, hauchte er, und kam mir mit den Gesicht wieder näher. Was mir nur Recht kam, denn so konnte ich die Gelegenheit nutzen, dem Gespräch aus dem Weg zu gehen.
Ich zog ihn den letzten Rest zu mir und küsste ihn, damit er ja nicht auf die Idee kam, eine Antwort von mir zu verlangen.
Mein Gehirn schaltete sich komplett aus, als er sich auf mich hievte, sodass nicht einmal Luft zwischen unsere Körper passte. Unsere Lippen bewegten sich im völligen Einklang miteinander, während seine Hand nun die Linien meines Schlüsselbeines nachzeichnete.
Auf einmal sah ich rot, als seine Hand näher an die Stelle meiner schlecht verheilten Narbe wanderte. Ich hörte abrupt auf, ihn zu küssen, und versteifte mich komplett. Er durfte sie bloß nicht sehen, er würde sofort Schluss mit mir machen. Wenn das was wir hatten, überhaupt eine Beziehung war, wir hatten ja noch nicht einmal unseren Standpunkt besprochen! Vor Panik brach mir der kalte Schweiß aus.
Er blickte mich fragend an. >>Habe ich was falsch gemacht?<<, fragte er, und ich fühlte mich fast unmittelbar schuldig. Aber ich konnte es ihm einfach nicht sagen, so gern ich es auch gewollt hätte. Mein Herz schnürte sich eng zusammen, wenn ich darüber nachdachte, dass er mich auch abblitzen lassen würde.
Ich täuschte einen Krampf in der Wade vor, und verzog vor Schmerz das Gesicht.
>>Ich hab nur einen Krampf<<, presste ich hervor, und richtete mich auf. Evan stand sofort auf, setzte sich vor das Sofa und fing an, meine Wade sanft zu massieren. Mir kamen wegen des schlechten Gewissens und vor Verzweiflung die Tränen, und ich bemühte mich, sie vor ihm zu verbergen. Er massierte noch eine Weile in kreisenden Bewegungen weiter, dann blickte er zu mir auf und fragte mich:
>>Ist es besser geworden?<< Dankbar lächelte ich ihn an und nickte, tätschelte dabei seine Hand.
Wir lagen noch eine Weile in gefühlten 20 Decken gehüllt auf dem Sofa, ich in seinen Armen. Es gab keinen weiteren Zwischenfall, worüber ich heilfroh war. Ich konnte es mir wirklich nicht leisten, noch einen Wadenkrampf vorzutäuschen. Ich war sogar erstaunt darüber, dass er mir meine Lüge abgekauft hatte, da ich ja eigentlich eine grottenschlechte Lügnerin war. Was mich wirklich störte war, dass ich mich die ganze Zeit nicht mehr entspannen konnte, und ich war mir ziemlich sicher, dass er das auch gemerkt hatte. Ich musste immer wieder daran denken, dass es meine Schuld war, und dass ich mir einredete, dass er mich auch verlassen würde. Meine panische Angst hatte ich jedoch nur Finn zu zuschreiben. Vor unterdrückter Wut ballte ich meine Hand zur Faust. Ich konnte es nicht fassen, dass er immer noch so viel Kontrolle über mich hatte, dass ich ein ganzes Jahr nach seinem Weggang immer noch niemanden vollends an mich ran lassen konnte. Wie um mir selbst und Finn zu beweisen, dass er mich nicht mehr kontrollieren konnte, zwang ich mich, zu entspannen und kuschelte mich noch näher an Evan ran.