»Hier ist schon wieder so ein Päckchen, Marlene!«, rief Mike seiner Mitbewohnerin zu, die aufgeregt an die Tür geeilt kam und das winzige Präsent von der Klinke pflückte.
»Ohh, ist das nicht süß? Mir macht jemand den Hof. Ich wollte schon immer einen heimlichen Verehrer haben!«
»Vielleicht ist es auch ein irrer Stalker«, brummte ihr Mitbewohner und kehrte mit dem Rest der Post ins Wohnzimmer zurück. Seit der Dezember begonnen hatte, waren fast jeden Tag kleine Nachrichten und Schächtelchen im Briefkasten gewesen. Oder hingen an Türklinken, draußen am Busch, einfach überall. Adressiert waren sie an M., unterzeichnet mit »Secret Santa«. Sie enthielten meist nur Schokolade oder mal ein paar Rosenblätter. Während Marlene ganz in der Vorstellung aufging, dass ein heimlicher Prinz ihr seine Aufwartung machte, fand Mike das Ganze eher affig und vor allem gefährlich.
Wer machte denn so etwas und gab sich dann nicht zu erkennen?
»Du bist ja nur neidisch, dass das keiner für dich macht!«, schnappte Marlene und ihr Freund zog die Augenbraue hoch.
»Danke, für einen Stalker hab ich in meinem Leben keine Zeit!«
»So wie auch für sonst nichts. Deswegen bist du auch immer noch Single, obwohl meine Freundinnen voll Interesse an dir haben!«
Der junge Mann schüttelte nur leicht den Kopf. Marlene hatte ein Gedächtnis wie ein Goldfisch und vergaß fast notorisch, dass Mike nicht auf Frauen stand. Das war einer der Gründe gewesen, warum sie mit ihm zusammengezogen war - kein potentielles Liebesdrama zwischen Mitbewohnern.
»Wenn du das sagst. Wenn dein Prinz mal nicht an Heiligabend vor der Tür steht und sich doch als Frosch entpuppt!«
»Da spricht der Neid«, flötete Marlene, wickelte das kleine Präsent aus und kicherte, während sie die Praline verspeiste.
Mike musterte sie nur mit hochgezogener Augenbraue. Er hoffte, sie würde nicht auf die Nase fallen, denn es gab zu viele Verrückte hier in der Stadt.
Heiligabend kam und da es dieses Jahr an Mike und Marlene war, das Essen auszurichten, hatten sich die Eltern der beiden bei ihnen eingefunden. Alles war geschmückt, die Mitbewohner hatten den ganzen vorigen Tag damit verbracht, alles auf Vordermann zu bringen und der Vogel, den sich Mikes Vater gewünscht hatte, garte köstlich duftend im Ofen.
»Oh, Mike, schau, wer auch gekommen ist!«, rief Marlene begeistert, nachdem es an der Türe geklingelt hatte. Der junge Mann linste um die Ecke und spürte, wie Wärme in ihm hochstieg, denn draußen auf der Schwelle stand Damian mit einem schiefen Grinsen im Gesicht. Der ältere Bruder Marlenes war beruflich viel unterwegs und Mike hatte ihn zuerst auf einer Sommerfeier getroffen, zu der die Eltern der jungen Frau ihn eingeladen hatten. Damian sah wirklich unverschämt gut aus und er gefiel Mike, der sich das jedoch nicht anmerken ließ. Er wollte keine unangenehmen Gefühle innerhalb der ganzen Familie auslösen, die ihm immer recht konservativ vorgekommen war.
»Komm rein, Bruderherz«, lachte Marlene, fiel ihrem viel größeren Gegenüber um den Hals und zog es in die Wohnung. »Du erinnerst dich an Mike?«
Damian musterte den anderen Mann und seine Lippen kräuselten sich leicht.
»Na klar erinnere ich mich. Danke für die Einladung.« Sie reichten einander die Hände, doch viel von der Begrüßung hatten sie nicht, da Marlene ihren Bruder rigoros weiter ins Wohnzimmer zog, wo nun auch ihre Eltern begeistert aufjuchzten. Mike folgte mit einem schiefen Lächeln. Das konnte ja was werden, den Abend mit seinem heimlichen Schwarm, dessen Familie und seinen eigenen Eltern zu verbringen. Worauf hatte er sich da nur eingelassen?
»Während wir auf das Essen warten, erzählt doch mal, Kinder, was gibt es Neues?« Marlenes Mutter Anneliese hatte es sich im Sessel bequem gemacht und nippte an einer Tasse Tee mit Schuss. Die Väter schauten im Hintergrund leise die Sportschau.
»Ich bin jetzt wieder öfter hier«, lächelte Damian. »Sie haben mir eine feste Stelle hier im Hauptsitz gegeben und ich muss nicht mehr so viel reisen.«
»Oh, wie toll, dann sehen wir dich nicht mehr nur zweimal im Jahr?« Marlene lachte und auch Mike konnte sich ein leichtes Schmunzeln nicht verkneifen.
»Richtig. Und bei euch so? Irgendwas tolles passiert?«
Die junge Frau fing zu kichern an, was ihre Mutter und ihren Bruder veranlasste, die Braue hochzuziehen und ihren Mitbewohner mit den Augen rollen ließ.
»Ich hab einen heimlichen Verehrer!«, piepste Marlene und ihre Wangen färbten sich. »Seit ein paar Wochen sind immer wieder kleine Nachrichten und so im Briefkasten gewesen.«
Anneliese fiel in das Kichern ein, doch Damian zog plötzlich die Stirn kraus.
»Jemand schickt dir anonyme Präsente?«
»Ja? Mann, du bist wie Mike, der hat es auch die ganze Zeit schlecht gemacht.«
Der nickte. »Ist doch wahr, wer weiß, was das für ein Kerl ist!«
Damian seufzte und schloss einen Moment die Augen, bevor er sich räusperte. »Ich bin dieser Kerl.«
Alle wandten ihm gleichzeitig den Kopf zu und die Verwirrung in ihren Gesichtern war deutlich ablesbar.
»Wie meinst du das?« Marlene zischte.
»Ich war’s. Ich hab die Sachen geschickt. Und eigentlich, Schwesterchen ... waren die auch nicht für dich, sondern für ... Mike. Ich bin so doof, eure Namen fangen beide mit einem M an.« Peinlich berührt betrachtete Damian seine Finger. Seine Schwester lief rot an vor Verwirrung, Verlegenheit und wahrscheinlich auch Wut, während ihre Mutter die beiden jungen Männer vor sich betrachtete, die Augenbraue hochzog und schließlich in Gelächter ausbrach.
»Irrungen und Verwicklungen wie bei Shakespeare. Besser als jeder Film im Fernsehen.«
»Mama, das ist nicht witzig, sondern voll peinlich«, schnappte Marlene und funkelte Damian an. »Na, wenigstens hat die Schokolade geschmeckt!«
Mike, dem die Enthüllungen etwas zu schnell gekommen waren, blinzelte irgendwann. »Du bist der Secret Santa?«
»Ja«, murmelte Damian.
»Und die Sachen ... waren für mich?«
»Tut mir leid, das war eine kindische Idee. Eigentlich hatte ich mir das viel besser vorgestellt. Moment«, der Mann wandte sich ab und zog seine Tasche heran, aus der er ein Päckchen herauskramte.
»Das wollte ich dir nachher geben. Aber ich hab ja nicht gewusst, dass ihr dachtet, die Sachen wären für Marlene.«
Mike wusste nicht, was er mit dem kleinen Geschenk machen sollte, denn es war ihm furchtbar peinlich, dass inzwischen auch die Väter sich vom TV abgewandt hatten und die Situation beobachteten.
»Na, nun mach es schon auf«, forderte Mikes Mutter, die bisher schmunzelnd zugehört hatte. Marlene und Anneliese nickten zustimmend und schließlich löste Mike die seidenen Fäden und legte einen kitschigen, aber wirklich niedlichen Teddybär frei, der ein Kärtchen in den Pfoten hielt mit der Aufschrift »Willst du mit mir ausgehen? Secret Santa«.
Damian wandte hochrot das Gesicht ab, die Frauen kicherten, als hätten sie bereits mehr als nur ein bisschen Punsch getrunken und Mike blieb der Mund offenstehen. Mit dieser Wendung hätte er nicht gerechnet. Oder überhaupt, dass sich jemand so eine Mühe machte, nur um ihn um ein Date zu bitten. Oder ausgerechnet Marlenes Bruder, von dem er gar nicht gedacht hätte, dass er für sein Team spielen könnte.
»Und ... was sagst du?«, murmelte Damian und Mike grinste leicht. Alle waren gespannt auf seine Antwort, doch konnte er es dem Anderen so leicht machen? Ja, aber das musste der noch nicht wissen. Mike wäre schön dumm, diese Chance auszuschlagen, doch ein bisschen Zappeln musste sein nach der ganzen Verwirrung um dem Secret Santa.
»Ich denke drüber nach«, schnurrte der junge Mann und zwinkerte Damian grinsend zu.