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Er hatte nie erfahren, was sich danach genau abgespielt hatte.
Fest stand nur, dass ihn ein junger Mann ins nächste Krankenhaus eingeliefert und es anschließend recht eilig gehabt hatte, wieder zu verschwinden, ohne sei Adresse zu hinterlassen.
Eine Sache, die Martin seither beschäftigte. Wer war dieser große Unbekannte, der ihm das Leben gerettet hatte? Und weshalb war er wieder abgehauen, nachdem er ihn, den Verletzten in Sicherheit wusste?
Höchst unbefriedigend für ihn, denn er hätte sich gerne bei ihm bedankt.
Warum auch immer jemand nachts dort unterwegs gewesen war – dieser glückliche Zufall hatte ihm das Leben gerettet. Der Fremde hatte ihn, wie man ihn erzählt hatte, fachkundig verbunden und wohl auch notdürftig desinfiziert. Etwas, was sicher zu seiner schnellen Genesung beigetragen hatte.
Laut den Ärzten war es tatsächlich ein Wolf gewesen, der ihn am Fuß erwischt hatte. Es musste sich um ein ungewöhnlich großes Exemplar gehandelt haben. Zumindest deuteten die Bissspuren darauf hin.
Martin und auch das Krankenhauspersonal waren angesichts dessen nicht wenig erstaunt gewesen, wie schnell er sich wieder regenerierte. Alle hatten seine außergewöhnliche Wundheilung bewundert und ihn früher entlassen können als erwartet.
Sicher lag das mit daran, dass Martin eine sehr große Abneigung hatte, was diesen Ort betraf.
Hier liefen ihm eindeutig zu viele Weißkittel herum, seine Zimmergenossen schnarchten, fremde chemische Gerüche und ständig war er in Räumen untergebracht. Nicht, dass ihn das sonst etwas ausmachte – aber er hatte das dringende Bedürfnis, draußen an der frischen Luft herumzuwandern, und dazu war in dieser Krankenhausroutine zu wenig Gelegenheit. Nicht lange und er hatte nur noch den Drang verspürt, möglichst rasch entlassen zu werden.
Schließlich hatte sein ständiges Nachfragen und Beschweren Erfolg. Aus eigenem Wunsch und Verantwortung durfte er diese Stätte wieder verlassen und die Nachsorge seinem Hausarzt überlassen.
Dieser war nicht wenig erstaunt über Martins verrückte Geschichte und seine schnelle Regeneration, die weiterhin überraschende Fortschritte zeigte. Bald schon konnte er die Mullbinden und den Stoffverband entfernen und zu aller Verwunderung blieben keine Spuren von dem Angriff – keinerlei Beschwerden, noch nicht einmal eine Narbe.
Natürlich geisterte dieser Vorfall anfangs durch die Lokalnachrichten, wenn er auch glücklicherweise nicht bei Namen genannt wurde. Zu Beginn hatte er das auch fasziniert verfolgt, sich dann bald aber frustriert abgewandt, da es ihm zu emotional wurde – angefangen bei radikalen Tierschützern, die ihm selbst die Schuld an diesem Geschehen gaben und Mitleid mit dem „armen“ Wolf hatten, bis zu Schusswaffenfanatiker, die am liebsten in den Wald gestürmt wären, um alles zu töten, was sich überhaupt zwischen den Bäumen und Blättern regte.
Vergeblich hatten die Behörden versucht, Licht in das Dunkel zu bekommen, sogar die besagte Stelle gefunden. Aber mehr als sein vertrocknetes Blut und einige Büschel Tierhaare hatte man nicht entdecken können. Vom Wolf fehlte jede Spur, trotz intensiver Suche mit Wärmekamera und Spürhunden.
Ein Glück nur, dass er in einer schnelllebigen Zeit lebte – so rasch die Gemüter hochgekocht waren, so schnell beruhigten sie sich wieder, und als ein großer Umweltskandal eines Pharmakonzerns aufgedeckt wurde, wandte man sich diesem Thema zu und vergaß die Geschichte. Die Presse hatte nun eine neue Schlagzeile, die sie ausschlachten konnte.
Martin war dank seiner offensichtlich guten Konstitution schneller als gedacht wieder in der Lage, dem normalen Alltag nachzugehen und an die Arbeitsstelle zurückzukehren.
Zumindest war fast alles wie zuvor. Aber eben nicht ganz.
Immer wieder spürte Martin, dass sich etwas verändert hatte.
In ihm selbst.
Wie sollte man es beschreiben- er war versucht, es Wesensveränderung zu nennen, und leider war das nicht übertrieben.
Oft schien es zu schlummern, um dann plötzlich an die Oberfläche zu drängen. Die Situation beim Augenarzt war insofern eine typische gewesen. Fast, als sei er selbst ein wildes Tier, das sich aggressiv verhielt, kam man ihm zu nahe.
Und dazu die körperliche Fitness. Wie hatte sein Hausarzt gemeint – er solle es nicht übertreiben und alles langsam angehen, auch wenn er sich wieder fit fühle. Angespielt hatte der Mediziner auf den muskulösen Körperbau, der sichtbar durchtrainierter aussah als vor dem Vorfall.
Problem war nur – Martin ging gar nicht in die Muckibude. Er war nicht einmal Mitglied dort. Und hatte auch sonst sein Verhalten nicht geändert.
Natürlich hatte er seinem Arzt davon nichts erzählt, sondern es auf eine Stoffwechselveränderung geschoben. Oder schlicht verdrängt.
Diese Seltsamkeit mit den Augen passte leider auch gut dazu.
Es wurde immer schwerer für ihn, all seine Veränderungen zu ignorieren.
So blieb die unterschwellige Angst, dass mit ihm etwas ganz Entscheidendes nicht mehr stimmte. Welches sich zwar allen Anschein nach positiv auswirkte, aber eben trotzdem rätselhaft war. Weder er noch die Ärzteschaft hatten eine Erklärung dafür.
Und nein, er würde sich nicht auf Herz und Nieren untersuchen lassen. Etwas in ihm spürte, dass es das nicht zulassen durfte.
Aber wie sollte er dann mit all dem zurechtkommen, und wer würde ihm erklären, was gerade mit ihm geschah?