Er konnte nicht sagen, was das schlimmste war. Die Scham? Der bohrende Durst? Die undurchdringliche Dunkelheit? Oder vielleicht das Fiepsen, Trippeln und Huschen, das seine von Blutgier verstärkten Sinne ihm immer deutlicher vermittelten?
Zusammengekauert hockte er in der Mitte des Raumes. Es war ein alter Brunnenschacht auf dem Hof des Herrenhauses, jedoch schon seit Jahren nicht mehr in Benutzung. Der Grund des ehemaligen Brunnens war matschig, jedoch sammelte sich hier schon seit Jahrzehnten kein Wasser mehr. Durch Ritzen im Gestein krabbelten die Ratten, kletterten über die Wände, krauchten durch den Schlick.
Er spürte sie über seine Hände laufen. Manche bissen gar hinein, wenn er lange genug hier unten war. Und meist ließ ihn sein Vater so lange im Kerker – sogar länger. Mit jeder verstreichenden Stunde wurde Iljans Mund trockener, schmerzte seine Kehle ein wenig mehr. Bald hörte er den Puls der kleinen Ratten. Dann das Blut in ihren Adern rauschen. Alle anderen Eindrücke traten zurück hinter dem verlockenden Pulsieren des Blutes. Ein Nebel schien alle anderen Sinne zu verdecken und kroch immer weiter in Iljans Geist vor. Bis er schließlich auch seine Gedanken und Gefühle betäubte, bis Iljans Hände ganz ohne seinen Willen zupackten, eine Ratte schnappten, bis sein Mund ganz von selbst trank.
Jedes Mal hob sich kurz darauf der schwere Deckel vom Brunnen und Nepumuk sah herunter. Iljan wurde vom Sonnen- oder Mondlicht getroffen, warmes Blut auf Kinn und Hals, das Gefühl von räudigem Fell noch auf der Zunge. Die Erinnerung an die verzweifelt kratzenden Krallen und den sich windenden Körper in die Handflächen eingebrannt.
Als er jünger gewesen war, hatte er sich in diesen Momenten schwere Vorwürfe gemacht. Er war überzeugt, hätte er nur wenig länger durchgehalten, wäre er ohne Morden entkommen – denn ja, wie ein Mord fühlte es sich an. Der junge Iljan war sich sicher, dass jedes Lebewesen fühlte wie ein Vampir. Vielleicht sogar mehr fühlte als ein Vampir.
Doch irgendwann war ihm klargeworden, dass sein Vater auf den Geruch von Rattenblut wartete, ehe er seinen Sohn befreite.
Als junger Rebell hatte Iljan versucht, seinen Vater zu täuschen. Er hatte die Ratten nur leicht verletzt, sodass der Blutgeruch aufstieg, und gewartet. Doch Nepumuk ließ sich nicht belügen. Schließlich erkannte Iljan, dass sein Vater es spürte, wenn er etwas trank, dass es irgendeine Verbindung geben musste, die man nicht manipulieren konnte.
Mit der Zeit schrumpfte sein Kampfgeist. Auch jetzt war ihm klar, dass er nicht gewinnen konnte. Er würde so lange hier unten sitzen, bis er dem Raubtier im Inneren nachgegeben hatte. Solange wurden ihm immerhin die vielen Lektionen in Etikette und Benehmen erlassen, doch sogar das war keine Erleichterung. Iljan würde die Lektionen nach der Strafe verstärkt aufnehmen müssen.
Und er hasste Ratten. Er ekelte sich vor ihnen und vor den vielen Krankheiten, die er in ihrem Blut riechen und schmecken konnte. Er konnte die Parasiten in ihrem Fell fühlen, spürte, wie sie auf seine Haut sprangen. Gifte und Krankheiten konnten einem Vampir nichts anhaben, und trotzdem juckte seine Haut.
Inzwischen juckte sie auch außerhalb des Kerkers, wann immer Nepumuk die Ratten erwähnte. Wenn er mit dem Rattenkerker drohte, brach Iljan in Tränen aus – was meistens sein Schicksal besiegelte.
In endlosen Alpträumen fiel er in diesen Kerkerschacht, während sich schwarze Massen mit unzähligen, glühenden Augen auf ihn stürzten, an seinem Fleisch nagten, über seinen Körper liefen …
Er hörte eine Ratte. Seine Hand schoss vor und packte den massigen Körper. Quiekend wand sich das Tier, biss in seine Finger. Iljan führte den Rücken vor den Mund. Die Haare kitzelten seine Lippen. Er roch Fäulnis. Schlamm. Der haarlose Rattenschwanz schlang sich um sein Handgelenk, als das Tier nach Halt suchte, um sich zu befreien. Iljan öffnete den Mund, dessen Zahnfleisch schmerzte, so sehr waren die Zähne in die Länge gewachsen.
Nur ein Bissen, schärfte er sich ein. Nur ein paar Schlucke.
Er würgte. Ganz ohne sein Zutun schleuderten seine Hände die Ratte von sich, als er an den Geschmack und das cremige Gefühl des Blutes dachte. Das Tier quiekte und floh durch ein Loch im Mauerwerk. Die anderen Ratten hatten das Gekreisch vernommen und verbargen sich. Iljan hörte Herzschläge, die sich entfernten.
Er kauerte sich wieder zusammen. Tränen glitten über seine Wangen.