Dieser Text ist im Rahmen der Gruppe 60-Minutes-Challenge geschrieben worden. Der Prompt war: Jekyll und Hyde.
„Ich möchte mit Ihnen die Ergebnisse Ihrer Untersuchungen besprechen.“
„Das klingt sehr ernst, Herr Doktor.“
„Mmh, ich sage diesen Satz jedem meiner Patienten. Die Medizin ist ja heute soweit, dass man auf alle Fälle etwas findet, wenn man nur etwas finden möchte, Herr Maier.“
„Achso. Ich habe trotzdem kein gutes Gefühl.“
„Was für ein Gefühl haben Sie denn?“
„Naja, kein gutes eben.“
„Entschuldigen Sie die außergewöhnliche Frage: Wie ist ‚kein gutes Gefühl‘ genau? Wie können Sie das fühlen?“
Die Frage verwirrte Herrn Maier und er wurde sichtlich ungeduldig.
„Ich stelle diese Frage mit Absicht: Die Vorstellung von etwas ganz Schlechtem, das einen anfällt wie eine Raubkatze, nimmt Menschen in der Regel die Fähigkeit, darüber nachzudenken, wie man damit umgehen könnte.“
Herr Maier hatte davon gehört, dass dieser eine Arzt etwas seltsam war, doch jetzt, wo er vor ihm saß, fragte er sich, ob der noch bei Trost ist. Es war ein Internist mit dem Ergebnis eines MRT auf dem Rechner, dem MRT von ihm selbst. Es war sein Körper, der durchleuchtet wurde, was ihm übrigens ziemlich unangenehm war, und jetzt bekam er auch noch ein Gespräch aufgedrückt, in dem er sich über seine Gefühle äußern sollte? Unfassbar.
„Wissen Sie, Herr Maier, es ist für die meisten Menschen vollkommen abwegig, wie ich mit Menschen spreche. Darf ich Sie um so viel Vertrauen bitten, dass dies nicht das erste Gespräch ist, das ich mit einem Patienten führe, und dass ich in den vielen Jahren meiner Tätigkeit auch schon viele Gespräche geführt habe, von denen ich mir wünschte, ich hätte sie anders geführt?“
Herr Maiers Urteil über diesen Arzt schwankte Richtung „durchgeknallt“, doch er ließ ihn gewähren.
„Ja, ich kann nachvollziehen, dass viele einfach die Tatsachen sehen wollen, doch wenn das Resultat der Untersuchung auf eine Diagnose mit größerem Behandlungsaufwand hinweist, möchte ich nicht ein Überbringer schlechter Nachrichten sein, sondern Wege finden, wie mit diesen Untersuchungsergebnissen umgegangen werden kann.“
Herr Maier war sich sicher, dass er genau zu dieser Gruppe der schlimmen Diagnosen gehört. Würde sich der Arzt sonst solche Umstände machen? Die hatten doch alle nie Zeit.
„Warum ich das mache, ist bei all den Menschen, denen ich eine gute Diagnose mitteilen darf, jedoch auch wichtig. Denn wer das heute schon versteht, kann dann, wenn es doch einmal ernst wird, viel ruhiger bleiben und sich leichter überlegen, was er oder sie tun möchte.“
„Herr Doktor, Sie spannen mich auf eine harte Geduldsprobe.“ Herr Maier klang etwas wütender, als er wollte.
„Achso, Sie möchten also, dass dieser Termin schnell vorüber geht?“
Endlich schien er es kapiert zu haben, Herr Maier nickte.
„Maximal zehn Minuten, ist das ok?“
Wieder nickte Herr Maier, das war übersichtlich.
„In Ordnung. Dann möchte ich kurz auf meine Frage zurückkommen, weil Sie meinten, Sie hätten kein gutes Gefühl. Wie äußert sich das?“
„So ein Ziehen im Bauch ist das.“
„Nur im Bauch?“
Herr Maier überlegte und bestätigte dann: „Ja, nur im Bauch.“
„Also nicht im Hals?“
Herr Maier spürte in sich hinein und sagte nach ein paar Augenblicken: „Nein, da nicht.“
„Und auch nicht in den Armen oder Beinen?“
Herr Maier wollte gerade wieder protestieren, doch als er in die Augen des Doktors sah, wusste er, wie ernst diese Frage war: „Nein, da auf jeden Fall nicht.“
„Interessant. Dann ist es ja nur ein kleiner Teil Ihres Körpers, der dieses Signal gibt, und andere Teile sind eigentlich ganz ruhig abwartend.“
So hatte Herr Maier das noch nie gesehen. „Ja, das würde passen.“
„Dann danken Sie Ihrem Bauch, dass er sich so sehr um sie sorgt, und dem Rest Ihres Körpers, dass er einfach für Sie da ist.“
Der Doktor hätte hier gerne noch ein paar mehr Sätze gesagt, doch er hatte seinem Patienten versprochen, dass er maximal zehn Minuten bräuchte.
„Dann schauen Sie mal bitte hierher“, er drehte den Bildschirm so, dass sie beide gleichzeitig darauf schauen konnten. „Hier im Bauchraum, nahe der Leber sehen Sie ein paar weiße, kleine Flecken. So sehen auf den ersten Blick Tumore aus.“ Der Arzt sah immer noch zum Monitor und Herr Maier war in diesem Moment froh, dass er ihn nicht ansah. „Auf den ersten Blick bedeutet, dass es eine Art Knoten sind, die wir beobachten müssen. In der Vergrößerung können wir sehen, dass es, wenn es Tumore wären, sie gutartig wären. Der Bluttest hat gezeigt“, er wechselte die Ansicht auf dem Bildschirm und schaute seinen Patienten immer noch nicht an, „dass wir aktuell keinen Befund haben, der im Ärztejargon den Namen Krebs hätte. Doch wir beide“, er sah Herrn Maier wieder in die Augen, „sollten uns im nächsten Termin darüber unterhalten, wie wir damit“, er blickte kurz auf den Bildschirm, „umgehen wollen.“
Die Wirkung war beeindruckend, wie so oft: Herr Maier atmete tief durch, obwohl ihm klar war, dass er einer dieser sogenannten Risikopatienten war. Nach kurzer Pause fragte er: „Wann machen wir das?“
Der Arzt lächelte: „Sie erhalten draußen bei der Assistenz einen Termin. Für den Moment wollen wir nur beobachten, das heißt wir sehen uns in drei Monaten wieder.“
Erleichtert stand Herr Maier auf und zog sich seine Jacke über. Der Arzt kam um den Tisch, und sie schüttelten sich zum Abschied die Hände.
Als Herr Maier den Türgriff schon in der Hand hatte, drehte er sich doch noch einmal um: „Sagen Sie, Herr Doktor, warum haben Sie das mit dem Gefühl gefragt? Das war doch gar nicht wichtig, oder?“
„Ohne diese Frage denken Menschen, bei denen ich etwas finde, was niemand haben möchte, anders darüber. Sie merken, dass nur ein Teil von ihnen eine Krankheit hat, und nicht der ganze Körper.“
„Quasi als hätte man in sich ganz viel Dr. Jekyll und einen kleinen Teil Mr. Hyde, um den man sich kümmern muss?“
Jetzt war es der Arzt, der überlegte: „Vielleicht passt das sogar, solange wir uns darum kümmern, dass Mr. Hyde nicht zu groß wird, und das meine ich vor allem in den Gedanken eines Menschen, so lange hat Dr. Jekyll immer Platz und kann so viel wie möglich Gutes bewirken. Und das ist tatsächlich das, was ich meinen Patienten am meisten wünsche, selbst wenn eine Erkrankung sehr ernst ist. Ein schönes Bild, vielen Dank!“