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Leitungswasser aus dem Hahn? Verdammt, woher wusste dieser Kerl, dass das seit einiger Zeit sein bevorzugtes Trinken war? Und warum war er damit offensichtlich nicht allein?
Mit wackligen Knien stand er auf und schlich rüber in die Küche. Vorsichtig griff er nach zwei Gläsern aus dem alten Hängeschrank und füllte sie mit der bestellten Flüssigkeit.
Paradoxerweise beruhigte er sich etwas, als er das Rauschen des Wasserhahns hörte und es gelang ihm sogar ein angedeutetes Lächeln, als er wieder zurückkehrte und das Glas vor Tobias auf dem Glastisch abstellte.
„Danke, Martin.“
„Weshalb wolltest du profanes Wasser aus dem Hahn?“, konnte er es sich nicht verkneifen zu fragen.
„Weil das am bekömmlichsten ist, wie du sicher auch schon bemerkt hast“, kam die amüsierte Erwiderung. „Aber lass mich anfangen, dir alles zu erklären.“
Martin, der sich wieder im Sessel bequem gemacht hatte, lauschte mit gemischten Gefühlen, was sein unerwarteter Gast ihm wohl nun erzählen würde.
„Ich fange scheinbar mit etwas Abwegigem an, aber wir kommen dann schon noch darauf, auf was ich eigentlich hinaus möchte“, erklärte Tobias. „Zunächst einmal gehe ich davon aus, dass du die Veränderungen bei dir selbst sicher bemerkt hast.“
„Was für Änderungen?“, fragte er unschuldig, was seinem Besucher aber nur ein wissendes Grinsen entlockte.
„Ich erinnere mich, dass du eine Brille getragen hast, als du angegriffen wurdest. Und erzähle mir jetzt nicht die Mär von Kontaktlinsen“, erzählte Tobias wissend. „Weiter hat sich dein Körper ohne Training verbessert, deine Wundheilung ist enorm und du bist etwas ruppiger geworden, was den Umgang mit anderen Menschen betrifft. Ich weiß, dass ich richtig liege, also leugne es nicht.“
„…“
Etwas unschlüssig überlegte Martin, ob oder was er antworten sollte. Da er aber nicht lügen wollte, schwieg er – was fast einem ausgesprochenen Zugeständnis gleichkam.
„Diese Veränderungen sind nichts Besonderes und quasi Standard“, erklärte Tobias ungerührt. „Gut möglich, dass noch andere Dinge hinzukommen, die dann etwas individueller sind. Das sehen wir dann ja. Wie gesagt, soweit ganz normal u du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
Er zuckte nur etwas ratlos mit den Schultern. „Ich verstehe das nicht. Auch deine Erklärungen.“
„Hab Geduld. Ich wurde sozusagen als dein Lehrmeister eingeteilt. Für den Anfang, bis sich alles eingespielt hat.“ Sein Gast nahm noch einen Schluck. „Und auch zu mehr, falls wir beide es möchten. Mit dem Einzug deines neuen Ichs erweitern sich oft auch gewisse Vorlieben.“
Hatte Tobias ihm gerade kurz zugezwinkert? Meinte er etwas, dass sie beide ...
Bevor Martin seinen Gedanken weiterführen konnte, fuhr der Besucher auch schon mit den Ausführungen fort: „Es werden sicher Fragen kommen. Auch ist dein Platz noch ungeklärt. Ob du lieber Einzelgänger bist oder in unser Rudel möchtest.“
Es war nur gut, dass Martin gerade nichts trank, sonst hätte er vor Schreck das Wasser wohl wieder ausgespuckt. „Rudel?“
„Ganz ruhig, mein Freund.“ Tobias blieb gelassen. „Hab einfach Geduld. Ich erkläre dir das alles. Du musst vorbereitet sein, wenn es nachher geschieht – und auch dazu komme ich später.“
Weshalb hatte diese unangemeldete Besucher nur die Ruhe weg? All die Andeutungen, die halfen ihm nicht weiter, sondern steigerten nur seine Verwirrung.
„Der Wolf, der dich angefallen hat, war krank und hatte sich daher nicht mehr unter Kontrolle. Ich konnte es leider nicht verhindern, dass er dich angegriffen hat. Zu deiner Beruhigung kann ich aber sagen, dass von ihm keine Gefahr mehr ausgeht.“
„Was hatte er? Muss ich mir Sorgen machen?“, stammelte e besorgt.
„Die Krankheit ist nicht ansteckend, alles ist gut. Allerdings war es kein normaler Wolf, der dich gebissen hat.“
Der junge Mann nickte. „Ja, das weiß ich schon.“
Zum ersten Mal schien Tobias überrascht. „Was sagst du da?“
„Nun ja, die Ärzte meinten übereinstimmend, dass es ein außergewöhnlich großes Exemplar gewesen ist, das mich gebissen hat. Das konnte man wohl aufgrund des Bissabdrucks feststellen.“
„Ach so – nun das meinte ich nicht“, erklärte sein Besucher mit Erleichterung in der Stimme. „Ich fürchtete schon, sie hätten es herausgefunden. Das eigentliche Problem ist ein anderes. Sagt dir Lykanthropie etwas?“
„Hm… ich glaube, ich habe das Wort schon mal gehört. Aber ich weiß jetzt nicht, wo und wann oder was es bedeutet.“
„Also schön!“ Der Mann räusperte sich. „Der Wolf hat dich nämlich trotzdem angesteckt, allerdings mit etwas anderem. Er war ein Werwolf. Und das bist du nun auch.“
Martin stutzte.
Werwolf! Na klar.
Martins erster Impuls war, dem anderen laut und frech ins Gesicht zu lachen.
Doch etwas hielt ihn zurück.
Die Augen seines Gegenübers, die plötzlich leicht rötlich schimmerten und ihn fixierten. Die gefährliche Aura des Besuchers, die er schon zu Beginn wahrgenommen hatte, nun aber mit einem Male auch etwas Wildes und Animalisches an sich hatte.
Das Lachen blieb ihm buchstäblich im Halse stecken. „Was?!“, brachte er stattdessen mit rauer Stimme gerade noch so hervor.
„Werwolf, Wolfsmann, Gestaltwandler, wie auch immer du es nennen möchtest“, fuhr Tobias mit einem seltsam knurrenden Ton fort. „Heute ist der erste Vollmond seit dem Überfall. Du wirst dich also verwandeln. Und deshalb bin ich da.“
„Ich verstehe das alles nicht“, stöhnte Martin. Seine Überforderung war offensichtlich. „Das sind doch nur Geschichten und Fantasien, alte Märchen und nicht die Wirklichkeit.“
Tobias seufzte übertrieben laut. „So, meinst du? Du kennst die Wahrheit. Höre in dich hinein. Du hast dich verändert und es geschieht immer noch. Der Wolf in dir ist erwacht und heute wird er sich das erste Mal zeigen.“
Martin wollte seinen Gast anbrüllen, dass das alles Humbug sei und ihn am liebsten aus der Wohnung werfen.
Problem war nur, er spürte es. Spürte, dass sein Gesprächspartner die Wahrheit sagte.
„Was soll ich denn jetzt tun?!“, rief er verzweifelt.
Tobias blieb ruhig. Das Wölfische an ihm war wieder verschwunden.
„Lass es mich dich erklären. Es ist anfangs nicht leicht, aber man lernt mit den Jahren, das Tier in sich zu zähmen und an die innere Leine zu nehmen. Und um dir das beizubringen, dazu bin ich da.“