Prompt: Köder
Der Köder liegt vor mir.
Stirnrunzelnd betrachte ich das Papier und sehe dann fragend meinen ältesten Freund an.
Ich kann ihn jetzt schlucken, keine Frage, dann wäre das Thema beendet. Aber kann ich mir danach noch in den Spiegel schauen?
Ist es nicht eine Flucht?
Ein Eingeständnis?
Das gute an einem besten Freund, den man so lange kennt und der einen fast durchs ganze Leben begleitet hat, ist, er kennt mich wirklich. Wir brauchen oft keine Worte. Er hat mich beobachtet, meine erste Reaktion studiert und weiß genau, was in mir vorgeht. Er ist mein wichtigster Berater, beruflich und auch privat.
Wir haben das lange durchgesprochen. Seine Argumente sind alle richtig. Sachlich betrachtet.
Emotional ist aber alles ganz anders.
Gegenüber lächelt mich derjenige an, der sich dieses Papier ausgedacht hat. Es soll freundlich wirken, aber ich kann auch Ungeduld heraus lesen. Und Verärgerung.
Was haben die gedacht?
Dass ich freudestrahlend zum Stift greife und ohne zu zögern unterschreibe? Mein Aus einfach so hin nehme?
Neben mir greift eine Hand zum Papier und ich beschließe zu schweigen, bis ich seine Reaktion kenne. Wie oft haben wir schon zusammen gesessen wegen Verträgen? Auch ich kann an Kleinigkeiten ausmachen, wie er dazu steht.
Ein ganz leichtes Zucken seiner Mundwinkel verrät mir, dass er sich ein spontanes Lächeln verkneift. Ich gehe davon aus, dass die gewünschte Klausel den Weg in das Werk gefunden hat. Seine Augen gleiten ruhig über die Zeilen, weiten sich nicht. was ebenfalls ein gutes Zeichen ist. Im Grunde zeigt er kaum eine Mimik. Das habe ich schon anders erlebt. Mit einem leichten Nicken in meine Richtung senkt er das Schriftstück. Dann schiebt er es auf den Tisch, der die Gesprächsparteien in zwei Fronten teilt.
"Bei der restlichen Vergütung fehlt offenbar etwas", merkt er trocken an.
Verwundert sehe ich ihn an, dann braut sich in mir Unmut zusammen.
Ich werde ungern über den Tisch gezogen. Dass wir überhaupt hier sitzen, ist ein Zugeständnis meiner selbst. Theoretisch könnte ich auch auf die Einhaltung und Erfüllung des Vertrages pochen. Und mich notfalls auf eine Krankschreiben berufen.
Gegenüber wird jemand unruhig, hastig wird nach dem Vertrag gegriffen und darin geblättert. Alle schweigen, wir tauschen einen Blick. Der mir sagt, dass ich einfach meinen Mund halten soll. Unsere Rollen in diesen Gesprächen sind klar aufgeteilt. Ich weiß, wie ich mich zu verhalten habe. Nur ganz selten mische ich mich ein. Wir regeln alles vorab oder notfalls hinterher unter vier Augen. Erst wenn beide Unterschriften darunter prangen, äußere ich mich. Damit sind wir in all den Jahren gut gefahren.
"Tatsächlich. Das korrigieren wir noch", ist dann die schmallippige Antwort. Lächelnd setzt sich mein Berater aufrecht hin.
"Gerne handschriftlich hier und jetzt, dann müssen wir nicht nochmal zusammen kommen und bringen das heute über die Bühne."
Er lächelt, aber seine Ansage kommt sehr bestimmt daher. Seufzend wird der Passus geändert. Zufrieden kontrolliert mein Nebensitzer und zeichnet die Summe ab.
"Prima. Dann denke ich, wir haben alles. Wir vereinbaren Stillschweigen über die Gespräche der letzten Tage und kommunizieren offiziell in beiderseitigem Einvernehmen aus persönlichen Gründen." Er sieht unseren Gesprächspartner scharf an. Es ist das Herzstück des Vertrages. Ohne hätte ich niemals zugestimmt.
Zu viel ist passiert in den letzten Wochen. Ja, ich hätte mich für die Restlaufzeit auch zusammengerissen, aber alle Beteiligten waren sich im Grunde einig. Das Tischtuch ist zerschnitten. Aber dreckige Wäsche nach außen möchte niemand waschen. Einerseits hätte ich einfach hinwerfen, andererseits hätte man mich auch einfach rauswerfen können. Mit etwas Abstand sehe ich das durchaus realistisch. Trotzdem hat es mich im ersten Moment getroffen, als der Wunsch nach der Aufhebung des Vertrages auf kam. Tiefer sitzt aber die Aussage, dass man mich hier auch zukünftig nicht mehr haben möchte. Ja, da waren Fehler meinerseits. Aber eben auch wenig Gesprächsbereitschaft bei einer handelnden Person.
Auf einmal liegt der Vertrag wieder vor mir, aufgeschlagen ist die Seite für die Unterschriften. Ich kann sehen, dass die nicht anwesende Schlüsselfigur schon unterschrieben hat. Quasi blanko. Da muss jemand unsagbar darauf aus sein, mich hier nicht wiederzusehen. Seufzend nehme ich den Kugelschreiber, der mir hingehalten wird. Ich weiß, dass es der richtige Schritt ist, aber er fällt mir schwer. Und irgendwas regt sich in mir, dass eine Nichtunterzeichnung eine perfekte Rache wäre.
Mein Zögern wird kritisch beobachtet. Von beiden Augenpaaren.
Ein Köder, der bitter schmeckt, aber dennoch eine Art Erlösung ist.
Ein Köder, der ein Kapitel beendet, dass ich gerne anders beendet hätte.
Manchmal hat man aber einfach keine andere Wahl.
Die andere Seite wird glücklicher mit dem Ausgang sein als ich.
Nochmal sehe ich zur Seite und registriere das Nicken.
Nein, es mag mir nicht schmecken und es fühlt sich nicht unbedingt richtig an, dennoch ist es eine Lösung.
Es kratzt, als ich meine Signatur darunter setze.
Und in mir möchte eine kleine Bombe platzen.
Ich stehe auf und verlassen den Raum so schnell ich nur kann.
Am offenen Fenster atme ich durch, dann spüre ich eine Hand, die kurz auf meiner Schulter verweilt.
"Deine Zeit wird kommen und dann werden sie sich ärgern", meint mein bester Freund leise und aufmunternd.
"Manchmal muss man einen oder zwei Schritte zurückgehen um Anlauf zu nehmen", schiebt er nach.
Ja, das hoff ich und ich bete dafür.
Vielleicht geht der Köder nach hinten los und kommt irgendwann als Boomerang zurück.