Diesen Text habe ich am 20.10.2019 geschrieben im Rahmen der Gruppe https://belletristica.com/de/groups/183-sixty-minutes-die-challenge#group
Der Prompt war: Schwarzer Engel.
Theo stand mit Sibylle vor einem Schaufenster. „Obstladen“ nannte er das, denn in diesem Laden gab es etwas mit Äpfeln zu kaufen, wobei man nicht hineinbeißen konnte, der Apfel war das Logo. Wie ein kleines Kind presste er seine Nase an das Schaufenster und betrachtete die neuesten Mobiltelefone, während Sibylle die Augen verdrehte.
„Wenn du dir so ein Gerät kaufen möchtest, dann musst du in den Laden hineingehen“, erklärte sie ihm, als wüsste er das nicht.
„Ich habe dich mitgenommen, damit du mich davon abbringst. Das, was ich mir kaufen möchte, kostet einen vierstelligen Betrag und ist mir gerade etwas zu viel.“
„Moment, ich habe dem nie zugestimmt. Ich habe gesagt, dass ich mitgehe. Die Verantwortung für das, was du mit deinem Geld anstellst, bleibt ganz bei dir!“
Jedes Jahr nach dieser „Kieh-Not“, wie sie ihn immer damit aufzog, war es besonders schlimm. Dann gab es neue Geräte und Theo gehörte zur treuen Anhängerschaft dieser Firma und fand somit immer einen guten Grund, sich auch etwas davon zu kaufen, nur um ein Jahr später schon der nächsten Geräte-Generation hinterherzuhecheln.
Doch aus Theos Sicht sah das ganz anders aus. Tatsächlich nahmen diese Geräte, die seine Freundin Sibylle so gerne „elektronisches Spielzeug für zurückgebliebene Männer“ nannte, eine wichtige Rolle in seinem Leben ein. Er genoss es, auf seiner Uhr zu verfolgen, wie viel er sich bewegte. Tatsächlich hatte er, seit er diese Smartwatch trug, mehr Sport gemacht. Auch arbeiteten die Geräte, vor allem Handy und Laptop, Hand in Hand. Das nahm ihm einiges an Arbeit ab, doch gleichzeitig verbrachte er mehr Zeit damit, weil er hier ein Spiel spielte, da interessante Blogartikel las, dort selbst produktiv arbeitete. Natürlich war es dann so, dass es immer wieder etwas gab, das ihn reizte, was er auch verwenden wollte. Die neueste Kamera in dem Handy hat es ihm angetan, denn er fotografierte sehr gerne und die Ergebnisse seiner aktuellen Handy-Kamera konnten sich sehen lassen, was zumindest seine große Followerschaft auf Instagram bestätigte.
„Na komm, dann erzähle halt mal, was sagt denn der Engel auf der einen Schulter und was der Teufel auf der anderen?“ Es war nur ein Versuch von ihr, Herrin Theos innerer Verhandlung zu werden. Sie hatte einfach keine Lust auf langes Gerede und ein Hungergefühl machte sich in ihrem Magen breit.
Wider Erwarten fing Theo an, auf ihre Frage genau einzugehen: „Also, der Engel sagt, dass ich schon lange auf so etwas gewartet habe und sich das Gerät gut in meiner Hand anfühlen wird. Ja, man wird mich vielleicht sogar dafür bewundern, vielleicht könnten sogar meine Instagram-Freunde den Unterschied sehen. Ich würde mir sogar ein paar Apps extra leisten, mit denen ich dann schöne Effekte in die Bilder bringen könnte. Mit den besten Bildern würde ich dann endlich mal eine kleine Ausstellung zuhause machen, mein Flur braucht ja noch ein paar Bilder. Außerdem wäre der Akku neu und ich könnte dann länger und besser lesen, wenn ich unterwegs bin. Ich habe da eine Seite entdeckt, auf der man Kürbisse bekommt, wenn man dort liest. Das macht Spaß. Der Bildschirm meines jetzigen Handys ist da zu klein.“
Sibylle stand mit offenem Mund neben ihm. Wie hatte sie es geschafft, ihn so zum Reden zu bekommen? Und warum um alles in der Welt, war diese Versuchung die Seite des Engels? Ihre Neugierde war geweckt und so neutral wie möglich fragte sie: „Und was sagt dein Teufel dazu?“
„Mmh, der lacht.“ Er machte eine Pause und Sibylle konnte beinahe sehen, wie sein Gehirn die Gedanken durch die Synapsen schubste. „Der Teufel sagt, dass ich mit dem Geld etwas ganz anderes machen soll. Vielleicht einen kleinen Urlaub oder so. Mehr die Zeit für mich nehmen, mal etwas alleine machen, ohne dass es jemand mitbekommt.“
„Ist das denn so schlecht?“
„Weiß nicht, ich denke, es ist besser, wenn ich etwas für andere mache. Meine Foto-Fans freuen sich ja immer so sehr, wenn ich etwas poste.“
„Das ist jetzt aber mal interessant. Dein Engel sagt, dass du das Gerät kaufen sollst, und dein Teufel sagt dir, du solltest dir mal Zeit für dich nehmen? Habe ich das richtig verstanden?“
Theo nahm endlich seine Nase von der Scheibe und schaute erstaunt Sibylle an. „Ich glaube, das habe ich so gesagt, ja.“
„Meinst du es auch so?“
Theo war in einem ganz anderen Zustand gekommen. Erinnerungen wuselten ihm durch den Kopf und er sah sich zuhause über Mathematik-Hausaufgaben grübeln und sein Vater schrie ihn an, dass es ihm reiche, er würde jetzt Nachhilfe bekommen, doch die half ihm dann auch nicht. Viel lieber hätte er versucht, es selbst zu verstehen, auch wenn es so viel länger gedauert hätte. Genauso waren seine Eltern immer: Entweder nahmen sie ihm Aufgaben ab, oder organisierten etwas, nur damit sie sicher sein durften, dass es auch gelingt. Und nur dann bekam er auch ein Lob für das, was er schaffte. Sein eigener Rhythmus galt jedoch nichts und erst recht nicht der Wunsch, selbst etwas fertig zu bekommen. So schön es vielleicht war, Hilfe zu erhalten, er fühlte sich wie der Schmetterling, dem aus dem Kokon geholfen wurde. Der schaffte es dann nämlich nicht, seine Flügel vollends zu öffnen. Eine Eingebung entfloh ihm flüsternd aus dem Mund: „Ich muss das selbst entscheiden.“
„Das ist schräg“, kommentierte Sibylle leicht beleidigt. „Erst hetzt du mich hierher, damit ich mit dir etwas einkaufe oder dich davon abhalte oder was auch immer. Jetzt soll ich gehen?“
„Was?“ Theo war noch ganz in Gedanken und fragte sich, was Sibylle gerade verstanden hat. „Du sollst nicht gehen. Du hast mir, glaube ich, echt geholfen.“
„Jetzt verstehe ich gar nichts mehr“, konstatierte sie.
„Ich erkläre es dir, aber vielleicht gehen wir dazu etwas essen?“
Sibylles Mund formte ein Lächeln. „Ok, du hast mich überzeugt! Außerdem erklärst du mir mal, wo du alle diese Geschichten findest, die du in letzter Zeit gelesen hast.“
„Belletristica? Ja, das zeige ich dir auch.“
Mit völlig neuen Ideen im Kopf bot Theo Sibylle seinen Arm an und sie schlenderten rüber zur Pizzeria „Angelo Nero“. Als er das Schild sah, lachte er: „Ich glaube, mein Teufel ist in Wirklichkeit ein Engel.“