Diesen Text habe ich am 13.10.2019 geschrieben im Rahmen der Gruppe https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group
Der Prompt war: Scharlachrot.
Die weiße Leinwand starrt mich an. Wie schafft es eigentlich so ein Stück Stoff auf einem Keilrahmen immer wieder, Ängste in mir auszulösen? Wie lange werde ich vor dieser Leere sitzen, die ich mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meiner Sicht auf die Welt füllen möchte? Ok, das letzte Mal, dass ich meine Ölfarben hervorgeholt hatte, um ein Bild zu malen, ist schon über ein Jahr her, und ich musste mir die Zeit heute aus den Rippen schneiden, um endlich wieder loslegen zu können. Alles ist gerichtet, ich brauche nur noch den Pinsel in die Farbe zu tunken und loszulegen. Alles ist bereit bis auf den Mut. Es kann so viel schief gehen, wenn man in seinem Konzept nicht achtsam vorgeht. Plötzlich hat man einen falschen Pinselstrich gemacht und fängt an zu verreiben, zu wischen, zu kaschieren. Ist das dann überhaupt noch echt?
Mein Blick schweift aus dem Fenster und ich schaue mir an, wie der Herbst die Landschaft angemalt hat. Er ist einer der besten Künstler, erschafft eine Pracht, die von dem nahenden Rückzug kündet und lässt mein Herz höher springen. Es gibt nichts Schöneres, als in der Herbstsonne durch den Wald zu gehen und mit den Füßen durch das bereits gefallene Laub zu rascheln. Dazu höre ich die Vogelstimmen, die den Frieden im Wald besingen, so interpretiere ich ihren Gesang zumindest. Die Vögel singen anders im Herbst, oder? Im Frühjahr sind sie viel flatterhafter, aufgeregter. Doch ich will den Herbst und den Beginn der ruhigen Zeit einfangen. Ich schließe die Augen und als ich sie wieder öffnete, ist das Weiß erneut vor mir, schreit mich an, dass ich das nie schaffen werde, und was ich mir wohl einbilden würde, die Ganzheit des Herbstes auf dreißig mal dreißig Zentimeter festhalten zu wollen.
Ich seufze tief und es beruhigt mich. Erst jetzt erinnere ich mich an die Anleitung, die ich damals im Malkurs erhalten hatte. Es ist eine einfache Übung und ich hole das hellgraue Acryl hervor, mit dem ich dem Weiß auf den Leib rücke. Nicht mehr als eine Grundierung, um hinterher besser malen zu können, dem Leinen die Fähigkeit zu nehmen, alles in sich aufzusaugen, damit die aufgetragene Farbe einmal ein Bild ergibt. Schnell trocknet das Acryl und es ist wie ein einzelner Stern am Nachthimmel - er gibt die erste Orientierung. Als nächstes kommt das Malmittel und ein wenig lächele ich, denn es hat die Aufgabe, die Ölfarbe so lange wie möglich bearbeiten zu können. Grobe Fehler darf ich mir immer noch nicht erlauben, doch wenn einer passiert, habe ich genügend Zeit, um mir in Ruhe eine Lösung einfallen lassen zu können.
Ich schaue die Leinwand an und sie ist im Kern immer noch weiß, doch es ist eine erste Struktur darauf, eine erste Feuchtigkeit nimmt ihr die Fähigkeit, mich aufhalten zu können. Mit einem Blick durch das Fenster in die Landschaft nehme ich die Formen wahr. Die des Geländes genauso wie die der Wege, Bäume und der symmetrischen Reihen, in denen der Wein vor meiner Haustür angebaut wird. Die Trauben sind bereits gelesen, doch die verschiedenen Weinsorten geben sich durch eine unterschiedliche Verfärbung auch weithin zu erkennen. Das Sonnenlicht verstärkt die Intensität der Farben und ich sehe in der Welt vor mir die Freude am Leben.
Plötzlich ist der Mut da anzufangen. Meine Hand mimt den Fluss der gesamten Landschaft nach und feine Pinselstriche erzeugen eine erste Orientierung. Farben füllen langsam das Bild, das dunkle Grün bis hin zum Braun. Dazwischen das knallige Gelb der Birken, für den Wein auch das dunkle Rot neben gedecktem Gelb mit grünen Anteilen. Der Waldrand hat sogar Stellen, die beinahe schwarz sind. Nicht nur, dass er bereits im Schatten so dunkel ist, ich brauche diese dunklen Teile, um andere mehr zum Leuchten zu bringen. Selbst der Himmel ist ein Meer von Farben, blau im Grunde, weiß und rosa in den watteartigen Wolken.
Zwei Stunden lang bringe ich auf das Bild, was der Herbst mich lehrt. Es ist kein genaues Abbild dessen, was meine Augen durch das Fenster sehen, dafür ist es viel zu abstrakt. Doch es zeigt, was ich fühle, wenn ich den Herbst betrachte. Perfekt!
Perfekt? Ich drehe die Staffelei so, dass ich das Werk in der Abendsonne betrachten kann. Meine Füße bewegen mich weg von dem Bild und ich gewinne Abstand. Ganz anders sieht es aus und ich finde, es fehlt etwas. Als wäre es nicht fertig, als würde irgendwo in diesem Bild eine kleine Feldmaus sitzen und mich anfiepen, es müsse noch ein Detail ergänzt werden. Mein Blick wandert in die Kiste mit den Farbtuben und ich entdecke eine, die mir, warum auch immer, erst jetzt zwischen die Finger kommt: das Scharlachrot. Noch einmal nehme ich den Pinsel, tupfe ganz wenig dieses besonderen Tons auf ihn und ergänze hier und da mal einen Halbton heller und mal einen Halbton dunkler. Es sind nur fünf kleine Stellen, die ich korrigiere. Nein, ich korrigiere nicht, ich präzisiere. Dann, erst dann, ist es fertig. Zwei Stunden lang bringe ich auf das Bild, was der Herbst mich lehrt. Es ist kein genaues Abbild dessen, was meine Augen durch das Fenster sehen, dafür ist es viel zu abstrakt. Doch es zeigt, was ich fühle, wenn ich den Herbst betrachte. Perfekt!
Ich atme auf und lächle über das Bild und über mich. Warum noch mal hatte mich das Weiß zu Beginn so beängstigt? Ich weiß es nicht mehr. Es wird jetzt dauern bis zum Frühjahr, bis das Bild getrocknet ist und ich es fixieren kann. Bei dem Gedanken, dass der Herbst warten muss bis zum Zeitpunkt des Erwachens, um ausgestellt zu werden, fällt die letzte Anspannung von mir ab. Ich packe alles zusammen und spüre dabei den Stolz der Kreativität in mir. Als ich die Kiste wieder ins Regal stelle, frage ich mich, was in der anderen Kiste dort ist. Neugierig öffne ich sie: Sie ist voller weißer Leinwände.