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Es war der dritte Tag nach dem Besuch bei Dr. Miller und an einem Samstagnachmittag. Martin saß vor dem Monitor seines PC’s und zockte ein wenig, um sich abzulenken. Nach getaner Hausarbeit – Wäsche waschen, bügeln und einkaufen – hatte er sich ein diese Entspannung ja auch redlich verdient.
Früher hätte er diese Gelegenheit ja genutzt, um etwas mit seinen Freunden zu unternehmen und sich vom alltäglichen Stress abzulenken. Aber die innerliche Dominanz, die er in sich spürte – ein blödes Wort, aber ihm fiel nichts anderes an – war nur noch stärker geworden und so hatte er die Erkenntnis erlangt, dass es besser war, sich heute erst einmal in die eigenen vier Wände zurückzuziehen.
Irgendwann musste es wieder besser werden.
Vielleicht waren diese Ereignisse zu viel gewesen und ließen ihn so komisch reagieren. Da hatte sich zu viel in den letzten Wochen aufgestaut und brauchte ein Ventil.
Und dieser Ego-Shooter schien nun Mal das Richtige dafür zu sein. So konnte er doch all die Aggressionen loswerden. Zugegeben, vielleicht nicht wirklich entspannend, aber etwas, was ihm in seiner Situation hilfreich erschien.
Er war gerade mitten in einem Kampf und hämmerte wie wild auf dem Controller rum – sprich nahm seine Gegner unter Dauerfeuer – als es an der Tür klingelte.
Wer konnte das sein? Er erwartete niemanden.
Pah! Er wollte im Augenblick keinen sozialen Kontakt. Einfach ignorieren, dann würde dieser Störenfried schon wieder abhauen.
Wer auch immer da draußen vor seiner Wohnung stand, machte es ihm nicht leicht.
Zwar war es kein „Sturmklingeln“ wie bei Kindern, aber doch regelmäßig und penetrant. So sehr, dass es Martin genug ablenkte und sein Avatar nun schon das dritte Mal innerhalb einer Minute tot auf dem Boden lag.
Nein, es half nichts – wollte er in Ruhe hier weitermachen, musste er den Unbekannten vertreiben.
Missmutig beendete er das Spiel – den PC ließ er natürlich an, er würde ja gleich weiterzocken – und erhob sich fluchend aus seinem Schreibtischstuhl. Hoffentlich konnte er den da draußen rasch abwimmeln.
Energisch schritt er zur Türe, von wo aus es gerade wieder läutete. Genervt riss er sie auf, einige unfreundliche Sätze auf den Lippen.
Die ihm jedoch alle im Halse steckenblieben, als er der Gestalt gewahr wurde, die ihm frech gegenüberstand.
Zunächst einmal – er kannte diesen Mann nicht, der da in Anzug und Krawatte vor ihm stand. Und doch hatte er etwas an sich, was ihn innehalten ließ.
Und dabei war es nicht der perfekt trainierte Körper, den auch die Stoffhose und Jackett nicht verbergen konnte. Dazu war dieser Unbekannte knapp zwei Meter groß und Martin musste ärgerlicherweise deshalb auch noch zu ihm aufschauen, um ihn in das Gesicht blicken zu können.
Es war etwas anderes.
Der Unbekannte strahlte eine Gefährlichkeit aus, die ihm bekannt vorkam. Dabei war sie nicht gegen ihn persönlich gerichtet, aber trotzdem so deutlich spürbar, als wäre sie eine Sache, die man anfassen konnte.
Es war ein Fremder, der ihn durchdringend musterte, mit einem leichten Lächeln um die Lippen.
„Er ist wie ich!“ Dieser Gedanke schoss Martin durch den Kopf und verstand selbst nicht, was er damit meinte. Ein seltsames Gefühl der Vertraut- und Gleichheit, die er zuvor nie erlebt hatte.
Aller Zorn und alle Ungeduld, ob gerade oder während der ganzen letzten Tage, waren vergessen und wie weggewischt. Das Einzige was er tun konnte war, diesen Typen anzustarren. Er verstand nichts mehr – weder sich selbst, noch was ihn so fühlen und handeln ließ.
„Guten Abend, Herr Sommerer. Darf ich reinkommen?“
Sein Rachen war unnatürlich trocken und so schluckte er erst einmal, ehe er überhaupt antworten konnte. Aber sein Gegenüber rechnete offensichtlich gar nicht damit, sondern war schon an ihm vorbeigetreten. Direkt in seine Wohnung, ohne dafür eine Erlaubnis erhalten zu haben.
Martin zuckte nur hilflos mit den Schultern und schloss die Türe, ehe er dem Fremden hinterherlief. Dieser war schnurstracks in sein Wohnzimmer gelaufen und machte es sich doch tatsächlich frech auf seiner Couch bequem.
Eigentlich sollte er diesen Rüpel sofort hinauswerfen oder, besser noch, die Polizei rufen. Keine Ahnung, was ihn davon abhielt.
„Setzen Sie sich doch“, führte dieser Bodybuilder die Situation ab absurdum, indem er einladend auf den Platz neben sich deutete.
Martin nickte, wählte jedoch den Sessel, gegenüber dem Fremden. So hatte er ein wenig Abstand.
Dies entlockte dem anderen ein Schmunzeln.
„Ich bin Tobias Mayer. Und um das alles hier etwas abzukürzen, schlage ich Ihnen gleich das ‚Du’ vor.“
„Ich kenne Sie nicht. Sie sind einfach in meine Wohnung eingedrungen und…“, widersprach Martin unnatürlich lahm. Obwohl sein Verstand ihm sagte, dass er völlig im Recht war, erschien ihm sein Widerspruch auf seltsame Weise falsch und ungebührlich.
„Beruhige dich, Martin“, kam die etwas gelangweilte Antwort. „Ich habe keine Lust auf lange Diskussionen. Wenn ich dir die Geschichte erzählt habe, landen wir so oder so beim Du.“
„Woher kennen Sie… kennst du… meinen Vornamen?“ Sein Stammeln war alles andere als souverän.
„Oh, das war nicht sonderlich schwer“, erklärte Tobias frohgelaunt. „Ich hatte in deinen Geldbeutel geschaut, als ich dich da so verletzt auf dem Waldweg fand. Ich musste dem Krankenhaus schließlich deine Personalien mitteilen.“
„Du warst es!“, rief er verwirrt. „Du hast mich ins Krankenhaus gebracht.“
„Nicht nur das, mein Freund. Ich habe auch den Wolf verjagt, der dich angegriffen hat. Eine unglückselige Geschichte, übrigens, das hätte nicht so passieren dürfen.“
Beide Männer schwiegen. Offensichtlich wollte ihm der Gastetwas Zeit geben, all dies in sich aufzunehmen und zu verarbeiten.
Es dauerte tatsächlich einige Minuten, ehe Martin wieder das Wort ergriff: „Ich danke dir. Du hast mich gerettet!“
Etwas verunsichert blickte er auf den Besucher. Er war mehr als erleichtert, seinen unbekannten Retter kennenzulernen – nur was hatte das alles zu bedeuten?
„Keine Ursache, ich war es dir schuldig.“
„Schuldig?“ Martin schüttelte überfordert den Kopf. „Ich verstehe das alles nicht.“
„Ja, davon gehe ich aus.“ Tobias seufzte vernehmlich, fuhr aber nach einer kurzen Pause fort: „Bevor ich beginne, brauche ich ein Glas Wasser. Aus dem Wasserhahn, kein Mineralwasser. Und für dich das gleiche.“