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„Es ist also gleich soweit?“, fragte Martin nervös.
„Ja, in ein paar Minuten. Bleib ganz ruhig.“
„Und wenn ich ihn nicht kontrollieren kann?“
„Du wirst, keine Sorge. Dafür bin ich bei dir.“
Beide Männer hatten sich komplett ausgezogen und saßen auf dem Boden. Ein durchaus seltsamer Anblick.
Martin hatte alle Rollläden runtergelassen und sicherheitshalber die Türklingel abgeschaltet. Ebenso das Licht. Sicher war sicher.
Tobias hatte ihm aber nicht nur von dem neuen Dasein erzählt.
Nein, auch private Dinge, von seinen Hobbys und eine ganze Weile hatten sie sogar zusammen gezockt.
Dieser Fremde war längst keiner mehr und Martin fühlte sich in seiner Gegenwart wohl. Nicht nur wohl, sondern auch seltsam beschützt und geborgen.
Nicht einmal mit der Freundin hatte er sich so sicher und zufrieden gefühlt.
Das musste an der Situation und seiner Veränderung liegen. Etwas anderes konnte es gar nicht sein.
All die vielen neuen Informationen, so dass ihm jetzt der Kopf schwirrte. Von Rudelzugehörigkeit, Aggressionen, verbesserten Geruchsinn und all solche Dinge.
Alle genannten Punkte hatte er selbst noch nicht an sich feststellen können, die aber laut Aussage seines Gastes bald kommen würden. Sein Wolf und sein Körper, beide brauchten nur etwas Zeit, und nicht alle neuen Verhaltensweisen und Fähigkeiten kamen auf einmal an die Oberfläche.
Das Tier aber, SEIN Wolf, der in einer Symbiose mit ihm lebte, es würde sich zeigen.
Gleich.
Wie er wohl aussehen würde?
Ein wenig Angst verspürte er doch. Und er war mehr als froh, dass einer seiner Art neben ihm war und ihm half.
Martin fühlte sich seit über einer Stunde unnatürlich heiß, als hätte er Fieber. Dazu kam ein seltsames Jucken auf der Haut, so dass er sich schon beizeiten der Kleidung entledigt hatte. Immer wieder hatte er kurz das Bedürfnis zu knurren, welches er nach Ermunterung seines neuen Freundes auch rausließ.
All das sei völlig normal, vor allem für die ersten Male, war die wiederholte Antwort.
Martin kam nicht mehr dazu, weiter darüber nachzudenken. Er spürte plötzlich ein seltsames heftiges Ziehen, während die Hitze in seinem Innern zunahm. So als würde sein Herz kein Blut, sondern glühende Lava durch die Adern pumpen.
Ohne dass er es verhindern konnte, entfuhr ihm ein fremdartiges Jaulen. Das Jucken verstärkte sich und wurde von einem heftigen Kribbeln auf der gesamten Haut begleitet.
Ein seltsames Knacken in den Ohren. Gleichzeitig schienen sich die Proportionen seines Körpers zu verschieben – die Arme und Beine veränderten sich in Länge und Form, Knochen verformten sich und suchten sich ihren neuen Platz. Und nicht nur dort – sein ganzer Körper schien mit einem Male eine Art Knetmasse zu sein, die sich einem fremden Willen unterwarf und zu etwas Anderem wurde.
Sein Kopf schien zu platzen, als er spürte, wie die Nase immer länger und länger wurde, von seinem Kopf abstand und sich eine Schnauze daraus formte. Die Zunge wurde dunkelgrau und wuchs, hing mit einem Male aus einem großen Maul heraus, umrandet von langen und spitzen, leicht gelb verfärbten Zähnen. Obwohl dunkel, erkannte er mit einem Male seine Umgebung messerscharf. Gerüche und Geräusche klangen in einer Intensität an ihn heran, wie er es bisher nie vernommen hatte.
Seine Augen fielen auf einen der unnatürlich langen Arme. Das Kribbeln fühlte sich an, als liefen unendlich viele Ameisen über die Haut. Er fror nicht, hatte aber doch überall eine Gänsehaut. Überrascht beobachtete er, wie sich seine dünnen Haare vermehrten und gleichzeitig immer dicker wurden, bis sie sich zu einem dichten Fell herangewachsen waren.
Und dies geschah nun überall, nicht nur an seinen Armen. In Windeseile breitete es sich aus. Wenige Minuten, nachdem er es zuerst beobachtet hatte, war er vollständig von diesem Fell überzogen, sogar im Gesicht, wenn auch weniger ausgeprägt.
Panisch starrte er auf deine Hände, nein Pranken, aus denen sich plötzlich riesige Krallen schoben. Das Gleiche bei den Füßen.
Schwarz, lang und scharf waren sie.
Und was war das, was da hinten ständig gegen seine Beine schlug? Oder besser gesagt, Hinterläufe?
Eine seltsame Panik überkam ihn und sein Denken fiel ihm mit einem Mal schwer, schien in eine Art Nebel gehüllt zu sein. Er musste hier weg, raus ins Freie, weg aus diesem Raum, der ihn einengte und ihn zu ersticken drohte.
„Hey, ganz ruhig“, hörte er den anderen auf ihn einreden. „Ich bin hier. Tief ein- und ausatmen.“
Ja, es war Tobias, ohne Zweifel. Er sprach nicht wirklich zu ihm, sondern schien sich in seinem Kopf eingenistet zu haben. Die Stimme klang etwas ungewöhnlich, tief und grollend, aber er war es.
Er starrte nach links, wo er einen warmen Körper spürte. Neben ihm saß ein seltsames Wesen.
Martin hatte keinen Spiegel, aber als er an sich selbst hinunterblickte, so schien er dieser Kreatur recht ähnlich zu sehen. Sie war weder Menschen noch Wolf – oder wahlweise beides – und beobachtete ihn mit seltsam rot glühenden Augen.
Geschätzt knapp zwei Meter groß, mit einer Art Wolfsgesicht, der aber trotzdem noch entfernt menschliche Züge aufwies. Auffallend waren die spitzen Zähne - solche, die Martin auch bei sich entdeckt hatte.
Der ganze Körper dieses Wesens war muskulös und eines Menschen nicht unähnlich. Allerdings war die Kreatur komplett behaart und hatte verlängerte Arme – mit Pranken und Krallen, die alles andere als harmlos aussahen. Ein ähnliches Bild bei den Beinen, die an die Hinterläufe eines Hundes erinnerten. Dazwischen wedelte ein dunkler Schwanz hin- und her. Martin spürte dieses buschige Etwas an sich selbst, hatte aber den Eindruck, als habe es einem eigenen Willen, der sich seiner Kontrolle entzog.
Die Furcht, die kurz nachgelassen hatte, drohte wie eine große Welle in ihm hochzusteigen.
„Martin! Hier!“, knurrte Tobias mit einer dominanten Stimme. „Verlier dich nicht!“
Seltsamerweise schien dies mehr zu bewirken als die beruhigende Tonlage zuvor. Ein Anker, an dem er sich festhalten konnte und der ihn aus dem Meer der widersprüchlichen Empfindungen hinauszog. Seine Gedanken klärten sich und die Angst wich einer Verwirrung und dem Bedürfnis, sich leiten zu lassen.
„Sehr gut!“ Diese Telepathie war gruselig, aber zugegeben auch praktisch. Mit einem solchen Maul konnte man sicher nur beschwerlich menschliche Silben herausbringen.
Der schwarze Werwolf schüttelte kurz das Fell, ehe er sich wieder seinem Gegenüber zuwandte.
„Komm! Lass uns vorsichtig nach draußen in den angrenzenden Wald schleichen. Das wird dich beruhigen und dir einen ersten Eindruck verschaffen, was es heißt, zu uns zu gehören.“
Das Tier fletschte die Zähne, was vermutlich so etwas wie ein Lächeln imitieren sollte. „Willkommen im Rudel und in deinem neuen Leben, mein Freund.“