"Hugo?", fragte ich leise in den Raum hinein. "Hugo, wo bist du?"
Keine Antwort.
Ich richtete mich vom Sessel auf und schritt durchs Wohnzimmer, lauschte und schaute nach Anzeichen seiner Präsenz.
"Das war doch nicht so gemeint, Hugo. Wirklich, es tut mir leid."
Ob er es wohl ernst meinte und diesmal tatsächlich verschwunden war? Leider konnte ich es nicht ausschließen. War wohl doch zu verletzend gewesen, was ich da sagte. Dass er aufhören sollte, mit dem Besteck zu werfen, wenn er nicht wollte, dass ich ausziehe. Dabei wusste ich, dass ich die einzige Person war, die er halbwegs akzeptierte. Die einzige, die wirklich an ihn glaubte und sogar mit ihm sprach, obwohl man mich dafür als Wahnsinnigen bezeichnete.
Ich wusste, dass Hugo existierte.
Wenn es kein Poltern, Umherschieben oder Werfen von Möbeln oder Gegenständen war, bemerkte ich ihn dadurch, dass er leise flüsterte, manchmal auch kicherte. Früher hatte ich nicht verstanden, was er sagte, aber je vertrauter ich mit der lokalen Sprache wurde, desto klarer verstand ich ihn. Selten konnte ich auch die durchsichtige Silhouette seiner Gestalt erkennen, die der eines kleinen Kindes entsprach.
Hugo existierte.
Aber nun? Nun hatte ich ihn nach all den Jahren möglicherweise aus seinem eigenen Heim vertrieben, und ich schämte mich dafür. Wie konnte ich auch so ruppig zu ihm sein? Natürlich, ich hatte es mir eigentlich nicht ausgesucht, mit einem Poltergeist zusammenzuleben - meine fehlenden Sprachkenntnisse damals hatten dafür gesorgt, dass ich trotz Warnungen das Haus, welches ja so schön und so günstig war, anzunehmen. Dabei war ich zu geblendet gewesen, zu erkennen, was der konstant angespannte und besorgte Gesichtsausdruck des Maklers mir mitteilen wollte. Und so lernte ich Hugo kennen. Der kleine Plagegeist, der mir zunächst schlaflose Nächte und Verzweiflung beschert hatte.
Doch mit der Zeit lernte ich, mit ihm umzugehen und er lernte, mich zu akzeptieren und weitestgehend in Ruhe zu lassen. Nur gelegentlich kam er noch seinem Drang nach, mit Besteck zu werfen oder das Sofa zu verrücken. Je mehr ich versuchte, mit ihm zu sprechen, desto zahmer ...? Ja, zahmer wurde er. Manchmal kam er mir anfangs wirklich wie ein wildes Tier vor, das man erstmal zähmen musste. Und als dies geschafft war, begannen wir, eine tiefe Freundschaft aufzubauen. An guten Tagen kochten wir sogar zusammen - auch, wenn es sich eher so abspielte, wie bei einem Chirurgen mit seinen Assistenten im OP.
'Karotte.' Und er ließ die Karotte vor mich aufs Schneidebrett fallen.
Immer noch musste ich leise schmunzeln, als ich daran zurückdachte. Gleichzeitig aber merkte ich, wie sich etwas in meiner Brust zuschnürte. Hatte ich ihn wirklich verscheucht? War er nun endgültig weg?
Ein weiteres Mal rief ich, diesmal lauter: "Hugo, wo bist du?"
Wieder keine Reaktion.
Ich lächelte schmal, um mich daran zu hindern, emotional zu werden. Leider vergebens. Warme Tränen rollten mein Gesicht entlang. Ich lehnte mich an die Wand und starrte durch den Raum, der so ruhig und irgendwie auch leer erschien.
"Hugo, es tut mir unendlich leid ... ich werde nicht ausziehen." Mein Körper sank zusammen, ließ sich auf dem Boden nieder. Ruhig saß ich da und unterdrückte ein Wimmern. "Sind wir noch Freunde ...?"
Auch dann gab es keine Antwort. Lange Zeit war es still. Ich gab die Hoffnung schon auf, als ich plötzlich ein Poltern vernahm und aufblickte.