An der Essenausgabe herrschte das übliche Gedränge, die Gefangenen schubsten und stießen und zerrten, aber das alles geschah lautlos, da ihre Besitzer jede Form von Lärm hart bestraften.
Hinter einer Gitterwand, die nur eine größere, senkrechte Lücke für die Teller aufwies, stand ein kräftig gebauter Mann mit schütterem, braunem Haar und warmen, von Falten umstrahlten Augen. Ein trauriger Ausdruck lag darin, als er zuerst die Neuankömmlinge bediente, ein Mädchen und einen Jungen, beide vielleicht sieben und mit identischen, blonden Haaren und blauen Augen, die sich seit ihrer Ankunft in der Nacht schweigend aneinander klammerten.
Der geräumige Kerker bot im Moment vierzehn Personen Platz, obwohl Jacky ihn schon ein wenig voller erlebt hatte. Als sie selbst hier vor vielen Wochen angekommen war – sie hatte versäumt, die Tage zu zählen – waren bereits elf Leute hier gewesen, die alle älter als sie gewesen waren. Zusammen mit ihr und Louise waren noch drei andere Kinder aus dem Dorf verschleppt worden, sodass sich sechzehn Leute in dem Kerker aufgehalten hatten, doch es war trotzdem genug Platz gewesen.
Die drei älteren aus dem Dorf, Avaenne, Robacka und Tiffy, waren inzwischen fort. Jacky vermisste sie, denn besonders die hübsche Avaenne hatte versucht, sie und Louise zu trösten. Aber ihre Besitzer hatten die drei und auch einen der älteren Gefangenen mitgenommen. Immer nur einen pro Tag, trotzdem hatte Jacky gelernt, dass immer jemand verschwand, wenn der große, weißhaarige Mann hier unten auftauchte.
Der hagere, große Werwolf hieß Ereshin und hatte in seiner menschlichen Form schneeweißes Haar und stahlblaue Augen. Doch meistens kam nur Roiden vorbei, Ereshins dunkelhaariger, schlaksiger Sohn. Er räumte die Eimer leer, in die sie sich erleichtern mussten, und untersuchte sie alle regelmäßig auf Zecken, Flöhe und Krankheiten.
Die Schlange vor der Essensausgabe wurde kürzer. Jacky nahm einen Teller für sich und einen für Louise entgegen und schlich damit in eine Ecke des großen Raumes aus einzelnen, groben Steinen. Es gab keine Fenster, nur die Gitterwand, hinter der ein weiterer, düsterer Raum lag, und eine schwere Tür aus altem Holz.
Während Jacky Louises Essen in kleine, mundgerechte Stücke schnitt, kam eines der Mädchen zu ihnen, eher eine junge Frau mit hageren, eingefallenen Wangen und langen, verfilzten, schwarzen Haaren. Sie stellte Jacky und Louise wortlos ihren Teller hin, auf dem sie die Speisen kaum angerührt hatte, und ging davon.
Inzwischen hatte Jacky gelernt, diese rätselhaften Geschenke einfach hinzunehmen. Das Mädchen gehört zusammen mit drei anderen zu den allerältesten. Sie sprachen überhaupt nicht mit den anderen Gefangenen, während die etwas weniger älteren ihnen geduldig die Regeln erklärt hatten: Keine Ausbruchsversuche, einmal am Tag essen, kein Lärm.
Trotzdem waren die vier Ältesten sehr großzügig, denn sie gaben fast alles von ihrem Essen an die anderen ab, ehe sie sich wieder zu einer kleinen Gruppe zusammenschlossen, die sich schweigend in einer Ecke hielt.
Jacky zerteilte auch das Essen auf dem neuen Teller in kleine Stücke. Es gab gebratenes Fleisch und eine Paste aus Kartoffeln und Pilzen. Jacky reichte ihre Portion Fleisch an Louise, die noch zu klein war, um zu verstehen, dass sie damit ein Tier aß. Jacky nahm sich dafür den Pilzbrei, der Louise nicht schmeckte.
Die Zeit verging, der große Kerker wurde nur vom Fackellicht erhellt.
„Aufstehen, Aufstellen!“, ertönte Roidens Stimme, begleitet von dem Lärm der Metallstange, die er gegen die Wände schlug, ehe er die Tür aufstieß.
Die Gefangenen stolperten übereinander in ihrer Eile, sich an der langen Wand aufzureihen. Jacky und Louise landeten direkt im Schatten der sich öffnenden Tür, doch eine Flucht stand außer Frage. Roiden betrat den Raum mit wachsamen Blick, gefolgt von seinem Vater.
Das bedeutete nichts Gutes. Man könnte hören, wie die Gefangenen die Luft anhielten.
Die Tür fiel ins Schloss und Roiden marschierte unter dem wachsamen Blick seines Vaters die Reihen ab. Vor einem der Ältesten blieb er stehen. „Du!“
„Nein, bitte!“ Der große Junge fiel auf die Knie und begann zu heulen. „Die anderen sind doch viel fetter, nimm die!“
Roiden packte den jungen Mann, der den Werwolf um einen Kopf überragte, im Nacken und zerrte ihn mit sich. Der Mann schlug kreischend um sich. „Neeeiiiin! Nein! Lasst mich! Nehmt jemand anderes! Nehmt die da!“
Plötzlich schlossen sich seine kräftigen Hände um Louises Arm. Jackys Schwester schrie auf.
Jacky zögerte nicht eine Sekunde, sie sprang vor und schlug auf den starken Arm ein und biss ihm dann in die Finger. Der Mann ließ Louise überrascht los und Jacky stieß ihn heftig aus dem Raum, in die Arme von Roiden.
Sie stolperte von der offenen Tür zurück, als im nächsten Moment auch schon eine Hand ihre Schulter packte und sie unsanft zurück in den Kerker warf. Nach einem strengen Blick auf sie folgte Ereshin seinem Sohn durch die Tür. Jacky hörte, wie der schwere Riegel vorgeschoben wurde.
Sie lief zu Louise und schloss ihre Schwester in die Arme. Louise weinte nicht, sondern klammerte sich nur zitternd an sie.
Zwei Tage später kam Roiden wieder, diesmal nicht in Begleitung von Ereshin und bevor das Essen ausgegeben wurde. Er erledigte die üblichen Aufgaben und kam dann plötzlich zu Jacky, die gemeinsam mit Louise in einer Ecke kauerte und auf den Boden sah.
„Du hast mir geholfen“, eröffnete er das Gespräch. „Als der Mann nicht mitkommen wollte.“
Jacky sah ihn mit geweiteten Augen an. „Was hast du mit ihm gemacht?“, fragte sie.
Roiden kniete sich vor sie. „Er war schlimm krank, weil er seine Medizin nicht gegessen hat.“
Jacky verzog das Gesicht. „Ich will Medizin auch nicht essen, die schmeckt ekelig.“
Roiden riss die Augen auf. „Unsere Medizin schmeckt dir nicht? Das, was ihr jeden Tag bekommt?“
Jacky sah ihn verwundert an. „Das ist Medizin?“
Roiden nickte ernst.
„Sie schmeckt nicht wie Medizin.“
Ein Lächeln kroch über das Gesicht des Jungen. Ein weiches Gesicht mit Grübchen in den Wangen. „Dann magst du sie?“
Jacky beugte sich vor und flüsterte: „Wir essen eigentlich kein Fleisch. Ich gebe es immer Louise.“
„Aber auch das Fleisch ist Medizin. Du musst viel essen, sonst wirst du krank.“ Roiden sah auf die schlafende Louise, auf deren Arm sich rot und blau die Fingerabdrücke von dem Mann abzeichneten, der sie dort gegriffen hatte. „Ist sie deine Schwester?“
Jacky nickte.
„Ich heiße Roiden. Wie heißt du?“
„Jacky.“
„Jacky, ich brauche deine Hilfe. Ich habe Angst, dass noch Andere ihre Medizin nicht essen, und dann werden sie ganz schlimm krank. Kannst du mir sagen, wer sein Essen nicht anrührt?“
Jacky nickte und deutete auf die drei anderen Ältesten der schweigsamen Gruppe, die in den letzten zwei Tagen noch schweigsamer geworden waren. Als sie Jackys Bewegung bemerkten, warfen sie ihr wütende Blicke zu, von denen Jacky ein Schauer über den Rücken lief.
„Ich danke dir, Jacky.“ Roiden lächelte und stand auf. „Aber du selbst musst auch deine Medizin essen, hörst du?“
„Aber ich mag kein Fleisch. Gibt es kein Gemüse?“, fragte sie. „Oder Birnen?“
„Tut mir leid, hier oben wächst nichts. Die meisten Pflanzen hier sind giftig“, sagte Roiden bedauernd. „Probier das Fleisch mal, es ist gar nicht so schlimm.“
Nachdem Roiden gegangen war, tauchte der Mann mit den graubraunen Haaren auf und brachte ihnen ihr Essen. Doch diesmal wartete er, bis alle angetreten waren und fragte dann: „Wer von euch ist Jacky?“
Schüchtern hob Jacky die Hand. „Ich.“
„Hier. Für dich und deine Schwester gibt es heute eine doppelte Portion Mus.“ Der Koch lächelte sie freundlich an und drückte ihr zwei Teller in die Hand.
Als Jacky, Louises Hand in ihrer, zu ihrer Ecke zurückkehren würde, stieß jemand sie an.
„Verräterin!“, zischte die hagere Schwarzhaarige ihr ins Gesicht und schubste sie auf den Boden.
Der Teller fiel auf den Stein und zerbrach klirrend. Louise schrie auf.
„Ich bringe dich um, du kleines Miststück!“, fuhr die Schwarzhaarige fort. Jacky rollte sich zusammen, als die Frau mit dem nackten Fuß wieder und wieder auf sie eintrat. Sie hörte Louise schreien und die anderen, wie sie die Frau anfeuerten. Da waren andere Tritte in ihrem Rücken. Sie schrie vor Schmerz.
„He, was ist hier los?“, ertönte donnernd Roidens Stimme. Jacky hörte dumpfe Schläge von dem Metallrohr, das auf Fleisch traf, und unterdrückte Schreie. Dann ergriff eine Hand ihren Arm. Sie wurde hochgehoben.
„Jacky!“, weinte Louise.
„Komm“, erklang Roidens Stimme.
Eine Tür fiel ins Schloss und Jacky stellte fest, dass sie nach draußen getragen worden war. Vorsichtig wagte sie es, ein Auge zu öffnen.
Roiden trug sie einen düsteren, niedrigen Gang entlang. Er hielt sie mit einer Hand, als würde sie nichts wiegen, mit der anderen hatte er Louises Handgelenk umfasst. Jacky bewegte sich.
„Geht es dir gut?“ Roiden setzte sie ab.
Jacky stellte fest, dass sie nichts sagen konnte. Tränen liefen ihr über das Gesicht. Roiden wischte sie weg. „Keine Angst. Ich bringe euch beide in einen anderen Raum. Aber ihr müsst euch benehmen. Vater erlaubt eigentlich nicht, dass ihr den Kerker verlasst.“
Jacky nickte nur verwirrt. Sie war froh und dankbar, dass Roiden sie gerettet hatte.
Er nahm sie nun beide an die Hand und führte sie zielstrebig durch die Gänge, die nur spärlich erleuchtet waren und deren Wände aus feuchtem, dunklem Stein bestanden. Jacky stellte fest, dass er nur einen Kopf größer war als sie. Roiden war noch nicht erwachsen, obwohl er älter war als sie.
Sie kamen in einen Gang mit vielen Holztüren, der nochmals durch eine Gitterwand mit einer Tür darin abgeschlossen war. Roiden öffnete zuerst die Gittertür und dann die erste Holztür.
Dahinter lag ein erstaunlich gemütliches Zimmer, mit einem alten Teppich auf dem Boden, Vorhängen vor den Steinwänden und einem großen Bett in der Mitte.
„Willkommen in eurem neuen Reich“, meinte Roiden mit einem Lächeln. „Ich sorge dafür, dass ihr etwas Medizin und Essen bekommt.“
Schon schloss er die Tür und Jacky hörte, wie Außen ein Riegel vorgeschoben wurde. Sie setzte sich auf das Bett und zog Louise auf ihren Schoß.
Ein echtes Bett! Und sogar eine Toilette gab es, die durch eine Tür aus wenigen, zusammengenagelten Holzbrettern abgetrennt war und wo man durch ein kleines Loch hindurch einen fließenden Bach sehen konnte.
In der Tür gab es ein kleines Gitterfenster, das auf eine Holzwand hinauszuzeigen schien, doch plötzlich klappte die Wand weg und das Fenster wurde zu einem richtigen Fenster, auf dessen anderer Seite zwei braune Augen erschienen. Roiden spähte in den Raum, ehe er die Tür öffnete und ihnen zwei Teller und Wasser auf das Bett stellte. Die Tür ließ er offen, doch Jacky spürte, wie er sie aus dem Augenwinkel aufmerksam beobachtete. Sie war sich sicher, dass die Gittertür am Anfang vom Gang fest verschlossen war.
„Hier, die musst du essen.“ Roiden hielt ihr zwei grünliche Pastillen hin.
„Was ist das?“, fragte Jacky.
„Medizin.“
„Ich dachte, das Essen ist Medizin.“
„Ja, aber das ist … äh … Medizin gegen Schmerzen. Sie schmeckt auch leider nicht ganz so gut.“ Roiden schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln. „Aber sie hilft.“
Jacky nahm die Pillen an. „Danke.“
Sie steckte sie sich in den Mund und schluckte. Die Pastillen schmeckten nach faulen Algen. Sie würgte sie tapfer herunter.
Roiden blieb ihm Raum und nahm ihr Gesicht vorsichtig in die Hände, drehte es hin und her, um ihre Verletzungen zu begutachten. Dann blieb sein Blick an ihren Augen hängen.
Jacky sah zurück und fragte sich, ob sie sich bewegen durfte. Sie hörte Louise leise schmatzen und würde gerne nach ihrer Schwester sehen, um ihr das Essen kleinzuschneiden. Und eigentlich wollte sie sich nur im Bett verkriechen und schlafen und weinen.
Plötzlich kam Roidens Gesicht ganz nah und seine Lippen berührten ihre. Jacky schrie auf und stieß den Jungen fort.
„Was soll das?“, piepste sie schrill.
Roiden ging zur Tür und warf ihr einen Blick zu, verengte die Augen böse. Dann schlug er die Tür ins Schloss, schob den Riegel vor und stapfte davon. Jacky blieb verwirrt stehen, bis seine Schritte verklungen waren.