Kapitel 16
Es war der erste Schultag nach den Winterferien. Am Frühstückstisch waren meine Eltern einmal ausnahmsweise anwesend, was man ihnen aufgrund ihrer hohen Einsatzzahl hoch anrechnen musste. Ich hatte mit ihnen immer noch nicht über Evan geredet, also schätzte ich, wurde es langsam höchste Zeit. Ich war mir nämlich sicher, dass er und ich nicht mehr zusammenkommen würden, denn er hat sich seit unserem Telefonat nicht mehr bei mir gemeldet. Leider musste ich zugeben, dass ein klitzekleiner Teil in mir drin sich erhofft hatte, dass er sich doch noch melden würde. Auch wenn ich mir das eigentlich gar nicht erlauben konnte, denn ich war ja selbst Schuld daran, dass es vorbei war.
Wir aßen gerade, Tommy schlief noch. Ich würde später mit ihm spazieren gehen müssen, und ich freute mich auch schon darauf. Ein bisschen Bewegung würde mir gut tun. Auch überlegte ich mir, nach der Schule in die Bücherei zu gehen. Die Chancen standen zwar hoch, dass ich dort auf Evan treffen würde, doch ich war schon ewig nicht mehr in der Bibliothek. Und selbst wenn er doch dort war, konnte ich mich ja immer noch umentscheiden und gehen. Das konnte ich bekanntlich sowieso gut.
Nun überlegte ich mir eine Taktik, wie ich meinen Eltern schonend beibringen konnte, dass das ganze Drama mit Evan umsonst war. Ich entschied mich also dafür, die Sache ganz locker und nebenbei zu erwähnen.
>>Übrigens<<, sagte ich, kaute und schluckte die Cornflakes runter. Mein Dad schaute mit seiner Brille tief auf der Nase sitzend von seiner Zeitung auf. Ich widmete meinen Blick schnell wieder meinem Essen, da ich ihnen dabei nicht in die Augen schauen wollte. Es war mir echt unangenehm, mit meinen Eltern darüber zu reden, obwohl ich wusste, dass es kindisch war. >>Ich bin nicht mehr mit Evan zusammen, ich habe Schluss gemacht.<< Die Augenbrauen meines Vaters schossen in die Höhe, während meine Mutter für einen Moment aufhörte, zu essen.
>>Aber nicht wegen uns oder?<<, fragte mein Dad, und ich schüttelte vehement meinen Kopf.
>>Hast du Redebedarf?<<, wollte meine Mutter wissen, und ich meinte, aus ihrer Stimme Besorgnis zu hören.
>>Nein, alles gut<<, sagte ich, und meinte es diesmal wirklich so. Ich hatte mich wirklich damit abgefunden. Ich brauchte Evan nicht zum Leben, genauso wenig wie er mich anscheinend brauchte.
Während sich der Schultag wie Kaugummi zog, wanderten meine Gedanken abermals zu Evan. Ich versuchte, mich so gut es ging am sozialen Leben zu beteiligen, doch ich konnte nicht aufhören, mich zu fragen, wie es ihm wohl ging. Das sollte mich eigentlich gar nicht interessieren, aber ich wollte nur wissen, wie es in seinem Leben gerade so lief. Um mich ein bisschen zu erkundigen, ging ich in der Pause mit Celeste in die Mädchentoilette, da das der einzige Ort war, an dem man sein Handy benutzen konnte, ohne erwischt zu werden und es abgenommen zu bekommen.
>>Jetzt sag mir doch, was hast du vor?<<, quengelte sie. Ich gab mein Vorhaben nur ungern zu, doch ich erzählte es ihr trotzdem. Entgegen meiner Erwartungen erlaubte sie es mir ohne zu zögern. Verdutzt runzelte ich die Stirn, während ich ihn auf Instagram suchte.
>>Ich hätte gedacht du würdest mir mein Handy wegnehmen wenn du wüsstest was ich vorhabe<<, sagte ich, und gab Evans Namen in die Suchleiste ein. Sein Profil war gleich das erste, das erschien, was mir die Sache ungemein vereinfachte.
>>Ich finde es eher gesund, nach einer Beziehung noch einige Zeit zu stalken. Nur solange man eben noch nicht über diese Person hinweg ist<<, sagte sie schulterzuckend; ich stutzte und schaute auf.
>>Du meinst also nicht, dass ich über ihn hinweg bin?<<, fragte ich, die Augenbrauen hochgezogen. Das konnte ja nicht sein. Nur weil man nach der Person schauen wollte, hieß es ja nicht, dass man nicht über sie hinweg war. Auch wenn man nicht mehr zusammen war, sorgte man sich ja trotzdem noch in gewisser Weise um den Ex-Partner. Celeste schüttelte nur vehement den Kopf.
>>Sonst würdest du ihn ja nicht stalken wollen.<< Ein paar Mädchen aus der Unterstufe guckten uns schräg von der Seite an und ich bedeutete Celeste mit einer Geste, etwas leiser zu reden. Ich fuhr mit gedämpfter Stimme fort:
>>Ich stalke ihn doch nicht.<<
>>Wenn du über ihn hinwegwärst, wäre es dir egal, was er macht oder wie es ihm geht.<< Irgendwie hatte sie ja schon Recht, nur war es schwer, mir das einzugestehen.
>>Ist es mir auch<<, beharrte ich darauf, während ich mir kaum selber glauben konnte.
>>Okay.<< Sie nickte, und schien kurz zu überlegen. Nach ihrer Nachdenkpause breitete sich ein herausforderndes Grinsen auf ihrem Gesicht aus. >>Dann mach dein Handy jetzt aus und stecke es weg.<< Ich verschränkte die Arme. >>Ich könnte doch genauso gut nachher nach ihm schauen, wenn du nicht mehr da bist.<<
>>Könntest du, ja. Aber dann wärst du nicht über ihn hinweg. Außerdem vertraue ich dir.<< Sie streckte mir ihren kleinen Finger hin, zum Zeichen des pinky swears. Diese Geste erinnerte mich schmerzhaft an Evan, doch ich willigte trotzdem ein. >>Okay, ich verspreche dir, dass ich ihn nicht auf meinem Handy stalken werde.<< Sie gab sich zufrieden, und ich packte mein Handy weg, ohne auch nur einen weiteren Blick darauf zu werfen.
Von nicht so zufälligen Besuchen in der Bibliothek war jedoch nie die Rede. Nach der Schule fuhr ich direkt mit meinem Fahrrad hin, mit der klaren Intention, ihn vielleicht doch zu sehen. Ich wusste, dass ich gerade ein wenig am Rad drehte, und die Trennung nicht angemessen verarbeitete, aber mir fehlte ein Lebenszeichen von ihm. Ich wollte wissen, dass es ihn gab, und dass er nicht nur in meiner Erinnerung existierte. Das schlechte Gewissen nagte ein wenig an mir, denn indirekt hatte ich den Pinky swear mit Celeste gebrochen, auch, wenn ich mich mit Absicht etwas geschickter ausgedrückt hatte.
Nachdem ich mein Fahrrad abgestellt hatte, trat ich ein. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die Atmosphäre der Bibliothek vermisst hatte, diese Ruhe, die sie von innen ausstrahlte. Sie war wie ein sicherer Hafen, der einem Schutz gab. Drinnen war es wie ausgestorben, und mein Blick wanderte suchend nach dem Mann mit den braunen Hundeaugen. Fehlanzeige.
Ganz bewusst ging ich auf die Tischreihe zu, bei der wir das letzte Mal gesessen hatten. Es schien mir eine Ewigkeit her, dass wir da saßen und uns gegenseitig Fragen gestellt hatten, dabei war es nur etwas mehr als einen Monat her.
Ich stellte meinen Rucksack auf dem Boden ab und holte meine Schulsachen raus, die ich zu erledigen hatte. Nur halb konzentrierte ich mich auf meine Hausaufgaben, war dabei immer auf der Hut, falls ich ihn irgendwo entdeckte oder er an mir vorbeilief. Da, da ist er, dachte ich hektisch, als ich einen Mann sah, der Evan von der Statur glich. Er stand mit dem Rücken zu mir am Kaffeeautomaten und wartete. Mein Herz raste vor Aufregung. Ich war kurz davor, aufzustehen, hinzugehen und ihn anzusprechen, da drehte er sich plötzlich mit einem Kaffeebecher in der Hand um und die ganze Spannung fiel von mir. Er war es nicht.
Ich blies noch eine Weile Trübsal, dann versuchte ich mich ernsthaft auf meine Hausaufgaben zu konzentrieren. Überraschend schnell hatte ich sie erledigt, dann wusste ich nicht, was ich tun sollte.
Schließlich entschloss ich mich dafür, eine Weile in den Gängen herumzuwandern und nach Büchern Ausschau zu halten, die ich ausleihen konnte, und danach zu gehen. Die letzten paar Tage der Ferien hatte ich meinen Stapel ungelesener Bücher nämlich maßgeblich reduziert, also konnte ich mich mit gutem Gewissen auf neue Bücher einlassen.
Für meinen Geschmack war die Einrichtung der Bibliothek zu modern, mir hätte sie noch besser gefallen, wenn sie etwas rustikaler wäre. Generell war ich ein Liebhaber für altmodische Bibliotheken, ich hatte sogar einen Ordner auf Pinterest erstellt, voll mit Bildern von allem, was mit alten Büchern zu tun hatte. Wenn ich später in mein eigenes Haus ziehen würde, wollte ich es auf jeden Fall auch etwas rustikaler einrichten.
Ich schaute mir einige Bücher an, und hievte die, die mir am besten gefielen, auf meine Arme. Durch das Kellnern hatte ich relativ starke Unterarme, weshalb mir das Tragen von Büchern ein leichtes war. Da es nun ein wenig voller wurde, entschied ich mich zu gehen. Ein paar Mütter mit ihren kleinen Kindern standen in der Kinderbuchabteilung und die Kinder quengelten lautstark. Es kamen auch noch einige Leute aus meiner Schule, die wahrscheinlich erst jetzt aus hatten. Ich trug die Bücher zur Ausleihe, zog sie dort über den Scanner und lief dann in Richtung Ausgang.
Wäre ich noch etwas mehr in den Gängen herumgewandert, wäre ich auf Evan gestoßen, der es sich bei der Abteilung für die historischen Sachbücher auf einem Sitzsack bequem gemacht hatte und in einem Buch vertieft war.