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„Das ist wirklich mehr als nur erstaunlich, Herr Sommerer“. Der Arzt starrte ihn verwirrt an. „Das habe ich in all meinen Jahren nicht erlebt. Eigentlich ist es unmöglich.“
Martin starrte ihn erschrocken an. War das jetzt eine gute oder eine schlechte Nachricht? Vielleicht war er schwer krank?
Aber konnte eine Krankheit Dinge verbessern? Das war doch eigentlich unmöglich, oder?
„Was ist mit mir, Doktor? Doch nichts Schlimmes, oder?“
Nun lächelte der Mediziner. „Keine Sorge, Herr Sommerer, ganz im Gegenteil. Es ist nur so, dass ich so einen Fall noch nie hatte. Ich habe noch nie erlebt, dass sich eine angeborene Weitsichtigkeit selbst heilt.“
„Aber ich dachte immer, mein Augapfel ist zu kurz“, schüttelte der Patient ungläubig den Kopf. „Das wächst doch nicht einfach so nach, oder?“
Der Arzt zögerte kurz mit der Antwort. „In Ihrem Falle schon, was ich mir eben nicht erklären kann“, kam es schließlich zurück. „Daher würde ich Sie gerne nächste Woche wiedersehen, um noch einige weitere Untersuchungen mit Ihnen durchführen zu können. Leider bin ich bis einschließlich diesen Freitag schon voll.“
Natürlich! Es war immer schwer, bei seinem Augenarzt einen Termin zu bekommen, auch als Stammpatient. Martin hatte nur Glück gehabt, dass diese seltsame Sehverbesserung, die vor etwa sieben Tagen angefangen hatte, zufällig mit der Vorsorgeuntersuchung zusammengekommen war.
„Meinen Sprechstundendamen werden für nächste Woche eine geeignete Zeit für Sie organisieren können. Sagen Sie ihnen einfach, dass ich darauf bestehe, dann geht das schon.“
Aha!
Martin war es gar nicht wohl. Das klang doch alles zu sehr danach, als solle er hier als Versuchskaninchen herhalten. Und dazu hatte er gar keine Lust.
Das war die einzige Erklärung, warum er so schnell einen Folgetermin bekommen würde.
Weshalb hatte er nicht abgesagt?
„Ich bin keine Laborratte. Und eine Untersuchung geschieht nur zu meinen Bedingungen!“ Er knurrte den Doktor fast an.
Was war mit ihm los? Das war doch sonst nicht seine Art.
Wieder dieses seltsame Gefühl, das ihn seit einigen Tagen wiederholt beschlich.
Eine innere Stimme, die den schüchternen Markus verdrängte und ihn zu Dingen trieb, die eigentlich ganz untypisch für ihn waren.
Diese Momente, in denen er auf einmal vor Selbstbewusstsein trotzte und eine Dominanz in sich trug, die ihm fremd war.
Herr Doktor Müller hob erstaunt die Augenbrauen.
So kannte er seinen Patienten gar nicht und wollte schon etwas entgegnen, als ihm Martin zuvorkam: „Ich werde mich hier nicht durchleuchten lassen, als sei ich ein Versuchskaninchen. Wenn es sein muss, untersuchen Sie mich, wie sie es auch sonst mit den anderen Patienten machen, messen Sie notfalls das Sehfeld oder den Augeninnendruck. Aber nicht mehr – auch keine Überweisung an irgendeine Augen-, Uni- oder sonstige Klinik.“
„Ich kann Sie nicht zwingen“, reagierte der Mediziner in beruhigendem Ton. „Aber vielleicht ändern Sie Ihre Meinung ja bis nächste Woche? Sie wissen, mir liegt nur Ihre Gesundheit am Herzen.“
Am liebsten würde er die Zähne fletschen – wieder eine dieser neuen Angewohnheiten.
Er unterdrückte den Impuls. „Wir werden sehen. Sind wir sonst fertig?“
Natürlich, Herr Sommerer.“
Martin erhob sich hastig vom Stuhl. „Auf Wiedersehen, Herr Doktor.“
„Bis nächste Woche. Und wenn irgendetwas ist, Sie können mich jederzeit anrufen.“
Kein Wunder! Er war ja nun interessant geworden. Eine medizinische Sensation, vermutlich.
Trotzdem war es ungerecht, das dem Augenarzt vorzuwerfen. Dr. Miller war ein netter Mensch und sicher nicht die schlechteste Wahl, wenn es um sein Wohlergehen ging. Und dass dieser aufgrund eines nie dagewesenen Befunds neugierig wurde, konnte man ihm nicht wirklich anlasten, sonst hätte er seinen Beruf verfehlt.
Diese Vernunft half Martin auch, dem anderen anstandslos die Hand zu reichen, aus dem Sprechzimmer zu gehen und sich ohne weiteren Aufsehens einen Termin für den Mittwoch geben zu lassen. Rasch steckte er sich den kleinen Zettel in den Geldbeutel und eilte nach draußen.
Es nieselte leicht, was ihm aber nicht viel ausmachte. Wenn, dann war es höchstens ungewohnt, keine Brille zu tragen, deren Sicht durch die Regentropfen eingeschränkt wurde.
Überhaupt hatte er die letzten Wochen einiges erlebt und hatte augenblicklich den Eindruck, dass nichts den normalen Gang ging. Und dabei hatte es so harmlos angefangen.
Ein wenig abschalten, das war der Plan gewesen. Nach der Trennung von Anne, seiner langjährigen Freundin.
Peter, ein alter Kumpel, hatte daraufhin den Schwarzwald vorgeschlagen, da er wusste, wie gerne er wanderte und die Natur liebte. Dazu war es im Sommer oft warm und weiter war die Gegend für seine vorzügliche Küche und viele traditionelle Wirtshäuser bekannt. Martin hatte diesen Vorschlag gerne angenommen und doch tatsächlich kurzfristig ein nettes Zimmer in einer kleinen Pension gefunden. Für sich allein, versteht sich.
Sein Freund hatte recht behalten. Neben den allbekannten Klassiker wie Wiener Schnitzel, das natürlich auch hier überall auf der Speisekarte stand, hatte er neue Dinge wie Knöpfle, Schäufele, Flädlesuppe oder das badische Dreierlei, bestehend aus Wurstsalat, Brägele und Bibeleskäs kennengelernt.
Alles hatte so perfekt angefangen - bis eben zu dieser verfluchten Wanderung.
Er hatte sich spontan entschlossen, seine Tour noch ein wenig auszudehnen und sich an der Ruhe und Abgeschiedenheit erfreut, als es langsam später wurde und bereits dämmerte.
Ein wenig allein sein, in dieser lauen klaren Nacht und inmitten ruhiger Natur.
Der Wunsch war während seiner Wanderung aufgekommen und so wählte er zu Ende noch einmal einen größeren Umweg. Besorgt war er nicht – denn er lief hier auf gut gekennzeichneten Wegen und Licht hatte er notfalls auch dabei.
Blöd nur, dass sein Ladekabel offensichtlich defekt gewesen war und das Handy so nicht geladen hatte. Dies bemerkte er jedoch erst, als er auf dessen Taschenlampenfunktion zurückgreifen wollte. Daher verzichtete er gezwungenermaßen darauf und hoffte, dass er nicht versehentlich in ein Schlagloch trat und stürzte. Wenigstens war Vollmond und es so dann doch nicht völlig finster.
Er hätte wohl auch seinen Weg problemlos gefunden und alles wäre gut ausgegangen, wenn nicht… nun ja…
Es war das letzte Stück gewesen, ein wenig am Waldrand vorbei, der nicht betreten werden durfte, da es sich um einen Bannwald handelte. Das störte ihn auch anfangs nicht weiter.
Nach einigen Minuten meinte er allerdings, Geräusche wahrzunehmen. Nicht besonders laut, aber unverkennbar ein Rascheln der Blätter und Knacken von dünnen Zweigen, welche direkt von den Bäumen zu kommen schienen.
Eigentlich nicht verwunderlich. Sicher einige nachtaktive Tiere, die hier im Wald ihr Unwesen trieben. War ja so gewollt, in einem Bannwald.
Neugierig und verunsichert zugleich schaute er in die Richtung, aus der die Geräusche zu kommen schienen. Mühsam kniff er die Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können. War da gerade nicht ein Schatten gewesen, zwischen den Bäumen?
Ihm wurde nun doch etwas mulmig. Deshalb marschierte er rasch weiter und beschleunigte ein wenig sein Tempo. Vielleicht irgendein gefährliches Tier? Hatte er nicht in einem Prospekt von Wildschweinen gelesen? Diese konnten bedrohlich werden, wenn sie sich bedrängt fühlten.
Der Weg schien nicht enden zu wollen, und wiederholt strauchelte er kurz, weil seine Schuhsohle an einem hervorstehenden Stein oder einer Wurzel hängenblieb. Nein, das Schritttempo zu erhöhen, war sicher nicht ratsam.
Seine Unruhe steigerte sich, als er meinte, nicht weit entfernt ein Knurren zu hören.
Verdammt! Gab es hier etwas Wölfe?
Und warum hatte er davon nichts mitbekommen?!
Ohne sich weiter umzudrehen, nahm er seine Beine in die Hand und rannte los.
Sein Puls klopfte nun bis zum Hals und das Einzige, an was er noch dachte, war zu flüchten.
Natürlich wusste er, dass Raubtiere Angst riechen konnten und es daher kein guter Rat war, loszustürmen. Von den Unebenheiten des Pfades ganz zu schweigen.
Sein Herz hämmerte in seiner Brust, und er rannte. Meinte, auch hinter sich etwas zu hören, was sich wie ein rennendes Tier anhörte und wieder dieses Knurren. Panisch drehte er nun doch den Kopf und entdeckte ein paar rotglühende Augen, die rasch näherkamen.
Die Eingebung, sich umzudrehen war noch dümmer, als überhaupt im Dunkeln zu rennen. Daher war es nicht verwunderlich, dass er über irgendetwas stolperte und mit Wucht auf den Boden stürzte.
Das letzte, was er noch mitbekam, war ein seltsames Heulen und den stechenden Schmerz im linken Bein.
Dann wurde alles schwarz.